Ich habe gerade eine Trauerkarte gekauft. Es wird viel gestorben in diesem und auch im letzten Jahr, aber das ist wohl unausweichlich. Der Preis des Älterwerdens inmitten geschätzter Mitmenschen, denen es vergönnt war, noch älter als man selbst werden zu dürfen, ist es nun mal, auf eine solche Häufung hinzuleben.
Tante Ingrid ist tot. »Tanti« habe ich sie genannt, noch bis ich Teenager war. Sie war die Frau von Mutters älterem Bruder, Herbert. Fast genauso oft wie bei meiner Oma väterlicherseits bin ich als Kind bei ihr und dem Onkel, der bereits 2018 starb, in den Schulferien im Südharz zu Besuch gewesen, auch weil die zweite Oma, Oma Gretchen, mit in ihrem Haushalt lebte. Tanti, die kleine, agile, zähe, unglaublich arbeitsame, empathische Frau, früh ergraut, mit ihrem hauchfeinen Damenbart über der Oberlippe. Tanti, bei der es im Sommer oft entweder mit Wasser verdünnten, selbstgemachten Waldmeistersirup zu trinken gab oder ein unfassbar süßes »Kindergetränk« aus Malzbier, verquirlt mit rohem Ei und extra Zucker(!). Tanti, in deren Deko-Kaffeemühle, die auf dem dreieckigen Wandbrett im Winkel der Eckbank stand, ich als Kind gesalzene Erdnüsse zu Pulver zermahlen durfte. Tanti, die ihre Mutter schon mit 7 Jahren durch Krankheit verlor und dann, wie in einem bösen Märchen, von der Stiefmutter, die der verwitwete Vater heiratete, bei vermeintlichem Ungehorsam mit einem eisernen Feuerhaken geschlagen wurde. Tanti, die mit 14 im Fleischerladen meiner Großeltern als Hilfskraft zu arbeiten begann und die sowohl meine Mutter als auch ich unser ganzes Leben lang kannten. Tanti, bei der die Makkaroni immer deutlich weicher als al dente gekocht waren, die aber mit Butter, Paniermehlbröseln und Ketchup unglaublich lecker schmeckten. Tanti, die mich und meine kleine Schwester in jenen Tagen bei sich aufnahm und uns mit »Mensch, ärgere Dich nicht« und anderen Spielen ablenkte, als mein Vater 100 km entfernt in der elterlichen Wohnung im Beisein meiner Mutter und meiner anderen Oma mit dem Krebstod rang. Tanti, über deren Beherztheit es die krasse Anekdote von einem Moment gab, als sie eine dicke Spinne, deren Netz sie hoch unter der Decke mit dem Besen beseitigt hatte, hinterher nirgends mehr finden konnte – nicht am Besen, nicht an der Decke, an der Wand oder auf dem Boden, und die dann, als sie plötzlich ein Kribbeln im Dekolleté spürte, nicht nachsah, was das wohl sein könnte, sondern es wusste und sich genau deshalb kurzerhand mit der flachen Hand kräftig aufs Brustbein schlug, damit Ruhe war. Tanti, die mir, als ich »groß geworden« war und sie aus Hamburg nur noch selten besuchte, gerade mal bis zur Brust reichte. Tanti, deren superkurze Telefonnummer mit nur drei Ziffern nach der Vorwahl ich bis heute auswendig kann. Tanti ist tot.
Sie wurde 92 Jahre alt, war geistig nach wie vor fit, in Anbetracht ihres Alters kerngesund und schlief wenige Tage nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus aufgrund leichter Atemprobleme friedlich tief in der Nacht ein, während ihre Schwiegertochter ihre Hand hielt. Ein langes, oft hartes Leben. Ein sanfter Tod. Und viele schon fast verblasste Erinnerungen, die plötzlich wieder bunt werden.
Vor etwa 2–3 Wochen bemerkte ich an meiner linken Schulter in der Nähe der Achselhöhle einen rotvioletten Fleck. »Oh, ein Bluterguss«, dachte ich beiläufig, denn ich bin diesbezüglich extrem empfindlich. Ein leichter Stüber an einer Schrankkante oder eine etwas schwerere Reisetasche mit Trageriemen geschultert und schon erblüht an der Kontaktstelle ein vielfarbiges Hämatom. Nach einigen Tagen ändert sich dann die Farbpalette von Bordeaux und Purpur über Violett- und Blautöne hin zu Olivgrün und Braun und dann verblassen die Stoßmale allmählich. Nicht so diesmal. Das runde Gebilde hielt sich hartnäckig und schien sich zudem ganz langsam gelichmäßig auszudehnen. Das machte mich misstrauisch und ich suchte im Netz auf seriösen Medizinseiten nach Indizien dafür, was das wohl sein könnte. Die plausibelste Erklärung mit begleitendem, meinem Phänomen frappierend ähnlichem Bildmaterial, war eine sogenannte »Wanderröte« nach einem Insektenstich oder -biss (z.B. Mücke oder Zecke), die auf eine beginnende Infektion mit Borrelien hindeutet. Gegen FSME habe ich mich vorsorglich impfen lassen, da ich fast an jedem Wochenende in der Natur herumwandere, aber bei Borrelien ist das leider nicht möglich. In meinem entfernten Bekanntenkreis gibt es eine Person mit Frühverrentung aufgrund einer zu spät erkannten, eskalierten Borreliose, daher weiß ich: damit ist nicht zu spaßen. Also galt es, mir hier im Moselland, wo ich derzeit mit dem Mann auf Reisen bin, spontan einen Arzt zu suchen und zu hoffen, ohne Termin zur Begutachtung vorgelassen zu werden. Freitag. Das Wochenende stand vor der Tür. Ich fuhr in die nächstgrößere Stadt und suchte die erste der zuvor recherchierten Praxen auf. Fehlanzeige. Wartezimmer voll, das Empfangspersonal und die Ärzte spürbar über Kapazität. Aber man verwies mich dennoch sehr freundlich an die Praxis im selben Gebäude eine Etage höher. Dort am Empfang wurde ich tatsächlich sofort vorgelassen, die MFA erwartete nämlich in Kürze die letzte Abholung von Blutproben durch den Laborkurier und gewährte mir Vortritt, damit eine eventuell zu entnehmende Probe noch eine Chance hätte, im Labor anzukommen. Die Gesundheitskarte wurde eingelesen und ich durfte gleich durchgehen. Sehr nett.
Der behandelnde Arzt, der mich sodann in sein Sprechzimmer bat, ein betagtes, vermutlich kurz vor dem Ruhestand stehendes Urgestein, fragte nach meinen Beschwerden und stimmte dann nach Ansicht der Hautverfärbung meiner eigenen Vermutung zu. Sowohl an mich gewandt als auch mit einem Finger Daten zur Behandlung in seinen PC eintippend, murmelte er unentwegt vor sich hin: »Dasjan Bild wie aus dem Lehrbuch, keine Frage, schreibichihn’ was auf, Andibjodikum, Blutprobe brauchmanich, isja sonnklar. Amoxicillin oder Doxycyclin, nehmse zehn Tage lang, nee, besser zwei Wochen. Morngsunahms ne halbe, nehmwer die Zweihunderter, die könnse teilen. Wieviel sind’n da in der Packung? Ah, zwanzich, das reicht auf jeden Fall, danach sollten die Biester weg sein …«. Er erhob sich und geleitete mich zurück zum Empfangstresen, wo ich erwartete, ein papierenes Rezept ausgehändigt zu bekommen, zumal Arzt, MFA und ich direkt neben dem Drucker standen. Doch auf einmal sah mich die Assistentin an und sagte »Wir sind dann fertig.« – »Und mein Rezept?« – »Das ist schon auf Ihrer Karte. Elektronisch.«
Wow. Mein erstes E-Rezept. Und das in einer Praxis, in deren Ambiente, Arzt und Einrichtung sich sogar ein Nadeldrucker noch absolut stimmig eingefügt hätte. Ich war beeindruckt. Alle Achtung, Herr Lauterbach. Ich behielt die Karte gleich in der Hand, denn im Erdgeschoss des Ärztehauses hatte ich beim Hineingehen bereits eine Apotheke bemerkt. Vielleicht war das verordnete Medikament ja dort vorrätig und ich könnte mein digitales Rezept dort gleich einlösen.
