Vor etwa 2–3 Wochen bemerkte ich an meiner linken Schulter in der Nähe der Achselhöhle einen rotvioletten Fleck. »Oh, ein Bluterguss«, dachte ich beiläufig, denn ich bin diesbezüglich extrem empfindlich. Ein leichter Stüber an einer Schrankkante oder eine etwas schwerere Reisetasche mit Trageriemen geschultert und schon erblüht an der Kontaktstelle ein vielfarbiges Hämatom. Nach einigen Tagen ändert sich dann die Farbpalette von Bordeaux und Purpur über Violett- und Blautöne hin zu Olivgrün und Braun und dann verblassen die Stoßmale allmählich. Nicht so diesmal. Das runde Gebilde hielt sich hartnäckig und schien sich zudem ganz langsam gelichmäßig auszudehnen. Das machte mich misstrauisch und ich suchte im Netz auf seriösen Medizinseiten nach Indizien dafür, was das wohl sein könnte. Die plausibelste Erklärung mit begleitendem, meinem Phänomen frappierend ähnlichem Bildmaterial, war eine sogenannte »Wanderröte« nach einem Insektenstich oder -biss (z.B. Mücke oder Zecke), die auf eine beginnende Infektion mit Borrelien hindeutet. Gegen FSME habe ich mich vorsorglich impfen lassen, da ich fast an jedem Wochenende in der Natur herumwandere, aber bei Borrelien ist das leider nicht möglich. In meinem entfernten Bekanntenkreis gibt es eine Person mit Frühverrentung aufgrund einer zu spät erkannten, eskalierten Borreliose, daher weiß ich: damit ist nicht zu spaßen. Also galt es, mir hier im Moselland, wo ich derzeit mit dem Mann auf Reisen bin, spontan einen Arzt zu suchen und zu hoffen, ohne Termin zur Begutachtung vorgelassen zu werden. Freitag. Das Wochenende stand vor der Tür. Ich fuhr in die nächstgrößere Stadt und suchte die erste der zuvor recherchierten Praxen auf. Fehlanzeige. Wartezimmer voll, das Empfangspersonal und die Ärzte spürbar über Kapazität. Aber man verwies mich dennoch sehr freundlich an die Praxis im selben Gebäude eine Etage höher. Dort am Empfang wurde ich tatsächlich sofort vorgelassen, die MFA erwartete nämlich in Kürze die letzte Abholung von Blutproben durch den Laborkurier und gewährte mir Vortritt, damit eine eventuell zu entnehmende Probe noch eine Chance hätte, im Labor anzukommen. Die Gesundheitskarte wurde eingelesen und ich durfte gleich durchgehen. Sehr nett.
Der behandelnde Arzt, der mich sodann in sein Sprechzimmer bat, ein betagtes, vermutlich kurz vor dem Ruhestand stehendes Urgestein, fragte nach meinen Beschwerden und stimmte dann nach Ansicht der Hautverfärbung meiner eigenen Vermutung zu. Sowohl an mich gewandt als auch mit einem Finger Daten zur Behandlung in seinen PC eintippend, murmelte er unentwegt vor sich hin: »Dasjan Bild wie aus dem Lehrbuch, keine Frage, schreibichihn’ was auf, Andibjodikum, Blutprobe brauchmanich, isja sonnklar. Amoxicillin oder Doxycyclin, nehmse zehn Tage lang, nee, besser zwei Wochen. Morngsunahms ne halbe, nehmwer die Zweihunderter, die könnse teilen. Wieviel sind’n da in der Packung? Ah, zwanzich, das reicht auf jeden Fall, danach sollten die Biester weg sein …«. Er erhob sich und geleitete mich zurück zum Empfangstresen, wo ich erwartete, ein papierenes Rezept ausgehändigt zu bekommen, zumal Arzt, MFA und ich direkt neben dem Drucker standen. Doch auf einmal sah mich die Assistentin an und sagte »Wir sind dann fertig.« – »Und mein Rezept?« – »Das ist schon auf Ihrer Karte. Elektronisch.«
Wow. Mein erstes E-Rezept. Und das in einer Praxis, in deren Ambiente, Arzt und Einrichtung sich sogar ein Nadeldrucker noch absolut stimmig eingefügt hätte. Ich war beeindruckt. Alle Achtung, Herr Lauterbach. Ich behielt die Karte gleich in der Hand, denn im Erdgeschoss des Ärztehauses hatte ich beim Hineingehen bereits eine Apotheke bemerkt. Vielleicht war das verordnete Medikament ja dort vorrätig und ich könnte mein digitales Rezept dort gleich einlösen.
Die Apothekerin nahm nach Hinweis auf das e-Rezept die Karte entgegen und las sie in ihr Terminal ein. Dann drückte sie auf einige Tasten und seufzte. »Das schon wieder!«, stöhnte sie. »Was denn?« fragte ich »Haben Sie das Mittel nicht da?« – »Doch, schon. Ich sehe es hier im System, haben wir vorrätig, aber ich kriege Ihr Rezept nicht von der Karte in die Kasse, so kann ich es nicht einbuchen. Aber ich probiere noch mal was anderes. Es gibt da verschiedene Wege, wie das gehen kann.« Sie tippte auf der Tastatur herum. Eine andere Apothekerin, die nebenstehend die Komplikation mitbekommen hatte, mischte sich ein. »Willer wieder nich?«, fragte sie. Die andere nickte. »Wenn du den Eintrag auf der Karte sehen kannst, dann druck den doch aus. Da ist dann ein QR-Code drauf und den kannst du den einscannen. So klappt das dann bei mir meistens.« – »Ich guck’ mal«, sagte die andere und tippte weiter. Sie nahm die Karte aus dem Schlitz heraus und führte sie erneut ein »Das ist SO umständlich!«. Ich teilte ihre Ernüchterung. »Da wären wir mit einem Papierrezept schon weiter«, sagte ich. »Allemal.«, antwortete sie, »Aber ich versuche es jetzt noch mal hiermit …«. *tipp, tipp* »Ah, jetzt geht’s!« Die Kasse piepte und spuckte einen Beleg aus. Sie übergab mir die Tablettenschachtel, die im Hintergrund aus einem Lagerschacht gefallen war und ich zahlte. Elektronisch. Irgendwie hatte ich mir das Einlösen meines ersten e-Rezepts moderner vorgestellt. Beiläufiger. Eleganter. Reibungsloser. Wieso gibt es hierzulande so viele digitale Prozesse, die entweder zwingend eine Etappe mit einem Papierausdruck benötigen oder einen mühseligen Workaround, den die entnervten Nutzer aus Verzweiflung selbst ausgeknobelt haben oder einen Neustart zur elektronischen Zurechtweisung des genutzten Systems? Oder eine Kombination davon?
»Gute Besserung!« sagte die Apothekerin zum Abschied.
»Danke!« sagte ich. Mein aufrichtiges »Ihnen auch!« murmelte ich erst, als ich schon draußen war.
Symbolvideo: Man kann zwar oft erahnen, wie ein digitaler Prozess aussehen könnte, wenn er gekonnt implementiert worden wäre, aber angesichts der tatsächlichen Nutzererfahrung ist das nicht immer leicht.
In letzter Zeit häufen sich hier – so fällt mir auf – Beiträge, die man als »Rants« bezeichnen könnte. Allerdings mag ich das Wort, auch aufgrund seiner Definition (»leidenschaftliche und emotionale Wutreden«) nicht sonderlich gerne, es klingt mir als Überschrift etwas zu stumpf und zu emotional. Ich versuche lieber, über alltägliche Umstände, die mich nerven oder mit den Augen rollen lassen, mit einem Ideechen Abstand und einem Quentchen Spott zu bloggen, denn letztendlich soll der Output ja auch (gerne) gelesen werden. Humorlose Nölkaskaden möge man bitte anderswo suchen.
Viele Impulse zu meinem heutigen Thema liefern unter anderem suboptimale Umsetzungsversuche dessen, was gemeinhin »Digitalisierung« genannt wird. Sie sind für mich ein fast täglicher Quell des Stutzens und Brauenhebens. »Grund dafür ist«, würde die Ansagestimme der Deutschen Bahn nun einleiten, dass die Prozesse, in welche viele User dadurch verwickelt werden, zumeist … wie formuliere ich es? Denn »nicht richtig zuende gedacht sind« wäre falsch, denn sie sind sehr viel häufiger bereits gleich zu Beginn unfamos ersonnen. Mein häufigster Eindruck bei Abläufen, die nicht funktionieren* ist der, dass die »Konzepte« dahinter fast immer vier große Schwachpunkte aufweisen:
Die Abläufe wurden von Menschen erdacht, die entweder nicht willens oder in der Lage waren, sich vorher empathisch und kompetent in die Situation der späteren Anwender oder Nutzer der Prozesse hineinzuversetzen, so dass das Resultat zwar im besten Fall »auf dem Papier« funktionieren könnte, es aber in der Realität zumeist nicht tut.
Die Planer der Prozesse hatten hinterher entweder keine Zeit, keine Lust oder beides, ihre ausgetüftelte Lösung wenigstens einmal selbst, inklusive aller Optionen und Eventualitäten, zu durchlaufen, so dass an vielen Stellen Lücken, Fehler, Irritationen, Sackgassen und weitere Ärgernisse lauern, die bei einem gewissenhaften Testlauf eigentlich hätten auffallen müssen.
Die Gruppe der Prozessausdenker scheint sich generell nicht mit der Gruppe Menschen zu überlappen, die hinterher diesen Prozess nutzen oder auf ihn angewiesen sind (z.B. Menschen, die sich Abläufe für Zug- oder Buspassagiere ausdenken, aber selber ausschließlich Auto fahren). So bleibt ihnen nach ihrem Projekt jedwede ärgerliche Erfahrung mit den eigenen halbgaren Arbeitsergebnissen erspart.
Das Resultat ist eine derart unlogische, kontraproduktive oder verwirrende Abfolge von Handlungsschritten, dass der Prozess, der eigentlich zumeist initiiert wurde, um Dinge schneller und/oder einfacher zu machen, hinterher sämtliche Beteiligten mehr Zeit und Nerven kostet als vor der Einführung des neuen Ablaufs. Das ärgert zwar viele der so Gebeutelten, aber überraschend oft ist zu beobachten, dass dieser Ärger als notwendiges Übel des neuen »Systems« hingenommen wird, anstatt solche Dinge zu melden oder anderweitig auf eine Beseitigung an der Quelle hinzuwirken.
* Das betrifft übrigens nicht nur digitale Prozesse, sondern sehr oft auch analoge, wie z.B. die Wegeleitung auf Autoverkehrsstraßen, in Flughafengebäuden, an großen Bahnhöfen oder an Stationen sonstiger öffentlicher Verkehrsmittel. Insbesondere die Fahrgastlenkung zu Umsteigepunkten und Ausgängen ist häufig ein Graus.