Die Apothekerin nahm nach Hinweis auf das e-Rezept die Karte entgegen und las sie in ihr Terminal ein. Dann drückte sie auf einige Tasten und seufzte. »Das schon wieder!«, stöhnte sie. »Was denn?« fragte ich »Haben Sie das Mittel nicht da?« – »Doch, schon. Ich sehe es hier im System, haben wir vorrätig, aber ich kriege Ihr Rezept nicht von der Karte in die Kasse, so kann ich es nicht einbuchen. Aber ich probiere noch mal was anderes. Es gibt da verschiedene Wege, wie das gehen kann.« Sie tippte auf der Tastatur herum. Eine andere Apothekerin, die nebenstehend die Komplikation mitbekommen hatte, mischte sich ein. »Willer wieder nich?«, fragte sie. Die andere nickte. »Wenn du den Eintrag auf der Karte sehen kannst, dann druck den doch aus. Da ist dann ein QR-Code drauf und den kannst du den einscannen. So klappt das dann bei mir meistens.« – »Ich guck’ mal«, sagte die andere und tippte weiter. Sie nahm die Karte aus dem Schlitz heraus und führte sie erneut ein »Das ist SO umständlich!«. Ich teilte ihre Ernüchterung. »Da wären wir mit einem Papierrezept schon weiter«, sagte ich. »Allemal.«, antwortete sie, »Aber ich versuche es jetzt noch mal hiermit …«. *tipp, tipp* »Ah, jetzt geht’s!« Die Kasse piepte und spuckte einen Beleg aus. Sie übergab mir die Tablettenschachtel, die im Hintergrund aus einem Lagerschacht gefallen war und ich zahlte. Elektronisch. Irgendwie hatte ich mir das Einlösen meines ersten e-Rezepts moderner vorgestellt. Beiläufiger. Eleganter. Reibungsloser. Wieso gibt es hierzulande so viele digitale Prozesse, die entweder zwingend eine Etappe mit einem Papierausdruck benötigen oder einen mühseligen Workaround, den die entnervten Nutzer aus Verzweiflung selbst ausgeknobelt haben oder einen Neustart zur elektronischen Zurechtweisung des genutzten Systems? Oder eine Kombination davon?
»Gute Besserung!« sagte die Apothekerin zum Abschied.
»Danke!« sagte ich. Mein aufrichtiges »Ihnen auch!« murmelte ich erst, als ich schon draußen war.
Symbolvideo: Man kann zwar oft erahnen, wie ein digitaler Prozess aussehen könnte, wenn er gekonnt implementiert worden wäre, aber angesichts der tatsächlichen Nutzererfahrung ist das nicht immer leicht.
In letzter Zeit häufen sich hier – so fällt mir auf – Beiträge, die man als »Rants« bezeichnen könnte. Allerdings mag ich das Wort, auch aufgrund seiner Definition (»leidenschaftliche und emotionale Wutreden«) nicht sonderlich gerne, es klingt mir als Überschrift etwas zu stumpf und zu emotional. Ich versuche lieber, über alltägliche Umstände, die mich nerven oder mit den Augen rollen lassen, mit einem Ideechen Abstand und einem Quentchen Spott zu bloggen, denn letztendlich soll der Output ja auch (gerne) gelesen werden. Humorlose Nölkaskaden möge man bitte anderswo suchen.
Viele Impulse zu meinem heutigen Thema liefern unter anderem suboptimale Umsetzungsversuche dessen, was gemeinhin »Digitalisierung« genannt wird. Sie sind für mich ein fast täglicher Quell des Stutzens und Brauenhebens. »Grund dafür ist«, würde die Ansagestimme der Deutschen Bahn nun einleiten, dass die Prozesse, in welche viele User dadurch verwickelt werden, zumeist … wie formuliere ich es? Denn »nicht richtig zuende gedacht sind« wäre falsch, denn sie sind sehr viel häufiger bereits gleich zu Beginn unfamos ersonnen. Mein häufigster Eindruck bei Abläufen, die nicht funktionieren* ist der, dass die »Konzepte« dahinter fast immer vier große Schwachpunkte aufweisen:
Die Abläufe wurden von Menschen erdacht, die entweder nicht willens oder in der Lage waren, sich vorher empathisch und kompetent in die Situation der späteren Anwender oder Nutzer der Prozesse hineinzuversetzen, so dass das Resultat zwar im besten Fall »auf dem Papier« funktionieren könnte, es aber in der Realität zumeist nicht tut.
Die Planer der Prozesse hatten hinterher entweder keine Zeit, keine Lust oder beides, ihre ausgetüftelte Lösung wenigstens einmal selbst, inklusive aller Optionen und Eventualitäten, zu durchlaufen, so dass an vielen Stellen Lücken, Fehler, Irritationen, Sackgassen und weitere Ärgernisse lauern, die bei einem gewissenhaften Testlauf eigentlich hätten auffallen müssen.
Die Gruppe der Prozessausdenker scheint sich generell nicht mit der Gruppe Menschen zu überlappen, die hinterher diesen Prozess nutzen oder auf ihn angewiesen sind (z.B. Menschen, die sich Abläufe für Zug- oder Buspassagiere ausdenken, aber selber ausschließlich Auto fahren). So bleibt ihnen nach ihrem Projekt jedwede ärgerliche Erfahrung mit den eigenen halbgaren Arbeitsergebnissen erspart.
Das Resultat ist eine derart unlogische, kontraproduktive oder verwirrende Abfolge von Handlungsschritten, dass der Prozess, der eigentlich zumeist initiiert wurde, um Dinge schneller und/oder einfacher zu machen, hinterher sämtliche Beteiligten mehr Zeit und Nerven kostet als vor der Einführung des neuen Ablaufs. Das ärgert zwar viele der so Gebeutelten, aber überraschend oft ist zu beobachten, dass dieser Ärger als notwendiges Übel des neuen »Systems« hingenommen wird, anstatt solche Dinge zu melden oder anderweitig auf eine Beseitigung an der Quelle hinzuwirken.
* Das betrifft übrigens nicht nur digitale Prozesse, sondern sehr oft auch analoge, wie z.B. die Wegeleitung auf Autoverkehrsstraßen, in Flughafengebäuden, an großen Bahnhöfen oder an Stationen sonstiger öffentlicher Verkehrsmittel. Insbesondere die Fahrgastlenkung zu Umsteigepunkten und Ausgängen ist häufig ein Graus.
Einige aktuelle Beispiele:
1. Vorgestern Abend suchte ich im Internet nach einem antiquarischen Buch. Nichts Besonderes, eine massenhaft gedruckte Anthologie mit Science-Fiction-Geschichten, irgendwann in den späten 1970er Jahren als Taschenbuch erschienen und auf vielen Gebrauchtbuchportalen zahlreich zu finden. Ich entschied mich für ein Angebot bei dem Portal ZVAB mit einem sowohl günstigen Buchpreis als auch moderaten Portokosten, legte das Werk in meinen digitalen Warenkorb und gab meine Adressdaten ein. Auf der nächsten Seite »Zahlungsmethoden« konnte ich frei wählen. Es gab die Optionen »Kredit- oder Debitkarte« und »Verkäufer direkt nach der Kaufabwicklung bezahlen (PayPal, Rechnung)«. Als ich »PayPal« anklickte, erschien der Hinweis »Der Verkäufer wird Sie innerhalb von 2 Werktagen nach der Bestellung kontaktieren, um die Zahlung zu vereinbaren«. Och nö, dachte ich, noch ’ne extra Kontaktaufnahme ist eigentlich überflüssig und klickte dann doch auf »Kreditkarte«. Die Eingabe der Daten ging problemlos und eine Bestellbestätigung traf ein (»Ihre Bestellung ist bei uns eingegangen und wurde an den Verkäufer weitergeleitet. Sobald die Bestellung durch den Verkäufer bearbeitet wurde, erhalten Sie eine Benachrichtigung per E-Mail«) und ich nahm an, es liefe nun alles automatisch weiter, bis ich das Buch in Empfang nehmen könnte. Doch nein – heute erreichte mich eine E-Mail des Verkäufers:
Hallo Bei einer Bestellung mit Kreditkarte kostet das 1,50 Euro Gebühren . Bei dem Preis des Buches ist das nicht wirtschaftlich , deswegen habe ich den Verkauf storniert .Falls Sie das Buch mit eigener Überweisung kaufen möchten , schicke ich Ihnen das Buch gerne auf Rechnung zu.
Oukayemeh … wieso erfahre ich das erst jetzt?, dachte ich. Es wäre doch ein Leichtes, den Bestellprozess so zu modifizieren, dass man als Kunde bei geringpreisigen Bestellungen zumindest schon auf der Zahlungsseite einen Hinweis darauf erhält, ähnlich dem »KARTENZAHLUNG AB ZEHN EURO«-Aushängen an immer noch so manchem realen Kassenhäuschen. Stattdessen bekommt jeder Besteller alle Zahlungsoptionen angeboten und der Verkäufer muss vermutlich öfter mal eine Bestellung stornieren, all diese Kunden auf den ungünstigen Umstand hinweisen, der Kunde muss eine E-Mail zurückschreiben oder das Buch nochmals im Shop bestellen und so weiter. Das erscheint mir verbesserungsfähig.
2. Gestern Nachmittag dann suchte ich den mir nächstgelegenen EDEKA-Markt auf, um noch einige Zutaten für einen Salat einzukaufen. Ich entschied mich für zwei lose Zucchini, einen Kopf Endivien und einen abgepackten Bund Dill. Zwei Produkte mit EAN-Barcode also, sowie Abwiegeware. Es gab eine lange Schlange an den Bedienkassen, aber die Sebstscan-Phalanx war kaum frequentiert. Ich hatte vor etwa zwei Monaten die Installation der SB-Kassenstationen im Laden mitbekommen. Eine ganze Riege Techniker und Installateure war an, hinter und unter den Elektronikmodulen mit der Aufstellung, Verkabelung und Einrichtung der Terminals beschäftigt und ich hatte mich damals schon gewundert, warum ganz am Ende des Bereichs, kurz vor der Ausgangsschranke, eine (eine!) Waage mit Etikettendrucker aufgestellt wurde. Seit heute weiß ich es. In einem REWE-Markt, den ich häufig besuche, nutze ich in Stoßzeiten oft und gerne die SB-Kassen, insbesondere bei kleineren Einkäufen. Sie sind schnell, intuitiv und leicht zu bedienen und in jeder Station ist eine Waage mit einem nutzerfreundlichen Obst- und Gemüsesuchmenü integriert. Ware auflegen, auf »Produkt suchen« klicken, die alphabetischen und bebilderten Warenkacheln durchscrollen – fertig.
Nicht so bei EDEKA. Als ich extra als Erstes zu der einzeln stehenden Waage ging und meine beiden Zucchini darauflegte, um ein scanbares Etikett für meinen folgenden Gang zur SB-Kasse zu drucken, fand ich kein Suchmenü vor. Stattdessen erschien auf dem Display eine Zifferntastatur mit der Aufforderung »Bitte geben Sie die vierstellige Zahlenfolge vom Preisschild am Warenregal ein«.
Nochmal oukayemeh … es hat also im konzeptionellen Traumland der EDEKA-SB-Kassenplaner wie folgt abzulaufen: Die Kundin oder der Kunde entnimmt in der Obst- und Gemüseabteilung lose Ware aus dem Regal und notiert sich (wo und wie auch immer) für jedes einzelne Wiegeprodukt die vierstellige Zahlenfolge von dem postkartengroßen Auszeichnungsschild am Regal, idealerweise mit der Bezeichnung des dazugehörigen Agrarprodukts, denn die Zahlenfolgen alleine wird niemand am Ende des Einkaufs wieder korrekt zuordnen können. Nach Ankunft an den Kassenstationen geht man dann zu der einzelnen Waage, die nicht am Eingang des Bereiches platziert wurde, sondern am Ausgang, um für seine Waren nacheinander die korrekten Zahlenfolgen einzutippen, alles einzeln abzuwiegen und die jeweils ausgedruckten Etiketten auf den Produkten, einer Tüte o.ä. anzuheften. Dann geht man wieder zurück zu einer (hoffentlich) freien SB-Station, denn hinter der abwiegenden Person wird ja ggf. weiter an den SB-Kassen angestanden und die Stationen können jederzeit von Kund*innen ohne Wiegeware besetzt werden. Ansonsten stellt man sich eben wieder irgendwo hinten an, immerhin mit seinen inzwischen ORRRDNUNGSGEMÄß abgewogenen Veggies. Sodann kann man alle EAN-codierten Waren einscannen, dazu das Potpourri der ausgedruckten Gemüseetiketten und schon ist man fertig. Mit den Nerven.
Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich frage: WER DENKT SICH SO EINE KRUDE ALBTRAUMSEQUENZ AUS? Ladendiebe? Menschen, die Butler oder Zofen haben, die sie zum Einkauf entsenden können? Bauern, die kein Obst und Gemüse einkaufen müssen, weil es bei ihnen auf dem Hof wächst? Ich bin ein wenig ratlos. Ein solcher Prozess wird ja vermutlich auch nicht von einer einzelnen Person ausgeheckt, sondern irgendjemand hat eine Idee, präsentiert die einem oder einer Vorgesetzten, in einem Teammeeting oder in einer Runde mit weiteren Projektpartnern und Dienstleistern. Und alle, die diesen Vorgehenshomunkulus aus Odysseus und Sisyphos präsentiert bekamen, sagten daraufhin »Ja, super. Perfekt! Machen wir so!« Oder was? Man weiß es nicht.