Einige aktuelle Beispiele:
1. Vorgestern Abend suchte ich im Internet nach einem antiquarischen Buch. Nichts Besonderes, eine massenhaft gedruckte Anthologie mit Science-Fiction-Geschichten, irgendwann in den späten 1970er Jahren als Taschenbuch erschienen und auf vielen Gebrauchtbuchportalen zahlreich zu finden. Ich entschied mich für ein Angebot bei dem Portal ZVAB mit einem sowohl günstigen Buchpreis als auch moderaten Portokosten, legte das Werk in meinen digitalen Warenkorb und gab meine Adressdaten ein. Auf der nächsten Seite »Zahlungsmethoden« konnte ich frei wählen. Es gab die Optionen »Kredit- oder Debitkarte« und »Verkäufer direkt nach der Kaufabwicklung bezahlen (PayPal, Rechnung)«. Als ich »PayPal« anklickte, erschien der Hinweis »Der Verkäufer wird Sie innerhalb von 2 Werktagen nach der Bestellung kontaktieren, um die Zahlung zu vereinbaren«. Och nö, dachte ich, noch ’ne extra Kontaktaufnahme ist eigentlich überflüssig und klickte dann doch auf »Kreditkarte«. Die Eingabe der Daten ging problemlos und eine Bestellbestätigung traf ein (»Ihre Bestellung ist bei uns eingegangen und wurde an den Verkäufer weitergeleitet. Sobald die Bestellung durch den Verkäufer bearbeitet wurde, erhalten Sie eine Benachrichtigung per E-Mail«) und ich nahm an, es liefe nun alles automatisch weiter, bis ich das Buch in Empfang nehmen könnte. Doch nein – heute erreichte mich eine E-Mail des Verkäufers:
Hallo Bei einer Bestellung mit Kreditkarte kostet das 1,50 Euro Gebühren . Bei dem Preis des Buches ist das nicht wirtschaftlich , deswegen habe ich den Verkauf storniert .Falls Sie das Buch mit eigener Überweisung kaufen möchten , schicke ich Ihnen das Buch gerne auf Rechnung zu.
Oukayemeh … wieso erfahre ich das erst jetzt?, dachte ich. Es wäre doch ein Leichtes, den Bestellprozess so zu modifizieren, dass man als Kunde bei geringpreisigen Bestellungen zumindest schon auf der Zahlungsseite einen Hinweis darauf erhält, ähnlich dem »KARTENZAHLUNG AB ZEHN EURO«-Aushängen an immer noch so manchem realen Kassenhäuschen. Stattdessen bekommt jeder Besteller alle Zahlungsoptionen angeboten und der Verkäufer muss vermutlich öfter mal eine Bestellung stornieren, all diese Kunden auf den ungünstigen Umstand hinweisen, der Kunde muss eine E-Mail zurückschreiben oder das Buch nochmals im Shop bestellen und so weiter. Das erscheint mir verbesserungsfähig.
2. Gestern Nachmittag dann suchte ich den mir nächstgelegenen EDEKA-Markt auf, um noch einige Zutaten für einen Salat einzukaufen. Ich entschied mich für zwei lose Zucchini, einen Kopf Endivien und einen abgepackten Bund Dill. Zwei Produkte mit EAN-Barcode also, sowie Abwiegeware. Es gab eine lange Schlange an den Bedienkassen, aber die Sebstscan-Phalanx war kaum frequentiert. Ich hatte vor etwa zwei Monaten die Installation der SB-Kassenstationen im Laden mitbekommen. Eine ganze Riege Techniker und Installateure war an, hinter und unter den Elektronikmodulen mit der Aufstellung, Verkabelung und Einrichtung der Terminals beschäftigt und ich hatte mich damals schon gewundert, warum ganz am Ende des Bereichs, kurz vor der Ausgangsschranke, eine (eine!) Waage mit Etikettendrucker aufgestellt wurde. Seit heute weiß ich es. In einem REWE-Markt, den ich häufig besuche, nutze ich in Stoßzeiten oft und gerne die SB-Kassen, insbesondere bei kleineren Einkäufen. Sie sind schnell, intuitiv und leicht zu bedienen und in jeder Station ist eine Waage mit einem nutzerfreundlichen Obst- und Gemüsesuchmenü integriert. Ware auflegen, auf »Produkt suchen« klicken, die alphabetischen und bebilderten Warenkacheln durchscrollen – fertig.
Nicht so bei EDEKA. Als ich extra als Erstes zu der einzeln stehenden Waage ging und meine beiden Zucchini darauflegte, um ein scanbares Etikett für meinen folgenden Gang zur SB-Kasse zu drucken, fand ich kein Suchmenü vor. Stattdessen erschien auf dem Display eine Zifferntastatur mit der Aufforderung »Bitte geben Sie die vierstellige Zahlenfolge vom Preisschild am Warenregal ein«.
Nochmal oukayemeh … es hat also im konzeptionellen Traumland der EDEKA-SB-Kassenplaner wie folgt abzulaufen: Die Kundin oder der Kunde entnimmt in der Obst- und Gemüseabteilung lose Ware aus dem Regal und notiert sich (wo und wie auch immer) für jedes einzelne Wiegeprodukt die vierstellige Zahlenfolge von dem postkartengroßen Auszeichnungsschild am Regal, idealerweise mit der Bezeichnung des dazugehörigen Agrarprodukts, denn die Zahlenfolgen alleine wird niemand am Ende des Einkaufs wieder korrekt zuordnen können. Nach Ankunft an den Kassenstationen geht man dann zu der einzelnen Waage, die nicht am Eingang des Bereiches platziert wurde, sondern am Ausgang, um für seine Waren nacheinander die korrekten Zahlenfolgen einzutippen, alles einzeln abzuwiegen und die jeweils ausgedruckten Etiketten auf den Produkten, einer Tüte o.ä. anzuheften. Dann geht man wieder zurück zu einer (hoffentlich) freien SB-Station, denn hinter der abwiegenden Person wird ja ggf. weiter an den SB-Kassen angestanden und die Stationen können jederzeit von Kund*innen ohne Wiegeware besetzt werden. Ansonsten stellt man sich eben wieder irgendwo hinten an, immerhin mit seinen inzwischen ORRRDNUNGSGEMÄß abgewogenen Veggies. Sodann kann man alle EAN-codierten Waren einscannen, dazu das Potpourri der ausgedruckten Gemüseetiketten und schon ist man fertig. Mit den Nerven.
Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich frage: WER DENKT SICH SO EINE KRUDE ALBTRAUMSEQUENZ AUS? Ladendiebe? Menschen, die Butler oder Zofen haben, die sie zum Einkauf entsenden können? Bauern, die kein Obst und Gemüse einkaufen müssen, weil es bei ihnen auf dem Hof wächst? Ich bin ein wenig ratlos. Ein solcher Prozess wird ja vermutlich auch nicht von einer einzelnen Person ausgeheckt, sondern irgendjemand hat eine Idee, präsentiert die einem oder einer Vorgesetzten, in einem Teammeeting oder in einer Runde mit weiteren Projektpartnern und Dienstleistern. Und alle, die diesen Vorgehenshomunkulus aus Odysseus und Sisyphos präsentiert bekamen, sagten daraufhin »Ja, super. Perfekt! Machen wir so!« Oder was? Man weiß es nicht.
3. Ein drittes Beispiel ist das Tracking von Paketsendungen. Vermutlich kann inzwischen jeder ein buntes Potpourri an Anekdoten dazu erzählen. An sich ist die Möglchkeit zu einer Sendungsverfolgung eine tolle Sache. Manche Onlineshops oder Kuriere neigen zwar dazu, ihre Statusberichten ein wenig überzudifferenzieren (»Ihre Bestellung ist eingegangen« – »Wir haben Ihre Zahlung erhalten« – »Ihre Ware wird nun verpackt« – »Gleich wird Ihr Paket abgeholt« – »Ihr Paket ist nun auf dem Weg« – »Bald schon ist ihr Paket bei Ihnen« – »Ihr Paket ist in Ihrem Wohnort eingetroffen« – »Ihr Paket wird nun ins Zustellungsfahrzeug verladen« – »Ihr Paket kann es kaum erwarten, bei Ihnen anzukommen« …), aber man ist ja lieber reichlich als unzulänglich informiert. Meistens schleichen sich dann aber im Lauf der Transportkette »Glitches« ein, die zu berechtigtem Unmut führen. Letzte Woche etwa behauptete die DHL-Sendungsverfolgung, während ich zu Hause still und empfangsbereit auf ein avisiertes Paket wartete, es sei mir soeben persönlich zugestellt worden. Ich hatte mich aufmerksam beobachtet und kann mit Sicherheit sagen, dass ich vor dem Eintreffen dieser Meldung nichts getan hatte, was mir an mir aufgefallen wäre. Es hatte niemand geläutet, ich war nicht ohne mich zur Tür gegangen und ich hatte auch nicht von mir unbemerkt die Tür geöffnet. Es lag kein Paket vor der Wohnungs- oder Haustür, kein Paket im Treppenhaus, keins in der Nähe der Briefkästen. Ich fand keinen Benachrichtigungszettel zum Verbleib der Sendung in der Post und bekam keine nachträgliche Korrektur der Zustellbestätigung. Es ist befremdlich, wenn sich nach einer zuvor lückenlosen Kette elektronischer Statusmeldungen ein Paket quasi auf der Schwelle zum Ziel plötzlich dematerialisiert. Der analoge Bote hatte an diesem Punkt ganz offensichtlich einen Fehler in die digitale Prozesskette injiziert bzw. er war die Ursache des Fehlers. Also: Anruf bei der DHL Service-Hotline. Eine freundliche Mitarbeiterin nahm meine Reklamation auf und sagte, würde sich binnen der folgenden 3–5 Werktage niemand bei mir melden, solle ich eine Verlustmeldung beim Absender einreichen.
Als DHL mich – weiterhin paketlos wartend – zwei Tage später telefonisch erneut kontaktierte, wurden mir nicht etwa Neuigkeiten zum Verbleib meiner Sendung überbracht – nein, es war eine Mitarbeiterin aus dem Bereich Customer Relationship Management, die anhand einer recht umfänglichen Serie von Fragen meine persönliche Zufriedenheit mit dem DHL-Kundenservice abrufen wollte. Auch hier erschien mir der Zeitpunkt für einen solchen Anruf innerhalb der imaginären Prozesskette eher ungünstig. Ob die Mitarbeiterin bei der Aufnahme meiner Reklamation freundlich gewesen sei? Das schon. Ob sie mein Anliegen habe lösen können? Nein, keineswegs. Ob ich mit dem Ablauf des Telefonats zufrieden gewesen sei? Nein, denn trotz aller Zugewandheit und Akribie der Kollegin bei der Aufnahme gab es ja noch kein Wiedersehen mit meiner verschollenen Sendung. Ich vermute, bei kaum einer der so zur Servicequalität befragten Personen wird der Sendungsverlustfrust durch das empathische, aber fruchtlose Bemühen des Servicepersonals nachhaltig kompensiert.
Die Pointe war dann, dass ich in der Folgewoche über das Nachbarschaftsportal nebenan.de eine Mitteilung meiner Etagennachbarin erhielt, dass bei ihr ein Paket für mich seiner Abholung harrte. Sie hatte demnach auch den Empfang quittiert und war irgendwie als ich »im System« gelandet. Ich habe mich schon öfter gefragt, ob die ungelenken Kindergartenkringel, die Paketempfänger mit dem nackten Finger auf einem wackelig hingehaltenen, berührungsresistenten Tabletdisplay als vage Andeutung ihrer üblichen Unterschrift zu hinterlassen imstande sind, tatsächlich zur Dokumentation oder Legitimation taugen. Mir kamen auch schon Liefergeschichten zu Ohren, bei denen die Paketlieferperson ganz offensichtlich selbst unterschrieben hat, damit die tägliche Zustellquote erfüllt schien, tatsächlich wurde das Paket dann erst Tage später an die Empfänger*in übergeben. In jeder Postfiliale und in jedem Paketshop muss man zur Abholung seinen Personalausweis vorlegen – warum nicht auch an der Haustür? Wäre der Prozess zur Identifikation der Person, die eine Sendung annimmt, valide verifiziert und verlässlich dokumentiert, würden solche Verwechslungen, Verluste und Verzögerungen vermutlich deutlich seltener passieren.