3. Ein drittes Beispiel ist das Tracking von Paketsendungen. Vermutlich kann inzwischen jeder ein buntes Potpourri an Anekdoten dazu erzählen. An sich ist die Möglchkeit zu einer Sendungsverfolgung eine tolle Sache. Manche Onlineshops oder Kuriere neigen zwar dazu, ihre Statusberichten ein wenig überzudifferenzieren (»Ihre Bestellung ist eingegangen« – »Wir haben Ihre Zahlung erhalten« – »Ihre Ware wird nun verpackt« – »Gleich wird Ihr Paket abgeholt« – »Ihr Paket ist nun auf dem Weg« – »Bald schon ist ihr Paket bei Ihnen« – »Ihr Paket ist in Ihrem Wohnort eingetroffen« – »Ihr Paket wird nun ins Zustellungsfahrzeug verladen« – »Ihr Paket kann es kaum erwarten, bei Ihnen anzukommen« …), aber man ist ja lieber reichlich als unzulänglich informiert. Meistens schleichen sich dann aber im Lauf der Transportkette »Glitches« ein, die zu berechtigtem Unmut führen. Letzte Woche etwa behauptete die DHL-Sendungsverfolgung, während ich zu Hause still und empfangsbereit auf ein avisiertes Paket wartete, es sei mir soeben persönlich zugestellt worden. Ich hatte mich aufmerksam beobachtet und kann mit Sicherheit sagen, dass ich vor dem Eintreffen dieser Meldung nichts getan hatte, was mir an mir aufgefallen wäre. Es hatte niemand geläutet, ich war nicht ohne mich zur Tür gegangen und ich hatte auch nicht von mir unbemerkt die Tür geöffnet. Es lag kein Paket vor der Wohnungs- oder Haustür, kein Paket im Treppenhaus, keins in der Nähe der Briefkästen. Ich fand keinen Benachrichtigungszettel zum Verbleib der Sendung in der Post und bekam keine nachträgliche Korrektur der Zustellbestätigung. Es ist befremdlich, wenn sich nach einer zuvor lückenlosen Kette elektronischer Statusmeldungen ein Paket quasi auf der Schwelle zum Ziel plötzlich dematerialisiert. Der analoge Bote hatte an diesem Punkt ganz offensichtlich einen Fehler in die digitale Prozesskette injiziert bzw. er war die Ursache des Fehlers. Also: Anruf bei der DHL Service-Hotline. Eine freundliche Mitarbeiterin nahm meine Reklamation auf und sagte, würde sich binnen der folgenden 3–5 Werktage niemand bei mir melden, solle ich eine Verlustmeldung beim Absender einreichen.
Als DHL mich – weiterhin paketlos wartend – zwei Tage später telefonisch erneut kontaktierte, wurden mir nicht etwa Neuigkeiten zum Verbleib meiner Sendung überbracht – nein, es war eine Mitarbeiterin aus dem Bereich Customer Relationship Management, die anhand einer recht umfänglichen Serie von Fragen meine persönliche Zufriedenheit mit dem DHL-Kundenservice abrufen wollte. Auch hier erschien mir der Zeitpunkt für einen solchen Anruf innerhalb der imaginären Prozesskette eher ungünstig. Ob die Mitarbeiterin bei der Aufnahme meiner Reklamation freundlich gewesen sei? Das schon. Ob sie mein Anliegen habe lösen können? Nein, keineswegs. Ob ich mit dem Ablauf des Telefonats zufrieden gewesen sei? Nein, denn trotz aller Zugewandheit und Akribie der Kollegin bei der Aufnahme gab es ja noch kein Wiedersehen mit meiner verschollenen Sendung. Ich vermute, bei kaum einer der so zur Servicequalität befragten Personen wird der Sendungsverlustfrust durch das empathische, aber fruchtlose Bemühen des Servicepersonals nachhaltig kompensiert.
Die Pointe war dann, dass ich in der Folgewoche über das Nachbarschaftsportal nebenan.de eine Mitteilung meiner Etagennachbarin erhielt, dass bei ihr ein Paket für mich seiner Abholung harrte. Sie hatte demnach auch den Empfang quittiert und war irgendwie als ich »im System« gelandet. Ich habe mich schon öfter gefragt, ob die ungelenken Kindergartenkringel, die Paketempfänger mit dem nackten Finger auf einem wackelig hingehaltenen, berührungsresistenten Tabletdisplay als vage Andeutung ihrer üblichen Unterschrift zu hinterlassen imstande sind, tatsächlich zur Dokumentation oder Legitimation taugen. Mir kamen auch schon Liefergeschichten zu Ohren, bei denen die Paketlieferperson ganz offensichtlich selbst unterschrieben hat, damit die tägliche Zustellquote erfüllt schien, tatsächlich wurde das Paket dann erst Tage später an die Empfänger*in übergeben. In jeder Postfiliale und in jedem Paketshop muss man zur Abholung seinen Personalausweis vorlegen – warum nicht auch an der Haustür? Wäre der Prozess zur Identifikation der Person, die eine Sendung annimmt, valide verifiziert und verlässlich dokumentiert, würden solche Verwechslungen, Verluste und Verzögerungen vermutlich deutlich seltener passieren.
4. In Ausübung meines Jobs besuchte ich kürzlich eine Landing-Page, an deren Fuß ein prominenter knallroter »Call To Action«-Störer mit einem QR-Code und der Aufforderung prangte, diesen zu scannen, um mehr Informationen zu dem beworbenen Produkt zu erhalten. Folgte man dieser Aufforderung, gelangte man exakt auf dieselbe Seite, auf der man sich ohnehin gerade befand. Die berufliche Diskretion gebietet mir, das Unternehmen hier nicht zu nennen.
Das ist er, der Gram mit den Prozessketten. Sie sind teils wunderbar smooth und lückenlos, enden dann aber plötzlich unvermittelt im Nichts, wie ein Fahrradweg in einer deutschen Großstadt. Oder sie enthalten zwar prinzipiell alle notwendigen Schritte, nur leider entweder angereichert durch etliche verzichtbare bis hinderliche Überflüssig- und Umständlichkeiten, oder sie sind in der komplett falschen Reihenfolge sortiert.
Es gibt einen Cartoon von Gary Larson (»The Far Side«), an den ich angesichts solcher Erlebnisse oft denken muss. Darin sitzt ein Cartooncharakter morgens nach dem Aufstehen auf der Bettkante und vor ihm prangt ein großes handgemaltes Schild mit der Aufschrift »Zuerst die Hose, DANN die Schuhe!«.
Der Witz dahinter ist womöglich weit weniger abwegig, als es zunächst scheint.
Ich muss noch mal was im weitesten Sinne zu Werbetexten schreiben, denn ich habe den Eindruck, dass sich ein Phänomen u.a. bei der Bewerbung oder textlichen Erläuterung käuflicher Dinge häuft. Aber auch in der Alltagssprache ist es zu beobachten.
Es ist schon gut anderthalb Jahrzehnte her, als ich per Radio Ohrenzeuge wurde, als ein Hörer an einem Live-Anrufquiz teilnahm. Es galt einige Fragen zu beantworten und es winkte irgendein vom Sender oder einem Werbekunden gestifteter Preis, sofern alle Antworten des Quizkandidaten richtig waren. Der Hörer schaffte es leider nicht, aber vom Moderator wurde ihm als Trostpreis ein Kugelschreiber zuerkannt. Zur Verabschiedung des Anrufers sagte der Radiosprecher dann »Viel Spaß mit deinem Kugelschreiber!«. Das habe ich mir gemerkt, denn ich fragte mich sofort, welcher Art der Spaß wohl sein könnte, den man mit einem Kugelschreiber – sowohl bei bestimmungsgemäßem als auch womöglich zweckentfremdeten Gebrauch – haben könnte. Ich ich gebe zu, hatte noch nie »Spaß« bei der Benutzung eines Kugelschreibers. Bisweilen nahm ich vielleicht wohlwollend zur Kenntnis, dass ein Kuli nicht schmierte beim Schreiben. Oder ich wertschätzte, dass der Tintenvorrat in der Mine ungewöhnlich lange vorhielt. Aber ich jauchzte niemals vor Vergnügen, weil das Metallbällchen gar zu geschmeidig übers Notizblockpapier glitt, hielt nie entzückt inne, weil die Tinte so vorbildlich viskos zu einer Schreibspur kanalisiert wurde oder erbebte vor Lust, weil mir vergönnt war, den harten Schaft des Kunststoffkorpus mit meiner Schreibhand zu umfassen. Vielleicht gibt es ja Menschen, die da anders gestrickt sind als ich, oder andere Schreibgeräte als Kugelschreiber, deren Gebrauch einer spaßähnlichen Empfindung näher kommt. Ich weiß es nicht.