4. In Ausübung meines Jobs besuchte ich kürzlich eine Landing-Page, an deren Fuß ein prominenter knallroter »Call To Action«-Störer mit einem QR-Code und der Aufforderung prangte, diesen zu scannen, um mehr Informationen zu dem beworbenen Produkt zu erhalten. Folgte man dieser Aufforderung, gelangte man exakt auf dieselbe Seite, auf der man sich ohnehin gerade befand. Die berufliche Diskretion gebietet mir, das Unternehmen hier nicht zu nennen.
Das ist er, der Gram mit den Prozessketten. Sie sind teils wunderbar smooth und lückenlos, enden dann aber plötzlich unvermittelt im Nichts, wie ein Fahrradweg in einer deutschen Großstadt. Oder sie enthalten zwar prinzipiell alle notwendigen Schritte, nur leider entweder angereichert durch etliche verzichtbare bis hinderliche Überflüssig- und Umständlichkeiten, oder sie sind in der komplett falschen Reihenfolge sortiert.
Es gibt einen Cartoon von Gary Larson (»The Far Side«), an den ich angesichts solcher Erlebnisse oft denken muss. Darin sitzt ein Cartooncharakter morgens nach dem Aufstehen auf der Bettkante und vor ihm prangt ein großes handgemaltes Schild mit der Aufschrift »Zuerst die Hose, DANN die Schuhe!«.
Der Witz dahinter ist womöglich weit weniger abwegig, als es zunächst scheint.
Ich muss noch mal was im weitesten Sinne zu Werbetexten schreiben, denn ich habe den Eindruck, dass sich ein Phänomen u.a. bei der Bewerbung oder textlichen Erläuterung käuflicher Dinge häuft. Aber auch in der Alltagssprache ist es zu beobachten.
Es ist schon gut anderthalb Jahrzehnte her, als ich per Radio Ohrenzeuge wurde, als ein Hörer an einem Live-Anrufquiz teilnahm. Es galt einige Fragen zu beantworten und es winkte irgendein vom Sender oder einem Werbekunden gestifteter Preis, sofern alle Antworten des Quizkandidaten richtig waren. Der Hörer schaffte es leider nicht, aber vom Moderator wurde ihm als Trostpreis ein Kugelschreiber zuerkannt. Zur Verabschiedung des Anrufers sagte der Radiosprecher dann »Viel Spaß mit deinem Kugelschreiber!«. Das habe ich mir gemerkt, denn ich fragte mich sofort, welcher Art der Spaß wohl sein könnte, den man mit einem Kugelschreiber – sowohl bei bestimmungsgemäßem als auch womöglich zweckentfremdeten Gebrauch – haben könnte. Ich ich gebe zu, hatte noch nie »Spaß« bei der Benutzung eines Kugelschreibers. Bisweilen nahm ich vielleicht wohlwollend zur Kenntnis, dass ein Kuli nicht schmierte beim Schreiben. Oder ich wertschätzte, dass der Tintenvorrat in der Mine ungewöhnlich lange vorhielt. Aber ich jauchzte niemals vor Vergnügen, weil das Metallbällchen gar zu geschmeidig übers Notizblockpapier glitt, hielt nie entzückt inne, weil die Tinte so vorbildlich viskos zu einer Schreibspur kanalisiert wurde oder erbebte vor Lust, weil mir vergönnt war, den harten Schaft des Kunststoffkorpus mit meiner Schreibhand zu umfassen. Vielleicht gibt es ja Menschen, die da anders gestrickt sind als ich, oder andere Schreibgeräte als Kugelschreiber, deren Gebrauch einer spaßähnlichen Empfindung näher kommt. Ich weiß es nicht.
In den Jahren danach beobachtete ich dann, vom Sprachgebrauch in den USA ausgehend und anschließend auch hierzulande einsickernd, dass hyperenthusiastische Prädikate für Produktbewertungen, Medienrezensionen oder persönliche Bewertungen und Erlebnisberichte einen raketengleichen Aufstieg erlebten. Auf einmal waren Sachen nicht mehr »geil« oder »fett«, sondern »episch« oder »awesome«. Zum Teil liegt das vielleicht auch daran, dass die englische Sprache eine Vielzahl schöner und interessant(er) klingender Wörter für Begeisterung bereithält wie etwa amazing, breathtaking, staggering, eye-popping, magnificent, miraculous, stunning, mind-blowing, marvelous oder spine-tingling. Vielleicht ist es auch nur der übliche, von der jüngeren Generation ausgehende Drang zur Etablierung neuer »eigener« Begriffe für althergebrachte Ausdrücke der Eltern oder Großeltern. Aber interessant ist doch, dass dieser Wandel gleichzeitig mit einem Steigerungsbedürfnis einherzugehen scheint, warum sonst wäre »super« auf dem absteigenden Ast und »mega« gerade rasant im Kommen? Erstmal ist es nur eine These von mir, aber sollten demnächst die ersten Dinge »giga« oder »tera« gefunden werden, bin ich damit womöglich etwas Großem auf der Spur.
In Naturdokumentationen fiel mir auf, dass die deutschen Off-Sprecher ziemlich inflationär mit dem Adjektiv »spektakulär« um sich werfen. Vogelschwärme, Bergmassive, Vulkanausbrüche, Wasserfälle – alles ist »spektakulär«. Dabei ist es doch der Natur komplett egal, ob und wie sehr sie mit ihren Lebewesen, Landschaften, Erscheinungsformen oder Veränderungsprozessen die Menschen oder irgendwen sonst beeindruckt und vor allem macht sie das nicht extra zu diesem Zweck, es passiert einfach. Laut Wikipedia ist ein »Spektakel (lateinisch spectaculum = Schauspiel, Augenweide, Anblick, auch Krach, Lärm) […] ein Ereignis, das Aufsehen erregt«. Ich denke: Wären keine Menschen da, gäbe es doch eigentlich auch kein »Aufsehen«. Inzwischen mache ich mir mit dem Mann einen Spaß daraus, vom Sofa aus »Ha!« in den Raum zu rufen, wenn das Wort mal wieder in einer Doku erwähnt wird.
Doch zurück zur Werbung. Unter dem Hashtag #werbeschwurbel sammle ich auf Mastodon sporadisch sonderbare Ergüsse aus der Welt der Werbetexte, die mir insbesondere via Facebook-Anzeigen über den Weg laufen. Auch darin ist der Trend zum »Hochjazzen« des an sich Banalen sehr schön zu beobachten:
»Das Sofasystem Esosoft Outdoor ist durch seinen einzigartigen Stil charakterisiert, der Komfort mit produktiver Exzellenz kombiniert und sich durch seinen faszinierenden visuellen und materischen Kontrast auszeichnet.«
»Sag Tschüss zu Verfärbungen: Erlebe die faszinierende Welt der Zahnaufhellung!«
»… sag HALLO zu der Umwelt und pimpe dein Badezimmer mit stylischen Toilettenpapier und Zubehör«
»Entdecken Sie […] beeindruckende Designs. Multifunktionaler Zauber für jede Version von Ihnen. Bleiben Sie hydratisiert & vernetzt!«
»WILLKOMMEN IN DER ZUKUNFT DER HERRENUNTERWÄSCHE«
Kürzlich war ich aus Gründen der Recherche für ein anlassbezogenes Geschenk auf der Suche nach einem Tracking-Gepäckanhänger, der kein Apple AirTag sein sollte, und klapperte zu diesem Zweck diverse Websites ergoogelter Anbieter ab. Bei einem las ich: »Abonnieren Sie Premium, um das beste Sucherlebnis für alle Ihre Tiles zu erzielen«. SUCHERLEBNIS! Ahja. Ich habe irgendein Teil meines Zeugs verbummelt bzw. es wurde mir im schlimmsten Fall von einem Übel wollenden Schurken geklaut und hier möchte mir ein Unternehmen mein verstimmtes oder banges Forschen bzw. Kramen nach dessen Verbleib als »Sucherlebnis« verkaufen. Na danke! Ähnliches kam mir bei Apps und »Hardware« unter, die bei unser aller regelmäßiger nächtlicher Ruhephase von Nutzen sein soll: Bettwäsche, Matratzen, Kopfkissen und Zudecken oder Schlaf-Apps, etwa:
»Erheben Sie Ihr Schlaferlebnis: Entdecken Sie das Geschenk des tiefen Schlafs mit MLILY« (es geht noch ähnlich abgehoben weiter: »Suchen Sie ständig nach dem flüchtigen Schatz eines erholsamen Schlafes? In der heutigen schnelllebigen Welt haben sowohl Männer als auch Frauen, insbesondere diejenigen mit Familien, oft Schwierigkeiten, das Heiligtum eines ruhigen Schlafes zu finden. Wenn Sie zu denen gehören, die eine Oase des Komforts inmitten des Chaos suchen, steht Ihnen MLILY bereit, Ihre Nächte in eine erfrischende Erfahrung zu verwandeln.«)
(Matratzen, Kissen, Zudecken)
»Keine zwei Menschen dekomprimieren auf die gleiche Weise. Deshalb gibt Ihnen Entspannungsmelodien die Freiheit, durch Mischen Ihr ganz eigenes Entspannungs- und Schlaferlebnis zu schaffen.«
(Einschlafhilfe-/Meditations-App)
Jesus. Vielleicht bin ich da zu anspruchslos, aber wenn ich schlafe, dann schlafe ich. Dann will ich außer Ruhe, Ungestörtheit und möglichst netten Träumen eigentlich NICHTS weiter erleben. Am besten sind die Nächte, wo ich mein »Schlaferlebnis« eigentlich komplett überspringe. Hinlegen, Augen zu, augenblicklich wegknacken, Stunden später Augen auf, sich fragen, wo, was und wann man ist, wach werden, fertig.
Es hat den Anschein, als litte der Kapitalismus allmählich unter einem Mangel an Argumenten, den Menschen immer mehr immer neues immer andersartiges Zeug anzudrehen. Die meisten Menschen haben schon alles, das meiste davon sogar mehrfach oder im Übermaß. Dinge werden nur noch zu einem Bruchteil gekauft, weil sie verschlissen, defekt, abgenutzt oder unbrauchbar sind und somit ersetzt werden müssten, sondern auch, weil sie unmodern oder nicht mehr angesagt sind, die Besitzer ihrer überdrüssig sind oder gar, weil sie aus Langeweile oder unreflektierter Shoppingroutine heraus angeschafft wurden. Die Konkurrenz der Waren und Dienstleistungen war noch nie so groß wie heute, das Angebot und die Auswahl sind mind-boggling. Da reicht es dann eben nicht mehr, zu schreiben, dass man ein schönes scharfes, langlebiges und gut in der Hand liegendes Küchenmesser feilzubieten hat, sondern es ist ein Schneidwerkzeug mit einem »handgeölten und manufakturgeschnitzten Schaft aus dem Holz einer tausendjährigen Toskana-Eiche«, das dann zu Hause beim groben Zerteilen eine Mohrrübe »ein unvergleichliches Schneiderlebnis« bietet, von dem ich vermutlich noch meinen Enkeln erzählen würde, hätte ich welche.