In den Jahren danach beobachtete ich dann, vom Sprachgebrauch in den USA ausgehend und anschließend auch hierzulande einsickernd, dass hyperenthusiastische Prädikate für Produktbewertungen, Medienrezensionen oder persönliche Bewertungen und Erlebnisberichte einen raketengleichen Aufstieg erlebten. Auf einmal waren Sachen nicht mehr »geil« oder »fett«, sondern »episch« oder »awesome«. Zum Teil liegt das vielleicht auch daran, dass die englische Sprache eine Vielzahl schöner und interessant(er) klingender Wörter für Begeisterung bereithält wie etwa amazing, breathtaking, staggering, eye-popping, magnificent, miraculous, stunning, mind-blowing, marvelous oder spine-tingling. Vielleicht ist es auch nur der übliche, von der jüngeren Generation ausgehende Drang zur Etablierung neuer »eigener« Begriffe für althergebrachte Ausdrücke der Eltern oder Großeltern. Aber interessant ist doch, dass dieser Wandel gleichzeitig mit einem Steigerungsbedürfnis einherzugehen scheint, warum sonst wäre »super« auf dem absteigenden Ast und »mega« gerade rasant im Kommen? Erstmal ist es nur eine These von mir, aber sollten demnächst die ersten Dinge »giga« oder »tera« gefunden werden, bin ich damit womöglich etwas Großem auf der Spur.
In Naturdokumentationen fiel mir auf, dass die deutschen Off-Sprecher ziemlich inflationär mit dem Adjektiv »spektakulär« um sich werfen. Vogelschwärme, Bergmassive, Vulkanausbrüche, Wasserfälle – alles ist »spektakulär«. Dabei ist es doch der Natur komplett egal, ob und wie sehr sie mit ihren Lebewesen, Landschaften, Erscheinungsformen oder Veränderungsprozessen die Menschen oder irgendwen sonst beeindruckt und vor allem macht sie das nicht extra zu diesem Zweck, es passiert einfach. Laut Wikipedia ist ein »Spektakel (lateinisch spectaculum = Schauspiel, Augenweide, Anblick, auch Krach, Lärm) […] ein Ereignis, das Aufsehen erregt«. Ich denke: Wären keine Menschen da, gäbe es doch eigentlich auch kein »Aufsehen«. Inzwischen mache ich mir mit dem Mann einen Spaß daraus, vom Sofa aus »Ha!« in den Raum zu rufen, wenn das Wort mal wieder in einer Doku erwähnt wird.
Doch zurück zur Werbung. Unter dem Hashtag #werbeschwurbel sammle ich auf Mastodon sporadisch sonderbare Ergüsse aus der Welt der Werbetexte, die mir insbesondere via Facebook-Anzeigen über den Weg laufen. Auch darin ist der Trend zum »Hochjazzen« des an sich Banalen sehr schön zu beobachten:
»Das Sofasystem Esosoft Outdoor ist durch seinen einzigartigen Stil charakterisiert, der Komfort mit produktiver Exzellenz kombiniert und sich durch seinen faszinierenden visuellen und materischen Kontrast auszeichnet.«
»Sag Tschüss zu Verfärbungen: Erlebe die faszinierende Welt der Zahnaufhellung!«
»… sag HALLO zu der Umwelt und pimpe dein Badezimmer mit stylischen Toilettenpapier und Zubehör«
»Entdecken Sie […] beeindruckende Designs. Multifunktionaler Zauber für jede Version von Ihnen. Bleiben Sie hydratisiert & vernetzt!«
»WILLKOMMEN IN DER ZUKUNFT DER HERRENUNTERWÄSCHE«
Kürzlich war ich aus Gründen der Recherche für ein anlassbezogenes Geschenk auf der Suche nach einem Tracking-Gepäckanhänger, der kein Apple AirTag sein sollte, und klapperte zu diesem Zweck diverse Websites ergoogelter Anbieter ab. Bei einem las ich: »Abonnieren Sie Premium, um das beste Sucherlebnis für alle Ihre Tiles zu erzielen«. SUCHERLEBNIS! Ahja. Ich habe irgendein Teil meines Zeugs verbummelt bzw. es wurde mir im schlimmsten Fall von einem Übel wollenden Schurken geklaut und hier möchte mir ein Unternehmen mein verstimmtes oder banges Forschen bzw. Kramen nach dessen Verbleib als »Sucherlebnis« verkaufen. Na danke! Ähnliches kam mir bei Apps und »Hardware« unter, die bei unser aller regelmäßiger nächtlicher Ruhephase von Nutzen sein soll: Bettwäsche, Matratzen, Kopfkissen und Zudecken oder Schlaf-Apps, etwa:
»Erheben Sie Ihr Schlaferlebnis: Entdecken Sie das Geschenk des tiefen Schlafs mit MLILY« (es geht noch ähnlich abgehoben weiter: »Suchen Sie ständig nach dem flüchtigen Schatz eines erholsamen Schlafes? In der heutigen schnelllebigen Welt haben sowohl Männer als auch Frauen, insbesondere diejenigen mit Familien, oft Schwierigkeiten, das Heiligtum eines ruhigen Schlafes zu finden. Wenn Sie zu denen gehören, die eine Oase des Komforts inmitten des Chaos suchen, steht Ihnen MLILY bereit, Ihre Nächte in eine erfrischende Erfahrung zu verwandeln.«)
(Matratzen, Kissen, Zudecken)
»Keine zwei Menschen dekomprimieren auf die gleiche Weise. Deshalb gibt Ihnen Entspannungsmelodien die Freiheit, durch Mischen Ihr ganz eigenes Entspannungs- und Schlaferlebnis zu schaffen.«
(Einschlafhilfe-/Meditations-App)
Jesus. Vielleicht bin ich da zu anspruchslos, aber wenn ich schlafe, dann schlafe ich. Dann will ich außer Ruhe, Ungestörtheit und möglichst netten Träumen eigentlich NICHTS weiter erleben. Am besten sind die Nächte, wo ich mein »Schlaferlebnis« eigentlich komplett überspringe. Hinlegen, Augen zu, augenblicklich wegknacken, Stunden später Augen auf, sich fragen, wo, was und wann man ist, wach werden, fertig.