Schade ist, dass neben all diesen Überhöhungen die Dinge etwas ins Hintertreffen geraten, die tatsächlich und merklich objektiver betrachtet solche extraordinären Attribute verdient hätten. Als »epochal« etwa könnte man das Versagen der Regierungen und Konzerne der Welt bezeichnen, etwas gegen die Klimakatastrophe zu tun. »Beispiellos« wäre ein treffendes Eigenschaftswort für die weltweit zu beobachtenden Temperaturanstiege und Wetterextreme oder das Ausmaß des Artensterbens.
Immer noch im Moselland, im Elternhaus des Mannes. Unsere Termine, Erledigungen und Ausflüge unternehmen wir mit dem hinterlassenen Auto seines Vaters, einer Mercedes B-Klasse. Auch ich habe das Fahrzeug nun in der letzten Woche reichlich bedient und gesteuert. Es fährt sich angenehm, Automatikgetriebe, straffe Beschleunigung, recht gute Rundumsicht, bequeme Sitze, solide Straßenlage. ABER. Die elektronische Ausstattung dieses Wagens, ihre Performance und insbesondere die Bedienung halte ich persönlich für eine Katastrophe. Die Ingenieure im »Autoland Deutschland« scheinen mittlerweile zu delirieren. Die Bedienungsanleitung für dieses Modell hat sage und schreibe 575 Seiten. Fünfhundertfünfundsiebzig. Für ein Auto.
Ein paar Anekdoten: Gleich zu Beginn nach dem Einsteigen und Anlassen belehrt einen das etwa postkartengroße Display in der Mitte der Frontkonsole, man solle sich auf keinen Fall von den Mitteilungen auf den Displays und Armaturenanzeigen vom Verkehrsgeschehen ablenken lassen. Gleichwohl tut die Elektronik dann während der Fahrt alles, um genau das zu erzielen. Liegt auch nur ein Brillenetui oder eine Jacke auf dem ansonsten leeren Rücksitz, wird ein vollflächiges Pop-Up-Fenster über der Tachoanzeige eingeblendet, mit der Warnung, dass auf dem Rücksitz eine nicht angeschnallte Person sitze (Spoiler: nein). In diesem Pop-Up-Fenster befindet sich zwar in der oberen Ecke ein ⨉, das andeutet, man könne die Warnmeldung einfach schließen, aber tippt man darauf, passiert – nichts. Entweder sind meine Finger nicht spitz genug oder ich müsste irgendwo in dem Bedienungsschinken nach der Anleitung suchen, wie ich diesen unerwünschten Unsinn ausblenden kann, der mir während der Fahrt die Instrumententafel kontaminiert oder so lange auf dem Display rumtippen, bis es doch irgendwann verschwindet – oder ich abgelenkt im Graben lande.
In der Dämmerung soll eine fancy Beleuchtungsautomatik dafür sorgen, dass automatisch zwischen Fern- und Abblendlicht gewechselt wird, mehr noch: sogar eine Teil-Abblendung wird durchgeführt, die das Licht nur im Sichtfeld eines entgegenkommenden Fahrers dimmt, während die restlichen Streckenbereiche weiter voll ausgeleuchtet werden. Wenn es funktioniert. Einmal nämlich gleißte der Wagen fröhlich weiter, während uns ein anderes Auto entgegenkam. Ich suchte, wie ich manuell abblenden konnte, was mir schließlich mit einigen Hebelbetätigungen auch gelang, doch seither ist die Lichtautomatik komplett deaktiviert und ich fand intuitiv keinen Bedienschritt mit denselben Hebeln, der sie hinterher wieder reaktivierte. Ach ja, die Bedienungsanleitung.
Touchiert man mit einem der rechten Räder einmal versehentlich die rechte Fahrbahnmarkierung, so wird unvermittelt ein ziemlich krasser Vibrationseffekt im Lenkrad zugeschaltet, der mich beim ersten Mal enorm erschreckt hat. Vermutlich wurde diese elektronische Warnpeitsche ersonnen, um dem Abkommen des Fahrzeugs von der Fahrbahn nach rechts beim berüchtigten »Sekundenschlaf« vorzubeugen, aber was nützt diese Warnung, wenn der gewarnte Fahrer vor Schreck das Steuer nach links verreißt und im Gegenverkehr landet? Ich würde sagen: nicht viel.
Wieder andere (optische) Sensoren erfassen die Schilder am Straßenrand für Geschwindigkeitsbeschränkungen und blenden die vermeintliche aktuell gültige Höchstgeschwindigkeit auf der Instrumententafel ein. Überschreitet man sie, gibt »das System« einen nervigen akustischen Pling-Ton von sich. Dieser war das erste »Feature«, das wir mithilfe der Bedienungsanleitung deaktiviert haben. Nun blinkt das kleine Verkehrsschild-Piktogramm nur noch stumm, wenn die gefahrene Geschwindigkeit für zu hoch befunden wird. Ich möchte hier keineswegs den Eindruck erwecken, mir wäre daran gelegen, zu rasen – im Gegenteil. Aber das Fahrzeug irrt sich bestürzend häufig mit seinen Geschwindigkeitswarnungen. Haben z.B. die Straßenarbeiter hinter eine Baustelle mal vergessen, das »Tempo 50 wegen Bauarbeiten«-Schild wieder aufzuheben und auf die übliche Höchstgeschwindigkeit der freien Strecke zurückzusetzen, meint die Limousine noch Kilometer später, man müsse baustellenbedingt weiterschleichen. Umgekehrt geschieht es erschreckend oft, dass die Elektronik beim Befahren der typischen Serpentinenstrecken in den hiesigen Bergregionen im Cockpit einblendet, man könne auf den Zickzackstrecken mit ihren spitzen Harnadelkurven getrost mit 100 km/h die Berge hochspurten, wovon ich eher abraten würde. Oder plötzlich erscheint auf dem Zentraldisplay nach dem Ausparken und vorwärts Losfahren eine Kameraansicht der Umgebung hinter dem Auto. Wozu? Brauch ich nicht, alles frei, keine Hindernisse in Sicht und zudem absolut irrelevant für die aktuelle Fahrtrichtung. Daneben sondert die Elektronik beim Fahren aber auch ohne begleitende grafische Einblendungen allerlei weitere Pling-, Dödel-, Palim-Palim- und Piepgeräusche ab, deren Bedeutung ohne Konsultation DER ANLEITUNG komplett im Dunkeln bleibt. Eine der akustischen Belästigungen scheint zu bedeuten, dass das Fahrzeug den Kontakt zum Internet verloren hat. Ja, meine Güte, das passiert mir auch ständig, dann guck halt so lange mal aus dem Fenster, Gefährt, ey!
Obwohl ich selbst kein eigenes Auto mehr besitze, bin ich durch Mietwagen im Urlaub sowie Carsharing in heimischen Städten mit den verschiedensten Modellen und Fabrikaten vertraut. Ich bin sehr offen für technischen Fortschritt, halte mich oftmals für einen »First Mover«, erhoffe mir (wenngleich wohl vergeblich) einen baldigen zeitgemäßen Fortschritt bei der Digitalisierung in Deutschland und bin seit den 1980er Jahren privat und inzwischen auch beruflich fast täglich mit der Nutzung und Bedienung von Computern befasst, aber was dieser Pkw seinen Nutzern zumutet, grenzt an digitale Belästigung.
Um so lustiger, dass ich vorgestern Nacht einen Traum über dieses Auto hatte. Ich träumte, dass wir in den Unterlagen hier im Hause der Eltern Dokumente fänden, die belegten, dass der besagte Mercedes keineswegs ein vergleichsweise aktuelles Fahrzeugmodell sei. Vielmehr ging aus dem im Traum gefundenen Kaufvertrag hervor, dass das Baujahr des Autos 1987 gewesen wäre, dass es damals ein Heidengeld gekostet hätte, weil derart viele bahnbrechende, wegweisende Avantgarde-Elektronik darin verbaut worden war, die damals absolute Spitzentechnik repräsentierte, futuristisch und weit vor »State Of The Art«. Inzwischen jedoch war die technische Entwicklung rasant fortgeschritten und die einstigen High-Tech-Features wirkten im Jahr 2024 wie ein musealer, umständlicher Versuch, ein Auto mit elektronischen Accessoires auszustatten, der mittlerweile alles andere als zeitgemäß ist. Etwa so, wie der erste »Palm«-Taschencomputer aus dem Jahr 1996 – damals ein bestaunenswertes Stück Mikroelektronik (ich besaß selbst einen, um meine VHS-Videocassetten-Aufnahmen digital zu katalogisieren!), aber heutzutage im Vergleich mit einem aktuellen Smartphone-Modell ein kurioses technologisches Relikt.
In meinem Traum waren wir also, ohne es zunächst zu wissen, mit einem rollenden Palm Pilot auf den Straßen der Gegenwart unterwegs. Und nach dem Aufwachen dachte ich: ja, danke, liebes Traumhirn – genau so fühlt es sich an.
In einem der benachbarten Orte nahe dem Elternhaus des Mannes, in dem wir derzeit »logieren«, führt die Straße vorbei am Gebäude eines Gebrauchtwagenhändlers. Auf dem Fries oberhalb der Garageneinfahrten ist zu lesen »Auto Miesen – Ihr fairer Partner«. Jedesmal, wenn wir dort vorbeifahren, frage ich mich, was wohl der Grund war, diesen Werbespruch oder Firmenslogan so zu formulieren. Eigentlich sollte man doch erwarten können, dass ein Kfz-Händler mit einer permanenten, gemauerten Niederlassung in einer ländlichen Siedlung, wo oft noch jeder jeden kennt, fair mit seinen Kunden umgeht. Unfaire Gebrauchtwagenhändler würde ich eher vermuten auf temporären Fahrzeugflohmärkten, wo die Anbieter vorübergehend einen freien Stellplatz belegen, eine billig gedruckte Visitenkarte mit einer GMX-Mailadresse und einem in PowerPoint selbstgebastelten Logo ihre einzige Legitimation ist, oder bei spontan verabredeten, windigen Transaktionen auf Rast- oder Parkplätzen, nach denen man den fremden Anbieter nie wiedersieht. Auf dem Autohaus steht also etwas eigentlich Selbstverständliches, das als Besonderheit und Zuwendungs- oder Kaufargument hervorgehoben wird.
In Hamburg komme ich öfter an dem verglasten Büro eines Altenpflegedienstes vorbei, das, wie so viele dieser Dienstleister, kontinuierlich nach neuem Personal sucht. An der Fensterscheibe prangt ein großer Aufkleber mit der Botschaft »WIR RESPEKTIEREN, DASS UNSERE MITARBEITER EIN LEBEN AUßERHALB IHRES BERUFES HABEN«. Auch hier drängte sich mir die Frage auf, wieso eine solche Botschaft an potenzielle Bewerber notwendig ist. Ich würde es begrüßen, wenn sämtliche Arbeitgeber, die diesen Satz nicht vorbehaltlos unterschreiben würden, dies wahlweise noch einmal überdenken, ihre Geschäftstätigkeit einstellen oder aber ihre neuen Mitarbeiter mit dem Hinweis »FÜR UNS IST ES INAKZEPTABEL, DASS UNSERE MITARBEITER ETWAS ANDERES IM SINN HABEN, ALS SICH FÜR UNS RUND UM DIE UHR KAPUTTZUSCHUFTEN« anwerben würden.