Es hat den Anschein, als litte der Kapitalismus allmählich unter einem Mangel an Argumenten, den Menschen immer mehr immer neues immer andersartiges Zeug anzudrehen. Die meisten Menschen haben schon alles, das meiste davon sogar mehrfach oder im Übermaß. Dinge werden nur noch zu einem Bruchteil gekauft, weil sie verschlissen, defekt, abgenutzt oder unbrauchbar sind und somit ersetzt werden müssten, sondern auch, weil sie unmodern oder nicht mehr angesagt sind, die Besitzer ihrer überdrüssig sind oder gar, weil sie aus Langeweile oder unreflektierter Shoppingroutine heraus angeschafft wurden. Die Konkurrenz der Waren und Dienstleistungen war noch nie so groß wie heute, das Angebot und die Auswahl sind mind-boggling. Da reicht es dann eben nicht mehr, zu schreiben, dass man ein schönes scharfes, langlebiges und gut in der Hand liegendes Küchenmesser feilzubieten hat, sondern es ist ein Schneidwerkzeug mit einem »handgeölten und manufakturgeschnitzten Schaft aus dem Holz einer tausendjährigen Toskana-Eiche«, das dann zu Hause beim groben Zerteilen eine Mohrrübe »ein unvergleichliches Schneiderlebnis« bietet, von dem ich vermutlich noch meinen Enkeln erzählen würde, hätte ich welche.
Schade ist, dass neben all diesen Überhöhungen die Dinge etwas ins Hintertreffen geraten, die tatsächlich und merklich objektiver betrachtet solche extraordinären Attribute verdient hätten. Als »epochal« etwa könnte man das Versagen der Regierungen und Konzerne der Welt bezeichnen, etwas gegen die Klimakatastrophe zu tun. »Beispiellos« wäre ein treffendes Eigenschaftswort für die weltweit zu beobachtenden Temperaturanstiege und Wetterextreme oder das Ausmaß des Artensterbens.
In der Rezepte-Rubrik biete ich heute mal keine Niederschrift für die Zubereitung einer richtigen Mahlzeit an, sondern eine schnelle Anleitung für einen feinen Knabbersnack.
Chips gibt es ja in den Supermarktregalen in unzähligen Würz- und Aromavarianten – gesalzen, gepfeffert und gesalzen, mit Paprika, mit Chili/Peperoni, mit Sour Cream (mit/ohne Schnittlauch), Salt & Vinegar, Rosmarin, Barbecue, Bacon, Gyros, Hot Dog, sogar »Salted Caramel« habe ich neulich gesichtet. Aber Chips sind ja leider »böse«, insbesondere durch die Mixtur aus Kohlehydraten und vergleichsweise viel Fett. Ich halte mich daher alternativ beim Knabbern sehr gerne an gesündere Nüsse, wie etwa (gar nicht oder wenig gesalzene) Erdnüsse. Hier gibt es zwar auch einige aromatisierte Produkte, aber oft sind die Nüsse dann ebenfalls mit einem Teig- oder Knuspermantel umhüllt, der wiederum unnötige Füllstoffe mit sich bringt.
Ich dachte daher: vielleicht probiere ich mal, einen Nuss-Snack zu kreieren, der nur wenig (gesundes) Öl benötigt und ansonsten nur einige Gewürzzutaten. Ich habe das nun schon einige Male zubereitet und verfeinert und bin davon in der jüngsten Variante bereits so angetan, dass ich das »Rezept« gerne hier zum Ausprobieren oder zur Weiterentwicklung bereitstellen möchte:
Kaffirlimetten-Chili-Erdnüsse
Zutaten: 1 Beutel (200 g) geröstete, ungesalzene Erdnüsse 1 TL geröstetes Sesamöl (Asia-Laden) 5–6 getrocknete Kaffirlimettenblätter (Asia-Laden), die Blattstiele mit einer Schere entfernen 1 Messerspitze Chiliflocken oder Cayennepfeffer 1/2 TL Salz 1 Messerspitze Zitronensäurepulver (abgepackt bei Backzutaten im Supermarkt oder im größeren Beutel im Drogeriemarkt)
Die Erdnüsse in eine etwas größere Tupperschale (für die es einen passenden Deckel gibt) oder in einen Plastik-Frühstücksbeutel schütten, das Sesamöl dazugeben und verschlossen ordentlich durchschütteln, so dass alle Nüsse von einem feinen Ölfilm umgeben sind.
Chili, Kaffirlimettenblätter, Salz und Zitronensäure in einem geeigneten elektrischen Zerkleinerer (Kaffeemühle mit Schlagwerk, Gewürzmühle o.ä.) oder manuell in einem Mörser zu einem Pulver zermahlen. Die pulverisierte Mischung zu den eingeölten Erdnüssen geben und nochmals ordentlich durchmengen.
Die Nüsse so in ein Serviergefäß abschütten, dass der Bodensatz des nicht haftenden Gewürzpulvers in dem Schüttelgefäß verbleibt. Da sich die Chilischärfe und das Kaffir-Aroma nur allmählich in dem Ölfilm lösen und die Nüsse dadurch noch etwas aromatischer werden, kann man sie vor dem Wegsnacken noch einige Stunden »durchziehen« lassen.
Immer noch im Moselland, im Elternhaus des Mannes. Unsere Termine, Erledigungen und Ausflüge unternehmen wir mit dem hinterlassenen Auto seines Vaters, einer Mercedes B-Klasse. Auch ich habe das Fahrzeug nun in der letzten Woche reichlich bedient und gesteuert. Es fährt sich angenehm, Automatikgetriebe, straffe Beschleunigung, recht gute Rundumsicht, bequeme Sitze, solide Straßenlage. ABER. Die elektronische Ausstattung dieses Wagens, ihre Performance und insbesondere die Bedienung halte ich persönlich für eine Katastrophe. Die Ingenieure im »Autoland Deutschland« scheinen mittlerweile zu delirieren. Die Bedienungsanleitung für dieses Modell hat sage und schreibe 575 Seiten. Fünfhundertfünfundsiebzig. Für ein Auto.
Ein paar Anekdoten: Gleich zu Beginn nach dem Einsteigen und Anlassen belehrt einen das etwa postkartengroße Display in der Mitte der Frontkonsole, man solle sich auf keinen Fall von den Mitteilungen auf den Displays und Armaturenanzeigen vom Verkehrsgeschehen ablenken lassen. Gleichwohl tut die Elektronik dann während der Fahrt alles, um genau das zu erzielen. Liegt auch nur ein Brillenetui oder eine Jacke auf dem ansonsten leeren Rücksitz, wird ein vollflächiges Pop-Up-Fenster über der Tachoanzeige eingeblendet, mit der Warnung, dass auf dem Rücksitz eine nicht angeschnallte Person sitze (Spoiler: nein). In diesem Pop-Up-Fenster befindet sich zwar in der oberen Ecke ein ⨉, das andeutet, man könne die Warnmeldung einfach schließen, aber tippt man darauf, passiert – nichts. Entweder sind meine Finger nicht spitz genug oder ich müsste irgendwo in dem Bedienungsschinken nach der Anleitung suchen, wie ich diesen unerwünschten Unsinn ausblenden kann, der mir während der Fahrt die Instrumententafel kontaminiert oder so lange auf dem Display rumtippen, bis es doch irgendwann verschwindet – oder ich abgelenkt im Graben lande.
In der Dämmerung soll eine fancy Beleuchtungsautomatik dafür sorgen, dass automatisch zwischen Fern- und Abblendlicht gewechselt wird, mehr noch: sogar eine Teil-Abblendung wird durchgeführt, die das Licht nur im Sichtfeld eines entgegenkommenden Fahrers dimmt, während die restlichen Streckenbereiche weiter voll ausgeleuchtet werden. Wenn es funktioniert. Einmal nämlich gleißte der Wagen fröhlich weiter, während uns ein anderes Auto entgegenkam. Ich suchte, wie ich manuell abblenden konnte, was mir schließlich mit einigen Hebelbetätigungen auch gelang, doch seither ist die Lichtautomatik komplett deaktiviert und ich fand intuitiv keinen Bedienschritt mit denselben Hebeln, der sie hinterher wieder reaktivierte. Ach ja, die Bedienungsanleitung.