Auch auf Produkten lese ich häufig Botschaften oder vermeintliche Qualitätsmerkmale, auf die ich augenblicklich mit »JA WAS DENN SONST, IHR FLITZPIEPEN?!« antworten möchte. So steht zum Beispiel auf auffällig vielen Reinigungs- oder Kosmetikprodukten prominent der Hinweis »OHNE MIKROPLASTIK«. Das ist, so sehe ich das, vordergründig kein edles Prädikat, sondern eher ein trauriges Indiz dafür, dass sich zahllose Hersteller in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einen Scheiß darum gekümmert haben, was sie in ihre Cremes, Pasten, Gele, Lotionen, Milche, Wachse und Tinkturen hineingerührt haben und was dann der Kanalisation überantwortet wurde. Durch den Abfluss, aus dem Sinn. Deodorantprodukte, die sich rühmen, »ohne Aluminium« produziert worden zu sein, gehören ebenfalls in diese Kategorie. Man könnte sie mit der Überschrift versehen »Wir haben’s seinerzeit mal reingemischt, ohne zuvor richtig zu erforschen oder mal darüber nachzudenken, ob das sinnvoll, gefährlich oder gesundheitsschädlich sein könnte, dann kam raus, dass das ’ne Scheißidee war, jetzt haben wir’s wieder rausgenommen und IST DAS NICHT SUPER, KAUF DAS DOCH BITTE!«. Es ist altbekannt, dass Plastik in jedweder Erscheinungsform recht hartnäckig in der Umwelt verbleibt, ehe es abgebaut wird. Zuvor werden größere Teile durch Zerfall, Verwitterung und andere mechanische Prozesse immer feiner zermahlen und die Partikel verteilen sich dabei munter in der Biosphäre. Inzwischen wurde Mikroplastik im menschlichen Blutkreislauf nachgewiesen, es kann in der Tiefsee ebenso nachgewiesen werden wie in Wolken, es kann sogar die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Die Definition des Wortes »Mikroplastik« stammt aus dem Jahr 2008, die Gefahren und Gesundheitsrisiken wurden spätestens seit Beginn der 2010er Jahre offenbar. Trotzdem frage ich mich, wie man auch ohne wissenschaftliche Begleitung jemals auf die bescheuerte Idee kommen konnte, das Plastik quasi gleich »vorgemahlen« in die Produkte zu quirlen und neuerdings fröhlich auf die Verpackungen zu drucken, dass dies nun wieder unterlassen wird. Toll. Aber wenn man ein bisschen länger darüber sinniert, ist die Geschichte der menschlichen Zivilisation ohnehin eine ebenso lückenlose wie reichhaltige Chronik der Emission schädlicher Substanzen in die Umwelt, die sich hinterher entweder gar nicht mehr oder nur sehr aufwendig wieder einsammeln oder entfernen lassen: FCKW, Asbest, Pestizide, Blei im Benzin, PTFE, CO₂, Weichmacher, Mineralöl, Stickstoff, Radioaktivität, Schwermetalle, Hormone, Antbiotika, die Liste ist endlos. Alles muss raus, solange der Vorrat reicht. Nachdenken können wir hinterher. Vielleicht.
Eigentlich ist dieser Text heute eine kleine Fortführung meines kürzlichen Blogeintrags »Brombeerwörter« über Textstellen und Begriffe, an denen ich beim Lesen immer wieder hängenbleibe, weil sie mir störend, unsinnig oder fragwürdig erscheinen. Denn genauso verhält es sich mit diesen sonderbar eigenlöblichen Werbeverkündigungen des eigentlich Gebotenen.
Irgendwie ein bisschen so, als gäbe es Schulen oder Kitas, an deren Fassade ein Banner aufgehängt ist mit der werbenden Anpreisung »In dieser Einrichtung wird nicht geprügelt!«
Im Dezember besuchte ich in Hamburg-Othmarschen anlässlich einer kleinen beruflichen Weihnachtsfeier erstmals das libanesische Restaurant »Hala«. Der Initiator und Gastgeber des Abends, der im Westen Hamburgs wohnt, hatte das Lokal vorgeschlagen und aufgrund seiner etwas nebulös gehaltenen Bestellung zu Beginn des Abends (»Bringense mal für uns alle eine schöne Mischung kalter und warmer Sachen, die teilen wir uns dann«) bog sich anschließend der Tisch vor orientalischen Köstlichkeiten. Zuerst wurden gut drei Dutzend Porzellanschälchen mit kalten und warmen Mezze aufgetragen: Hummus, Auberginencreme, Tabouleh-Petersiliensalat, gebratener Blumenkohl mit Sesam-Vinaigrette, Sesammousse mit Porree, Paprika und Mandeln, Labneh mit Walnuss, Minze und Knoblauch, marinierte Rote Bete mit Sesam und Thymian, Champignons mit Harissa und Koriander. Wow, dachten alle, als die Schälchen sämtlich ausgekratzt waren, das war ja sehr gut und auch reichlich. Doch nach dem Abräumen kamen die Servicekräfte dann unerwartet wieder – mit größeren Platten und einer Auswahl famoser warmer Hauptgerichte: Riesengarnelen auf Hummer-Estragon-Sauce mit Gemüse, Lammfilet auf Schafskäse-Sauce mit Gemüse und Zimt-Kardamom-Reis, Entenbrustscheiben auf Aprikosensauce, Makanek-Lammwürstchen mit Pinienkernen und mehr. Dazu Wasser und Wein und abschließend tatsächlich noch ein Dessertpotpourri plus Kardamom-Mokka. Das war ein sehr wohlschmeckender Abend und obwohl ich ganz aus dem Westen dann wieder fast eine Stunde mit dem Nachtbus in mein eher östlich gelegenes Viertel unterwegs war, wollte ich mir dieses famose Lokal unbedingt zwecks eines Wiederholngsbesuchs merken. Als nun Anfang März zwei gute Freunde anregten, kam mir das Hala gleich wieder in den Sinn und als ich nach der Website suchte, entdeckte ich, dass es in Hamburg-Rotherbaum und damit viel näher gelegen einen zweiten Ableger namens »Hala mignon« gab. Also schlug ich dieses vor, traf auf Gegenliebe und reservierte für vergangenen Samstag Abend einen Tisch.
Das Lokal ist klein, beim Betreten sieht man zunächst nur 4–5 Tische und ich dachte »Oh. Gut, dass wir reserviert haben«. Doch dann führte uns der Wirt eine Treppe hinunter in einen zweiten Gastraum mit ebenfalls 5 Tischen und dort sollten wir den Rest des schönen Abends verbringen. Das Ambiente ist in schönen gedeckten Farben gehalten, petrol, braun, grau und gold, die Akustik ist auch bei voller Besetzung noch angenehm und die kleinen, etwas verschachtelten Räume wirken fast wie gemütliche Wohnzimmer. Der Service war zur Stoßzeit bisweilen etwas hektisch, aber nie unaufmerksam. Wir alle gemeinsam bestellten »Das mignon-Menü«, bestehend aus Amuse bouche, einem Sortiment kalter Mezze, danach wahlweise entweder ein Hauptgericht oder zwei warme Mezze nach freier Wahl und abschließend eine »Assemblage aus Baklawa, Crème Brûlée Orange und Maracuja-Sorbet«. Der Menüpreis erschien schon vor der Bestellung mit 41 EUR pro Person mehr als gerechtfertigt und das Sättigungs- und Zufriedenheitsgefühl danach bestätigte dies. Es war ein sehr feiner, köstlicher Abend und ich empfehle beide Filialen dieses libaniesischen Restaurants hiermit gerne uneingeschränkt weiter.
Bei der morgendlichen Bartpflege bzw. -schur dachte ich so, wie großartig ist es doch, dass der Körper imstande ist, die ganzen Materialien und Stoffe, die ihn ausmachen und die er zur Aufrechterhaltung der Lebens- und Wachstumsfunktionen benötigt, bei einer angenehmen Temperatur von lediglich 37 °C und normalen atmosphärischen Bedingungen selbst herzustellen. Hormone, Enzyme, Proteine, Sekrete, Zellen, Haare, Nägel, Magensäure, Gallensaft. Alles ohne Gluthitze, Zischen, Dampfen, schädliche Abfallstoffe oder giftige Dämpfe in kritischen Mengen – das ist schon ziemlich genial. Wenn man bedenkt, welche extremen Reaktionsbedingungen in der Industrie zumeist vonnöten sind, um Kunststoffe, Chemikalien, Medikamente, oder Baustoffe herzustellen, dann bin ich doch dankbar, eine so dezente und geräuscharme Chemiefabrik sein zu dürfen.
Am Sonntagnachmittag stand ein schönes kompaktes Konzert in der Elphi auf dem Programm: Das NDR Elbphilharmonie Orchester spielte das »Harfenkonzert« op.74 von Reinhold Glière und die Sinfonie Nr. 7 von Sergej Prokofjew. Zusammen eine gute Stunde ohne Pause, danach ist man jetzt im März »noch im Hellen« wieder draußen und kann den kaum angebrochenen Abend dann noch ausgiebig anderweitig beschließen. Wir saßen auf bewährten guten Plätzen in der ersten Reihe im obersten Rang der Etage 16, von dort hat man einen schönen, wenn auch steilen Blick hinunter auf das Orchester, die Solisten und den Dirigenten. Die Plätze befinden sich aber auch auf gleicher Höhe mit dem großen trichterförmigen Schallreflektor, der in der Mitte des Saals von der Decke herabhängt. Die Unterseite besteht aus einer mit den typischen, organisch strukturierten Akustikkacheln der Elphi-Wandverkleidungen beschichteten Kalotte, die Oberseite ist mit einer elastischen Stoffhülle bespannt, die sich bogenförmig nach oben zur Aufhängung verjüngt. Und genau auf dieser Stoffhülle liegen seit geraumer Zeit zwei längliche rote Würste, die dort offenbar nicht hingehören. Meine erste Assoziation während des Konzerts, bei dem ich diese Fremdkörper entdeckte, war »Da hat ein Zuschauer von seinem Platz aus zwei angebissene BiFi auf das Ding geworfen«. Von weitem sehen die Objekte tatsächlich ein bisschen aus wie Landjäger, Mettenden oder wie auch immer man solche Wurstsnacks nennt. Inzwischen (ich hatte bislang leider kein Opernglas dabei) denke ich, es sind Fragmente einer dicken roten Gummidichtung, wie auch immer die dorthin gelangt sein mögen.
Beim Konzertgenuss geht es zwar in erster Linie um Musik, aber diese Dinger lenken mich trotzdem ab, vermutlich in erster Linie, weil ich über ihren Ursprung und die Beschaffenheit grüble, ob die Objekte schon anderen im Publikum oder vom Hauspersonal aufgefallen sind, ob und wie sie an dieser Stelle überhaupt erreichbar wären, um sie zu beseitigen usw. Ein bisschen geht es mir übrigens auch so bei Besuchen in der Deutschen Oper Berlin. Ich schaue regelmäßig hoch zu den tellerförmigen gläsernen »Lampenschirmen« um die hängenden Leuchtkörper, welche den Zuschauerraum vor und nach der Vorstellung erhellen und frage mich, ob auf diesen, anscheinend über Jahrzehnte zugestaubten und inzwischen milchig-trüben Scheiben, die obendrauf vermutlich ebenso schwer erreichbar sind wie die Hamburger BiFi-Kalotte, nicht endlich mal jemand Staub wischen könnte und warum ein Innenarchitekt überhaupt auf die Idee kam, solch schwer erreichbare gläserne Lampenteller in einer Oper zu verbauen, obgleich ihnen unweigerlich die Verstaubung dräut.