Touchiert man mit einem der rechten Räder einmal versehentlich die rechte Fahrbahnmarkierung, so wird unvermittelt ein ziemlich krasser Vibrationseffekt im Lenkrad zugeschaltet, der mich beim ersten Mal enorm erschreckt hat. Vermutlich wurde diese elektronische Warnpeitsche ersonnen, um dem Abkommen des Fahrzeugs von der Fahrbahn nach rechts beim berüchtigten »Sekundenschlaf« vorzubeugen, aber was nützt diese Warnung, wenn der gewarnte Fahrer vor Schreck das Steuer nach links verreißt und im Gegenverkehr landet? Ich würde sagen: nicht viel.
Wieder andere (optische) Sensoren erfassen die Schilder am Straßenrand für Geschwindigkeitsbeschränkungen und blenden die vermeintliche aktuell gültige Höchstgeschwindigkeit auf der Instrumententafel ein. Überschreitet man sie, gibt »das System« einen nervigen akustischen Pling-Ton von sich. Dieser war das erste »Feature«, das wir mithilfe der Bedienungsanleitung deaktiviert haben. Nun blinkt das kleine Verkehrsschild-Piktogramm nur noch stumm, wenn die gefahrene Geschwindigkeit für zu hoch befunden wird. Ich möchte hier keineswegs den Eindruck erwecken, mir wäre daran gelegen, zu rasen – im Gegenteil. Aber das Fahrzeug irrt sich bestürzend häufig mit seinen Geschwindigkeitswarnungen. Haben z.B. die Straßenarbeiter hinter eine Baustelle mal vergessen, das »Tempo 50 wegen Bauarbeiten«-Schild wieder aufzuheben und auf die übliche Höchstgeschwindigkeit der freien Strecke zurückzusetzen, meint die Limousine noch Kilometer später, man müsse baustellenbedingt weiterschleichen. Umgekehrt geschieht es erschreckend oft, dass die Elektronik beim Befahren der typischen Serpentinenstrecken in den hiesigen Bergregionen im Cockpit einblendet, man könne auf den Zickzackstrecken mit ihren spitzen Harnadelkurven getrost mit 100 km/h die Berge hochspurten, wovon ich eher abraten würde. Oder plötzlich erscheint auf dem Zentraldisplay nach dem Ausparken und vorwärts Losfahren eine Kameraansicht der Umgebung hinter dem Auto. Wozu? Brauch ich nicht, alles frei, keine Hindernisse in Sicht und zudem absolut irrelevant für die aktuelle Fahrtrichtung. Daneben sondert die Elektronik beim Fahren aber auch ohne begleitende grafische Einblendungen allerlei weitere Pling-, Dödel-, Palim-Palim- und Piepgeräusche ab, deren Bedeutung ohne Konsultation DER ANLEITUNG komplett im Dunkeln bleibt. Eine der akustischen Belästigungen scheint zu bedeuten, dass das Fahrzeug den Kontakt zum Internet verloren hat. Ja, meine Güte, das passiert mir auch ständig, dann guck halt so lange mal aus dem Fenster, Gefährt, ey!
Obwohl ich selbst kein eigenes Auto mehr besitze, bin ich durch Mietwagen im Urlaub sowie Carsharing in heimischen Städten mit den verschiedensten Modellen und Fabrikaten vertraut. Ich bin sehr offen für technischen Fortschritt, halte mich oftmals für einen »First Mover«, erhoffe mir (wenngleich wohl vergeblich) einen baldigen zeitgemäßen Fortschritt bei der Digitalisierung in Deutschland und bin seit den 1980er Jahren privat und inzwischen auch beruflich fast täglich mit der Nutzung und Bedienung von Computern befasst, aber was dieser Pkw seinen Nutzern zumutet, grenzt an digitale Belästigung.
Um so lustiger, dass ich vorgestern Nacht einen Traum über dieses Auto hatte. Ich träumte, dass wir in den Unterlagen hier im Hause der Eltern Dokumente fänden, die belegten, dass der besagte Mercedes keineswegs ein vergleichsweise aktuelles Fahrzeugmodell sei. Vielmehr ging aus dem im Traum gefundenen Kaufvertrag hervor, dass das Baujahr des Autos 1987 gewesen wäre, dass es damals ein Heidengeld gekostet hätte, weil derart viele bahnbrechende, wegweisende Avantgarde-Elektronik darin verbaut worden war, die damals absolute Spitzentechnik repräsentierte, futuristisch und weit vor »State Of The Art«. Inzwischen jedoch war die technische Entwicklung rasant fortgeschritten und die einstigen High-Tech-Features wirkten im Jahr 2024 wie ein musealer, umständlicher Versuch, ein Auto mit elektronischen Accessoires auszustatten, der mittlerweile alles andere als zeitgemäß ist. Etwa so, wie der erste »Palm«-Taschencomputer aus dem Jahr 1996 – damals ein bestaunenswertes Stück Mikroelektronik (ich besaß selbst einen, um meine VHS-Videocassetten-Aufnahmen digital zu katalogisieren!), aber heutzutage im Vergleich mit einem aktuellen Smartphone-Modell ein kurioses technologisches Relikt.
In meinem Traum waren wir also, ohne es zunächst zu wissen, mit einem rollenden Palm Pilot auf den Straßen der Gegenwart unterwegs. Und nach dem Aufwachen dachte ich: ja, danke, liebes Traumhirn – genau so fühlt es sich an.
Gestern fand die Urnenbeisetzung der Schwiegermutter in einem Friedwald im Moselland statt. Der zuvor lang anhaltende Regen erklärte sich dann doch rechtzeitig bereit, etwa eine halbe Stunde zuvor zu versiegen. Ich hatte die überschaubare Trauergemeinde vor meinem geistigen Auge schon wie in einschlägigen Filmszenen unter tief gehaltenen Schirmen durchnässt, mit hochgeschlagenen Kragen und eingezogenen Köpfen unter wolkenverhangenem Himmel versammelt gesehen, aber so sollte es nicht sein. Wie schön. Ich bin als schon vor Jahrzehnten aus der Kirche ausgetretener »Evangele« bei der Zeremonie anwesend, der Rest des kleinen Kreises gehört ansonsten eher dem katholischen Glauben an. Auch der beleibte, schon ältere Geistliche ist ein katholischer Pfarrer. Er hält eine klare, fast nordisch anmutende, ehrliche und schöne Ansprache mit wenig religiöser Verbrämung, das gefällt mir. Ich nehme die eingeflochtenen biblischen Verheißungen an Auferstehung und ewiges Leben zur Kenntnis, akzeptiere und respektiere vollauf, dass das hier dazugehört und sicherlich vielen der Anwesenden Trost und Zuversicht gibt, auch wenn ich selbst diese Erwartung an den Tod nicht habe. Unter dem Messgewand des Priesters sehe ich eine Jeans und blaue Sneaker hervorblitzen. Die wunderschöne Musik von Mahler, die der Mann ausgesucht hat und die aus einem Standlautsprecher erklingt, mischt sich für einige Sekunden von fern mit dem Geräusch eines überfliegenden Flugzeugs. Und dann, nach der Ansprache des Paters, kurz bevor der Bestatter die helle steinerne Urne aus dem umgebenden Blumenkranz nimmt und in das von Kunstrasen umsäumte ausgehobene Loch vor dem Friedwaldbaum hinablässt, nehme ich im Wurzelwerk des Baumes eine zaghafte Bewegung wahr. Eine kleine rotbraune Maus steckt ihre Schnauze aus einem Loch zwischen Laub und Baum, schaut in Richtung der Gäste, kommt eine Handbreit hervor, umhuscht in kurzen Intervallen mit bewegten Schnurrhaaren eine der Baumwurzeln und verschwindet dann für den Rest der Zeremonie in einem weiteren dunklen Loch daneben. Wenig später ist die Urne in der Vertiefung verschwunden, oben auf die Grabstätte wird von jedem eine pfirsichfarbene Rose abgelegt und in die Öffnung eine Schaufel Erde gestreut. Ich spüre eine wieder aufkommende Traurigkeit, aber das darf genau jetzt auch so sein. Nach einem letzten Moment des abschließenden stillen Gedenkens gehen alle zurück zum Parkplatz am Waldrand.