Es ist schwierig. Da sitze ich in einem der teuersten und modernsten Konzerthäuser des Landes, unter mir auf der Bühne entfaltet sich die ganze Pracht menschlichen musischen Schaffens – und ich stiere auf eine Gummiwurst. Ich fühle mich erinnert an den Loriot-Klassiker »Die Nudel«, oder an den bekannten Monty-Python-Sketch »The Dirty Fork«, in dem ein Restaurantgast eine klitzekleine Verunreinigung auf seiner Gabel entdeckt. Ich muss an Nachrichtensprecher denken, die bedeutsame Meldungen aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft verlesen, aber deren Worte stumpf verhallen, weil sie einen Fitzel Spinat zwischen den Zähnen haben, der all diese Ereignisse nebensächlich erscheinen lässt. Ich fürchte, wenn ich demnächst von einem Elphibesuch berichte und gefragt werde, was denn auf dem Programm gestanden hätte, dass ich dann nur mit leerem Blick sagen kann »Wurst«.
Als ich neulich am Wochenende mit dem Mann auf einer Wanderung war, mussten wir uns an einer durch tiefen Schlamm unwegsam gewordenen Wegstrecke gezwungenermaßen einen Umweg durchs Unterholz parallel zum Wanderweg suchen. Dabei blieb ich mit meiner Winterjacke im Vorbeigehen ohne Sachschäden an einer Brombeerranke hängen und stoppte kurz, um die Dornen aus dem Jackenstoff zu lösen, ehe ich weiterging.
Ich bin seit jeher ein Mensch, der Freude an Sprache hat und der es liebt, einen möglichst großen Wortschatz zu haben. Ich schätze es, die Nuancen zu kennen und in von mir verfassten oder mündlich geäußerten Texten zu nutzen, die mir durch Synonyme gegeben sind, egal, ob es in einer alltäglichen E-Mail, während einer beruflich gehaltenen Präsentation, in einem Gespräch oder in einem zur Veröffentlichung vorgesehenen Beitrag geschieht. Ebenso aufmerksam beobachte ich Wortwahl und Formulierungen in allem, was ich anderswo lese oder höre: Werbetexte, Nachrichtenmeldungen, Zeitungen und Zeitschriften, Blogbeiträge, Social-Media-Postings und -Kommentare oder bei Texten in Büchern. Und manchmal habe ich bei der Wahrnehmung von Texten und Formulierungen genau dasselbe Gefühl wie bei der anfangs geschilderten Wanderung. Plötzlich bleibe ich im an mir vorbeilaufenden Text an etwas hängen, das mich innehalten lässt und davon abhält, den nachfolgenden Worten in ungestörtem Fluss zu folgen. Manchmal sind es Veränderungen, die in der (Umgangs)sprache mit der Zeit unausweichlich entstanden und die ungewohnt oder störend wirken. Viele Ausdrücke, Regeln und Vokabeln haben sich gewandelt, seit ich damit begann, Sprache zu erlernen und bewusst zu gebrauchen. Ich habe die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 erlebt sowie deren Überarbeitungen in den Jahren 2004 und 2006. Der neue Gebrauch von »ß« und »ss« ist mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen, aber ich möchte z.B. immer noch lieber »Portemonnaie« schreiben, weil das so viel schöner aussieht als »Portmonee«. Ist ja auch erlaubt. Gefühlt steht im Duden sowieso bei jedem zweiten Fall, dem ich bei Sprachzweifeln hinterhergoogle, »kann man so schreiben, kann man aber auch so schreiben«. Dann such’ ich mir eben das aus, das mir am meisten pläsiert.
Im Job werde ich oft gebeten, Texte von Kollegen zu lektorieren, weil ich das recht gut hinbekomme und mir Auffälligkeiten und Unrichtigkeiten im Text schnell ins Auge springen. Ich war schon immer eher ein praktischer Sprachnutzer, kein theoretischer. Mir fällt es leicht, Formulierungen hinzuschreiben wie »das Talent, dessen materielle Vorzüge auszukosten ihm in den folgenden Jahren vergönnt war«, aber ich zucke ratlos mit den Schultern, wenn mich ein in der Theorie versierter Deutschprofi fragen würde, wie diese zu benennen wären. Plusquamperfekt, Präteritum, Partizip, Futur zwei – keine Ahnung, lasst mich einfach hier sitzen, schreiben und reden.
Da ich viel im Internet lese, fallen mir auch oft Tipp-, Schreib- und Formulierungsfehler auf, die in allerlei Postings vorkommen. Da bleibe ich ebenfalls oft hängen, aber im privaten Umfeld finde ich es unangemessen und schulmeisterlich, darauf zu reagieren und verkneife es mir z.B., eine (wie freundlich auch immer formulierte) Nachricht an die Verfasser*innen zu versenden, um z.B. auf eine Formulierung wie »diese Freiheit hat seinen Preis« in einem Posting oder einem Blog hinzuweisen. Aber das Brombeergefühl beim Lesen kann ich trotzdem nicht abschalten (Anm.: Wer hingegen in diesem Text sprachliche oder grammatikalische Fehler findet, darf mich gerne darauf hinweisen).
Betrüblicher ist es, in Werbetexten solche Schnitzer vorzufinden, die ja zumeist mit dem Ziel erstellt wurden, die lesenden Menschen zum Geldausgeben zu bewegen. Da sollte man doch eigentlich verlangen können, dass die dafür verantwortlichen Mitarbeiter*innen sich entweder selbst ein bisschen mehr Mühe geben, korrekte Texte abzuliefern oder, wenn sie dies selbst nicht können oder wollen, jemanden damit beauftragen, diese professionell oder sachkundig zu lektorieren. Sehr viele der auffälligen Fehler in Texten wirken überdies wie Flüchtigkeitsfehler. Schnell etwas in die Tastatur gehauen und auf »veröffentlichen«, »drucken«, »senden« oder »produzieren« geklickt, ohne sogar kurze Texte oder einzelne Zeilen zuvor noch einmal querzulesen. In meinem sporadisch gepflegten Tumblr-Blog »Pfuschmuseum« habe ich einige dieser Stilblüten gesammelt. Da denke ich dann immer: Wenn ich als Kunde derart schlampig umworben werde, wieso sollte ich dann der Behauptung der Werbetreibenden Glauben schenken, dass mein Wohlergehen oder mein Nutzen im Fokus ihrer Bemühungen um mein Interesse und meinen Kaufimpuls stehen und nicht bloß mein Geld? Bestimmt fallen von solchen Produkten bald irgendwelche Teile ab, die Bedienung der Anschaffungen ist unerfreulich oder die geplante Obsolenzenz der Waren haucht einem schon beim Unboxing aus dem Karton entgegen.
Update (07. März 2024): Neue Stilblüten aus der Echtzeit-Werbepfuscherei.
Am meisten jedoch schmerzen mich solche Fehler in vermeintlich professionell betriebenen Informations- und Nachrichtenmedien. Zumindest einen Teil meiner Rundfunkgebühren, die ich gerne bezahle oder des Geldes, das ich in Printmedien oder Online-Abonnements investiere, würde ich neben Produktions- und Personalkosten gerne in einem sprachlichen Qualitätsstandard angelegt sehen, der mich beim Konsum nicht schmerzhaft zusammenzucken lässt. Früher™ gab es bei der ARD-Tagesschau Chefsprecher wie Karl-Heinz Köpcke oder Werner Veigel, denen die sprachliche Sorgfalt und Korrektheit der verlesenen Texte ein persönliches Anliegen waren. Ganz ohne Krückstockfuchteln möchte ich hier ein wenig wehmütig zu Protokoll geben, dass ich diese Hingabe bei vielen Sendern oder Medien zunehmend vermisse. Sicherlich sind in Zeiten digitaler Medien und zusätzlich zu betreibender Social-Media-Kanäle ungleich mehr Mitarbeiter als damals damit betraut, Meldungen und Texte auf den verschiedensten Plattformen zu erstellen oder einzupflegen. Aber auch hier habe ich eine ähnliche Wahrnehmung wie bei den zuvor erwähnten lieblos lektorierten Werbetexten: Wie soll bei mir ein Gefühl von Vertrauen, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit gegenüber dem Absender entstehen, das mir vermittelt, dass Berichte und Fakten (insbesondere im ÖRR) sorgsam recherchiert, bewertet, eingeordnet und aufbereitet wurden, wenn selbst kurze, auf einen Blick erfassbare und vor der Veröffentlichung eigentlich innerhalb von Sekunden noch einmal problemlos prüfbare Textschnipsel derselben Instanz bereits Fehler enthalten? Ich zumindest muss mich dann schon manchmal zwingen, derlei auf die leichte Schulter zu nehmen, obwohl es eigentlich nur Kleinigkeiten sind.
Ob ARD oder ZDF – hier bekleckert sich keiner mit Rum …
Wieder eine andere Kategorie sind allmähliche Änderungen der geschriebenen oder gesprochenen Sprache, die sich »basisdemokratisch« entwickeln und allmählich im Alltag und in der Sprachgemeinschaft ausbreiten. Gegenüber dem abfällig als »Deppenapostroph« oder »Deppenleerzeichen« bezeichneten Phänomen des Bindestrichmangels bzw. Hochkommaüberschusses bin ich mittlerweile schon abgestumpft und denke, derer ansichtig, zwar nicht »macht nicht’s«, aber immerhin »was soll’s?«. Weh tut mir allerdings immer noch der ebenso innovative wie inkorrekte schriftliche Gebrauch des mit Apostroph abgekürzten unbestimmten Artikels »ein« zu »’nen«. Wenn also beispielsweise jemand schreibt, »ich hole mir jetzt ’nen Bier«, reißt mir das brombeermetaphernmäßig im Vorbeilesen schon ein erkleckliches Loch in den Sprachmantel und ich verspüre ein spontanes Bedürfnis nach stärkeren Alkoholika. Die unbekümmert ins Deutsche übertragene Übernahme englischer Redewendungen ist auch so ein Thema. Da lese ich z.B. »Geheimdienste existieren literarisch um im Geheimen zu operieren« und kann mich zwar noch ein bisschen darüber freuen, dass das Wort immerhin noch als treffendes Synonym für »buchstäblich« verwendet wurde (oft genug nämlich auch für »tatsächlich«/»in der Tat« und dann lese ich Sätze wie »ein Flug nach Malle kostet manchmal literarisch 30 Euro«), aber mein innerliches Seufzen lässt mich dennoch kurz erbeben. Auch wenn jemand schreibt, er/sie habe Magen-Darm und muss nun »ein Antibiotika« nehmen, oder von einem Restaurantbesuch berichtet wird, bei dem »Scampis« und »Espressos« genossen wurden, verursacht dies ein leichtes dorniges Zupfen beim Durchfliegen des Textgewebes. Aber »macht es Sinn«, sich darüber aufzuregen? Nein. Mit diesen Störgefühlen muss man als Sprachopa zu leben lernen. Hauptsache ist doch, man versteht noch einigermaßen genau, was der oder die Absender*in damit sagen möchte (dabei muss ich gerade an die Szenen mit der allzu wortgewandten Shakespeare-Figur in der ZDF-Comedyserie »Sketch History« denken). Und mich selbst zwingt ja niemand, auf dieselbe Weise zu »senden«, in der ich »empfange«.
Eine andere populäre Erscheinungsform aus dem Englischen herüberdiffundierter Seltsamkeiten sind die Anglizismen. An sehr viele habe ich mich, wie alle, inzwischen gewöhnt, wie etwa »Meeting«, »Event«, »sharen«, »faven« und und und. Einige würde ich aber aufgrund ihres ebenso prätentiösen wie mehrwertfreien Gebrauchs gerne seltener lesen. So steht zum Beispiel auf dem Kassenzettel, den die Selbstscanterminals meines lokalen REWE-Marktes auswerfen, dass man den Bon unbeding mitnehmen solle, denn den aufgedruckten QR-Code benötige man zum Öffnen des »Exit-Gates«. Ich hätte einfach »Ausgangsschranke« gesagt, aber naja. Im Job streiche ich sehr gerne und beherzt das Wort »inkludiert« aus Texten, die mir zur Durchsicht vorgelegt werden und schreibe ein »beinhaltet« an seine Stelle, ich verstaubter Rebell. Es gibt noch einige weitere dieser Kandidaten, die einen Text zwar womöglich sehr contemporary klingen lassen, aber ihm oft genug nicht nur keinerlei hilfreiche Bedeutungsnuance hinzufügen, sondern ihn im Gegenteil weniger verständlich machen. Die Messlatte für diese Art des Sprachgebrauchs, der insbesondere in der Kreativszene sehr beliebt ist, hat seinerzeit die Modeschöpferin Jil Sander gesetzt. Dieses Zitat ist aus meiner Sicht bis heute unerreicht:
»Ich habe vielleicht etwas Weltverbesserndes. Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muss Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils.«
via Wikiquote | Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 1996, zitiert im SPIEGEL 01.04.1996
Ein paar sprachliche Gepflogenheiten jedoch habe auch ich mir angewöhnt bzw. selbst »verordnet« und versuche, diese zu befolgen, wenn ich schreibe oder rede. Weil ich es bei anderen nicht so gerne mag, wenn sie beim Reden übermäßig häufig »Ähs« oder »Öhs« einfügen (noch schlimmer finde ich es bei einem öffentlichen Vortrag), vermeide ich dieses »Stoibern« bei mir selbst so weit wie möglich. Auch Füllwörter wie »im Prinzip«/»prinzipiell«, »halt«, »eigentlich«, »irgendwie« fallen mir bei reichlichem Gebrauch in der Alltagskonversation sofort auf, deshalb achte ich auch bei mir darauf, sie möglichst zu meiden. Ich mag auch keine Abkürzungen, die der von mir sehr geschätzte Autor Max Goldt vermutlich als »affig« bezeichnen würde. Beispiele für diese Art Abbreviationen sind etwa die Verniedlichungen von Schulfächern mit »-i« wie »Reli« (Religion) oder »Geschi« (Geschichte) oder die Benennung von Urlaubszielen wie »Malle« (Mallorca), »Fuerte« (Fuerteventura), »Domrep« (Dominikanische Republik). Es will mir einfach nicht über die Zunge.
Edit (02.03.2024): Mir sind nachträglich noch drei weitere Wörter bzw. Wortanwendungen eingefallen, die ich meide, weil ich sie nicht mag. Man trifft sie allesamt recht häufig auf Social-Media-Portalen an. Wenn z.B. ein Kommentator einem Posting widersprechen möchte, beginnt eine derartige Widerrede oft mit »Sorry, aber …«. Wenn ich persönlich den Impuls verspüre, jemandes Äußerungen nach meiner Kenntnis faktisch richtigzustellen oder stichhaltige Argumente vorzubringen, warum ich anderer Meinung bin, wieso sollte ich mich dafür entschuldigen? Klingt aus meiner Sicht unnötig devot und entspricht auch zumeist nicht meinem momentanen Gemütszustand, während ich meine Gegenrede eintippe. Das zweite Wort tritt immer am Ende einer Gegenargumentation auf und zwar in Form eines Ein-Wort-Satzes. Es lautet »Punkt.«, manchmal auch »Punkt!«. Die schreibende Person möchte damit ihre zuvor gemachten Äußerungen offenbar mit einer Art Unfehlbarkeitssiegel versehen. Ich muss dann immer an das »Basta!« denken, mit dem meine Eltern früher manche meiner kindlichen Quengelkaskaden einzudämmen versuchten. Bei Eltern funktioniert so etwas womöglich noch aufgrund des natürlichen Autoritätsgefälles, zwischen Erwachsenen im Netz finde ich es eher ein bisschen lächerlich. Wenn man gute Argumente hat, ist dieser Abbinder obsolet und bei Menschen, die per se überzeugungsresistent sind, ist dieses nachgeschobene Wörtchen sowieso wirkungslos. Das dritte Wort ist wieder ein Einleitungswort. Manchmal beginnen wohlmeinende Kommentatoren ihre Agumentation an ein komplett kontrovers gesinntes Gegenüber mit »Liebe(r) …,«. So zum Beispiel »Liebe AfD/FDP/CSU/SPD, …«, wenn die schreibende Person nachfolgend ausführen möchte, warum sie mit den politischen Plänen oder Maßnahmen dieser Partei vollumfänglich unzufrieden ist. Ich frage mich dann immer, welchen Zweck diese Anrede haben soll. Gewiss kann ich davon ausgehen, dass tatsächlich wenig echte Liebe für die Angesprochenen im Herzen der Kommentierenden wohnt, wenn die Ansichten derart gegensätzlich sind. Das schließe ich zumindest aus meinen eigenen Gefühlen, wenn mir eine derartige Entgegnung in den Tippfingern brennt. Überflüssig, zweckfrei, inadäquat, diese Huldrampe lasse ich daher ebenfalls gerne bewusst weg.
Gerne hingegen nutze ich »veraltete« Wörter, das tue ich jedoch nicht, um zu »posen«, sondern entweder, A) weil sie bzw. ihr Klang mir gefallen, weil ich es B) schade fände, wenn sie aussterben würden, weil sie C) in einem Bereich, in dem ein Wort mangels Alternativen mir komplett abgenutzt und ausgewrungen erscheint, trotz ihrer vermeintlichen Altbackenheit ein frisches Synonym darstellen oder D) weil sie tatsächlich eine neue Bedeutungsebene einbringen, die andere Wörter m.E. nicht haben. Einige Beispiele:
für A): famos, dergleichen, derlei, indes, obgleich, apart, fulminant, kapriziös
für D): flanieren (für eine gewisse Art des Gehens besser geeignet als »spazierengehen«, »schlendern«, »gehen«, »bummeln« oder »wandern«); indisponiert, unpässlich (manchmal zutreffender als »krank«, »angeschlagen« oder »malade«)
Wichtig ist mir, dass ich keineswegs etwas dagegen habe, dass Sprache sich wandelt. Im Zuge aktueller Ereignisse wie der Corona-Pandemie oder neuer technischer Errungenschaften entstehen haufenweise schöne, bunte, treffende neue Wörter – dazu habe ich in einem anderen Blogbeitrag bereits etwas geschrieben (und auch auf einige der o.g. Wörter verwiesen). Ich sammle viele neue Wörter, die mir im Alltag und im Netz begegnen, teils ebenfalls hier im Blog, teils auf meinem Mastodon-Zweitaccount @wortgeburt. Das ständige Fließen der Sprache ist etwas Wunderschönes. Wichtig finde ich aber, und da hallt in meinem Kopf eine kürzlich geäußerte Aussage des aktuellen Wirtschaftsministers Robert Habeck wider, dass Sprache Wirklichkeit schafft. Sprache (und Wortwahl) sollte(n) nicht nur eine möglichst unmissverständliche Kommunikation möglich machen, sondern jede(r) Sprechende sollte sich bewusst sein, dass seine oder ihre Äußerungen auch unbewusst das Gegenüber oder die Leser – manchmal sogar unbeabsichtigt bzw. gegen den Willen der sprechenden Person – beeinflussen oder brüskieren können. Mit Sprache drücken wir nicht nur aus, sondern wir präzisieren oder vernebeln, engen ein, bewerten, werten auf oder ab, zollen oder verweigern Respekt. Auch deshalb versuche ich nicht nur ein passiver Beobachter von Sprache im Alltag zu sein, sondern die Erkenntnisse, die ich aus meinen Beobachtungen ziehe, auch in meinen eigenen Sprachgebrauch einfließen zu lassen oder diese im eigenen Umfeld, in Blogbeiträgen oder Social-Media-Postings zu thematisieren.
Als ich z.B. neulich kurz nacheinander einen Doris-Day-Film als auch den Historienschinken »Cleopatra« mit Elizabeth Taylor sah (beide in deutscher Synchronisation) fiel mir wiederholt auf und ich erinnerte mich daran, das schon häufiger wahrgenommen zu haben, wie viele der männlichen »hochgestellten« Charaktere (vorzugsweise jüngere) Frauen mit »mein Kind« ansprechen. Bei Cleopatra konnte ich eine der betreffenden Szenen im Netz in der englischen Originalfassung ausfindig machen. Dort spricht Cäsar die Königin mit »young lady« an, weit weniger despektierlich, aber immer noch herablassend genug. Und so ist es in Filmen bis in die 1970er Jahre hinein sehr oft üblich, so reden Chefs mit Sekretärinnen, Professoren und Lehrer mit erwachsenen Schülerinnen oder Studentinnen, Ärzte mit Krankenschwestern, Forscher mit Assistentinnen. Ich nehme das wahr und es ärgert mich als Zuschauer, es beschämt mich nachträglich als Mann gegenüber den damals so angesprochenen Frauen ebenso wie gegenüber denen, die sich heutzutage diese Szenen ansehen und ich bin froh, dass diese Ära mitsamt ihres Sprachgebrauchs und dieser anmaßenden Attitüde (hoffentlich) ein für allemal überwunden ist. Will ich diese Filme deshalb neu synchronisieren oder nicht mehr ansehen? Nein, ich wünsche mir nur, dass bei künftigen Filmen mehr sprachliche Achtsamkeit waltet. Es kann meiner Meinung nach durchaus sinnvoll sein, die ursprünglichen »alten« Versionen sprachlich überkommener Werke – vielleicht mit einem erläuternden Vorwort oder Fußnoten – in Umlauf zu belassen, um nachfolgenden Generationen gezielt bewusst zu machen, dass sich im Laufe der Zeit ein Wandel zu einem respektvolleren und achtsameren Sprachgebrauch vollzogen hat und nicht alles immer schon so nuanciert, subtil, fair oder inklusiv war, wie sie es zu ihren Lebzeiten beim Lesen und Schreiben gewohnt sind oder gelehrt bekommen.
Ich weigere mich überdies, mir den Begriff »woke« wegnehmen oder zu einem Schmähwort umdeuten zu lassen, der (unter anderem) genau diese Art der Achtsamkeit bezeichnet. Ich will bemerken, wo Sprache missbräuchlich, respektlos, abwertend, diskriminierend oder ausgrenzend benutzt wird und versuche gerne nach Kräften, mich diesbezüglichen Wandlungen und Änderungswünschen anzupassen. Es schert mich keinen Deut, wenn sich Begriffe für Schaumküsse oder pikant besoßte Schnitzel deshalb ändern sollen, denn sie schmecken doch hinterher nicht anders als vorher. Begriffe für Gegenstände, Anreden, Eigenschaften, Unternehmen, Seelenzustände, Produkte, Lebensmittel, ändern sich unentwegt, seitdem der erste Mensch den Mund aufgemacht hat. Aus dem Lenz wurde der Frühling, aus dem Turnschuh der Sneaker, aus dem Generaldirektor der CEO, was heute »geil« ist und Begeisterung und/oder die Libido weckt, wucherte früher im Garten durch den Zaun rüber zum Nachbarn. Und Sprache ist ja auch nicht das Einzige, das sich in unserem Alltag verändert – inzwischen ist es ja durchaus normal, dass man mit Telefonen fotografieren, mit Fernsehern sprechen, mit Uhren bezahlen oder seinen Staubsauger fernsteuern kann.
Sprache ist, finde ich, wie eine große Party und nicht alles, was passiert, ist steuerbar. Einige Gäste sind eingeladen, andere nicht, manche wollten nicht kommen, andere kommen, obwohl sie nicht eingeladen wurden, einige müssen leider früher wieder gehen, andere bleiben, obwohl man sie lieber loswerden würde. Über einige der Geladenen freut man sich, andere kann man nicht leiden und wieder andere sind einem komplett egal. Mit manchen unterhält man sich gerne, anderen geht man aus dem Weg. Es gibt neue Gesichter und alte Bekannte, freudige Wiedersehen und verschrobene Fremde. Man muss ein bisschen aufpassen, dass nichts Wertvolles kaputtgeht und dass niemand zu Schaden kommt. Es kann mal etwas lauter werden und vielleicht beschwert sich jemand über das Treiben. Manche Feiernden versuchen den DJ zu überzeugen, ausschließlich Songs nach ihrem Geschmack zu spielen, einige haben sogar eigene Tracks mitgebracht, es gibt Leute, die tanzen zu allem, was gespielt wird und einige sitzen lieber am Rand der Tanzfläche und quatschen. Man sollte etwas aufpassen, was man selbst konsumiert, welche Inhaltsstoffe sich darin verstecken und was man anderen anbietet oder einschenkt, denn das kann einerseits lustig und harmlos sein, aber auch mit Übelkeit, Kopfschmerzen oder anderen schädlichen Folgen einhergehen. Warum sollte man als Gast eine(n) der Mitfeiernden überreden, exakt so zu feiern wie man selbst? Wichtig ist doch, dass jeder auf seine Weise Spaß hat und alle ein bisschen darauf achten, dass die Location bewohnbar bleibt und nichts gewaltsam eskaliert oder gar in Brand gesetzt wird.
Eine Frau, dich sehr dafür verehre, wie sie die die deutsche Alltagssprache auf witzige, kluge und phantasievolle Art geprägt und verändert hat: Erika Fuchs, die langjährige deutsche Übersetzerin der »Lustigen Taschenbücher« Walt Disneys. Foto: Selbst geknipst in der Ausstellungsräumen des Erika-Fuchs-Hauses in Schwarzenbach/Saale.
Gestern habe ich mich gefreut. Mit der Post kam ein gepolsterter Umschlag aus Dänemark an. Darin befanden sich zehn Tafeln einer meiner liebsten dänischen Schokoladensorten.
Wenn ich Lebensmittel kaufe, beschwere ich mich nicht immer, wenn ich zu Hause bei der Verarbeitung oder vor dem Verzehr bemerke, dass etwas damit nicht stimmt. Das liegt auch daran, dass ich an der Kasse beim normalen Supermarkteinkauf ein notorischer Bonverweigerer bin. Ich habe schon genug Geraffel im Portemonnaie: Kleingeld (insbesondere die unnützen Kupfermünzen), Scheine, Abholbelege für die Reinigung oder die Änderungsschneiderei, die eine oder andere Visitenkarte und natürlich Dutzende Plastikkarten: Kreditkarte Büro, Kreditkarte privat, Maestrokarte Büro und privat, Bonuskarte hier, Kundenkarte dort, BahnCard, Führerschein, METRO, diesdas. Ich nehme schon gar keine mehr an und hoffe sehnsuchtsvoll, dass die Plastikkartenmafia bald für all diesen Polymerballast eine Digitalisierungsmöglichkeit bereitstellt. Ich war hochentzückt, als ich neulich merkte, dass man an modernen Geldautomaten mit der NFC-Funktion des Handys eine darin gespeicherte Bankkarte zum Geldabheben nutzen kann. Das beschleunigt den inzwischen zwar seltener notwendigen, aber jedesmal enervierend umständlichen Prozess ungemein. Statt »Portemonnaie rausholen, Karte rausfieseln, Karte in Schlitz fummeln, die sekundenlangen Videorecordergeräusche aus dem Automaten abwarten, tippen, wählen, PIN eingeben, Geld rausholen, auf den Auswurf der Karte warten, Karte wieder ins Portemonnaiefach friemeln und es wegstecken« fallen so die ersten vier und die letzten zwei Schritte beim kontaktlosen Abheben einfach weg. Dit jefällt mer. Mitte der Neunziger noch war mein Portemonnaie nur halb so groß wie jetzt, doch über die Jahre musste ich mir beim verschleißbedingten Wechsel allmählich immer größere Geldbörsen kaufen, allein um die wachsende Zahl der Plastikkarten unterbringen zu können. Dabei habe ich sowas wie eine Paybackkarte oder Kundenkarten von Schuhgeschäften, Imbissen, Drogeriemärkten schon immer konsequent abgelehnt. Brauch ich nicht, will ich nicht, kann weg.
Aber zurück zum Gedankengang. Ich nehme oft keinen Bon an der Kasse mit. Dann stehe ich da zu Hause mit einem Blumenkohlkopf, der sich nach dem Aufschneiden innen braun und matschiggefault präsentiert oder mit einem Netz Mandarinen, in dem sich eine halb verschimmelte versteckt. Dann bin ich meist wenig geneigt, ohne Kassenbon extra noch mal zurück zum Laden zu gehen (der auch manchmal weiter weg liegt, wenn ich auf längeren Wegen durch die Stadt meine Besorgungen machte), dort glaubhaft zu machen, dass die Ware vor Ort gekauft wurde, daraufhin Ersatz oder Erstattung zu fordern und schließlich wieder zurück nach Hause zu fahren. Meistens entsorge ich das verdorbene Produkt, besorge mir in unmittelbarer Nähe ein neues und gut. Diesen Gleichmut pflege ich aber zumeist nur bei vergleichsweise preiswerten Waren. Würde ich bemerken, dass ein teures Biobrathähnchen oder ein Glas Edelpesto schon vor dem Kauf dem Verderb anheim fielen, würde ich natürlich reklamieren. Notfalls auch ohne Bon.
Während eines früheren Dänemarkurlaubs nun, hatte ich in einem dortigen Supermarkt eine Schokoladensorte entdeckt, deren Beschreibung sich spannend las, so dass ich eine Testtafel kaufte. 70% Kakogehalt, das entsprach schon mal meiner Grundvorliebe für dunkle Schokolade. Bio war sie, das ist ebenfalls begrüßenswert. Und »Coffee« stand auf der Packung, das fand ich zunächst zwar erst nicht so interessant, weil Kaffee als Schokoladenzutat gerne mal nur als in die Schokolade gerührte Flüssigzutat, als Aroma oder in irgendwelchen pastos-vertrüffelten Füllungen daherkommt, was ich alles nicht so gerne mag. Doch auf der Rückseite stand »ØKOLOGISK MØRK CHOCOLADE MED FORMALET KAFFE«, also »BIO-BITTERSCHOKOLADE MIT GEMAHLENEM KAFFEE« (10%, das ist nicht ohne). Und diese Angaben machten mich neugierig, denn der Kaffee schien hier sensorisch noch spürbar als feines Granulat beigefügt zu sein. Spannend. Mochte ich doch schon immer gerne die herben schokolierten gerösteten Kaffeebohnen, die man in manchen Restaurants zwecks Rechnungsversüßung beigelegt bekommt und die so schön krachen beim Zerbeißen. Und tatsächlich fiel der Test des herben Naschwerks ausgesprochen angenehm aus. Feine, nicht zu säuerliche dunkle Schokolade, die beim Schmelzen im Mund die feinen Kaffeepartikel freisetzte. Vor der Abreise nahm ich einige Tafeln mit zurück nach Deutschland und so hielt ich es auch bei den seither folgenden Urlauben in Dänemark. Auch beim letzten Jahresendurlaub 2023/24 in der Nähe von Nørre Nebel in Westjütland, dem Ort, wo mein Mitnehmseleinkauf in der Filiale der Marktkette »Super Brugsen« erfolgte.
Wieder zu Hause, verschenkte ich von den vier mitgebrachten Tafeln zwei an einen Freund, der während des Urlaubs meinen Wohnungsschlüssel verwahrt hatte, die anderen beiden behielt ich. Kurz darauf erhielt ich von dem Beschenkten ein Foto geschickt, mit der Schokolade stimme etwas nicht. Bei beiden Tafeln.
Daraufhin prüfte ich auch meine beiden Packungen. Und es war bei mir genauso. Die Tafeln waren innerhalb der Alufolienverpackung längs um etwa 20% »zusammengerutscht« (was man bereits von außen sehen und ertasten konnte) und wiesen auf der Oberfläche Bläschen und einen hellen Belag auf, als seien sie in der Packung leicht geschmolzen, hätten sich verformt und wären dann wieder erkaltet. Ich wusste, dass ich die Schokolade nach dem Kauf, auf allen Transportwegen und bei jeder Lagerung trocken und kühl verwahrt hatte. Außerdem war es seltsam, dass die Längsrichtung der Verformung bei allen Tafeln identisch und seltsamerweise quer zur senkrecht aufgestellten Regalpräsentation im Supermarkt verlief. Sehr wahrscheinlich hatte die Ware also vor dem Einräumen ins Ladenregal bereits derart gelitten.
Man kennt es, dieses peinliche Gefühl, wenn man jemandem etwas fertig Verpacktes schenkt oder ihn/sie in ein Lokal einlädt und anschließend entpuppt sich das Geschenk als beschädigt, unbenutzbar oder ungenießbar oder der Gastronomiebesuch verläuft geschmacklich oder anderweitig katastrophal – alles außerhalb des eigenen Verschuldens, aber trotzdem fühlt man sich irgendwie mitverantwortlich und mitbeschämt. Deshalb beschloss ich auch ohne Bon und trotz der 350 km entfernten Bezugsquelle jenseits der Landesgrenze, einen höflichen Reklamationsversuch zu starten. Ich durchlief zunächst die Reklamationsprozedur auf der Website, deren Adresse auf der Verpackung angegeben war, die schwedische Mutterfirma »Coop«, welche die Produkte dieser Marke herstellt und/oder vertreibt und fügte auch Fotos bei. Man antwortete schnell und höflich aus Schweden, dass für Reklamationen in Dänemark der jeweilige Supermarkt der korrekte Ansprechpartner sei und auf der Website der Supermarktkette konnte ich tatsächlich im Nu eine spezifische Mailadresse für genau diese Filiale ausfindig machen. Ich kopierte meinen (englischen) Beschwerdetext in eine Mail, hängte die Bilder der entstellten Tafel an und wiederum erhielt ich schon am nächsten Werktag eine Antwort, direkt vom Marktleiter:
»thank you for your complain and the photos.
I just took a few samples from differents packages, and the result is unfurtunately the same as the choclate in the pictures.
I would be happy to sent you some new packages, but for now i will make a request to Coop Danmark about full quality control of this product in Coop Danmark. When i have new and fresh products in the shop i will sent you a package with new choclate.
I hope the solution will be fine for you :)«
Ich dankte freundlich, dass das in der Tat fine for me sei und erwartete nun eine ein- bis mehrwöchige Pause für die angekündigte interne Prüfung. Doch schon vier Tage später traf das Entschädigungspaket bei mir ein – mit zweieinhalbmal so viel Schokolade, wie ich ursprünglich gekauft hatte. Glücklicherweise liegt das MHD hinreichend weit spät in diesem Jahr und ich bin zudem von etlichen Menschen umgeben, die (dunkle) Schokolade ebenfalls schätzen.
Das war eine Serviceerfahrung, wie ich sie liebe. Und einmal mehr mag ich sie wieder insgesamt sehr, die Dänen.
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