Ich habe nur den Mann hinterher gefragt, ob er die Maus auch bemerkt hatte, was er verneinte. Die anderen Trauergäste mochte ich nicht fragen. Am liebsten möchte ich glauben, dass nur ich dieses kleine Waldwesen gesehen habe, das sich kurz zu dem kleinen Kreis der Beisetzungsgäste gesellte und mir einen Augenblick schenkte, der mir mehr Erdung und Zuversicht gab als ein geschriebener oder verlesener Text es jemals vermocht hätte.
In einem der benachbarten Orte nahe dem Elternhaus des Mannes, in dem wir derzeit »logieren«, führt die Straße vorbei am Gebäude eines Gebrauchtwagenhändlers. Auf dem Fries oberhalb der Garageneinfahrten ist zu lesen »Auto Miesen – Ihr fairer Partner«. Jedesmal, wenn wir dort vorbeifahren, frage ich mich, was wohl der Grund war, diesen Werbespruch oder Firmenslogan so zu formulieren. Eigentlich sollte man doch erwarten können, dass ein Kfz-Händler mit einer permanenten, gemauerten Niederlassung in einer ländlichen Siedlung, wo oft noch jeder jeden kennt, fair mit seinen Kunden umgeht. Unfaire Gebrauchtwagenhändler würde ich eher vermuten auf temporären Fahrzeugflohmärkten, wo die Anbieter vorübergehend einen freien Stellplatz belegen, eine billig gedruckte Visitenkarte mit einer GMX-Mailadresse und einem in PowerPoint selbstgebastelten Logo ihre einzige Legitimation ist, oder bei spontan verabredeten, windigen Transaktionen auf Rast- oder Parkplätzen, nach denen man den fremden Anbieter nie wiedersieht. Auf dem Autohaus steht also etwas eigentlich Selbstverständliches, das als Besonderheit und Zuwendungs- oder Kaufargument hervorgehoben wird.
In Hamburg komme ich öfter an dem verglasten Büro eines Altenpflegedienstes vorbei, das, wie so viele dieser Dienstleister, kontinuierlich nach neuem Personal sucht. An der Fensterscheibe prangt ein großer Aufkleber mit der Botschaft »WIR RESPEKTIEREN, DASS UNSERE MITARBEITER EIN LEBEN AUßERHALB IHRES BERUFES HABEN«. Auch hier drängte sich mir die Frage auf, wieso eine solche Botschaft an potenzielle Bewerber notwendig ist. Ich würde es begrüßen, wenn sämtliche Arbeitgeber, die diesen Satz nicht vorbehaltlos unterschreiben würden, dies wahlweise noch einmal überdenken, ihre Geschäftstätigkeit einstellen oder aber ihre neuen Mitarbeiter mit dem Hinweis »FÜR UNS IST ES INAKZEPTABEL, DASS UNSERE MITARBEITER ETWAS ANDERES IM SINN HABEN, ALS SICH FÜR UNS RUND UM DIE UHR KAPUTTZUSCHUFTEN« anwerben würden.
Auch auf Produkten lese ich häufig Botschaften oder vermeintliche Qualitätsmerkmale, auf die ich augenblicklich mit »JA WAS DENN SONST, IHR FLITZPIEPEN?!« antworten möchte. So steht zum Beispiel auf auffällig vielen Reinigungs- oder Kosmetikprodukten prominent der Hinweis »OHNE MIKROPLASTIK«. Das ist, so sehe ich das, vordergründig kein edles Prädikat, sondern eher ein trauriges Indiz dafür, dass sich zahllose Hersteller in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einen Scheiß darum gekümmert haben, was sie in ihre Cremes, Pasten, Gele, Lotionen, Milche, Wachse und Tinkturen hineingerührt haben und was dann der Kanalisation überantwortet wurde. Durch den Abfluss, aus dem Sinn. Deodorantprodukte, die sich rühmen, »ohne Aluminium« produziert worden zu sein, gehören ebenfalls in diese Kategorie. Man könnte sie mit der Überschrift versehen »Wir haben’s seinerzeit mal reingemischt, ohne zuvor richtig zu erforschen oder mal darüber nachzudenken, ob das sinnvoll, gefährlich oder gesundheitsschädlich sein könnte, dann kam raus, dass das ’ne Scheißidee war, jetzt haben wir’s wieder rausgenommen und IST DAS NICHT SUPER, KAUF DAS DOCH BITTE!«. Es ist altbekannt, dass Plastik in jedweder Erscheinungsform recht hartnäckig in der Umwelt verbleibt, ehe es abgebaut wird. Zuvor werden größere Teile durch Zerfall, Verwitterung und andere mechanische Prozesse immer feiner zermahlen und die Partikel verteilen sich dabei munter in der Biosphäre. Inzwischen wurde Mikroplastik im menschlichen Blutkreislauf nachgewiesen, es kann in der Tiefsee ebenso nachgewiesen werden wie in Wolken, es kann sogar die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Die Definition des Wortes »Mikroplastik« stammt aus dem Jahr 2008, die Gefahren und Gesundheitsrisiken wurden spätestens seit Beginn der 2010er Jahre offenbar. Trotzdem frage ich mich, wie man auch ohne wissenschaftliche Begleitung jemals auf die bescheuerte Idee kommen konnte, das Plastik quasi gleich »vorgemahlen« in die Produkte zu quirlen und neuerdings fröhlich auf die Verpackungen zu drucken, dass dies nun wieder unterlassen wird. Toll. Aber wenn man ein bisschen länger darüber sinniert, ist die Geschichte der menschlichen Zivilisation ohnehin eine ebenso lückenlose wie reichhaltige Chronik der Emission schädlicher Substanzen in die Umwelt, die sich hinterher entweder gar nicht mehr oder nur sehr aufwendig wieder einsammeln oder entfernen lassen: FCKW, Asbest, Pestizide, Blei im Benzin, PTFE, CO₂, Weichmacher, Mineralöl, Stickstoff, Radioaktivität, Schwermetalle, Hormone, Antbiotika, die Liste ist endlos. Alles muss raus, solange der Vorrat reicht. Nachdenken können wir hinterher. Vielleicht.
Eigentlich ist dieser Text heute eine kleine Fortführung meines kürzlichen Blogeintrags »Brombeerwörter« über Textstellen und Begriffe, an denen ich beim Lesen immer wieder hängenbleibe, weil sie mir störend, unsinnig oder fragwürdig erscheinen. Denn genauso verhält es sich mit diesen sonderbar eigenlöblichen Werbeverkündigungen des eigentlich Gebotenen.
Irgendwie ein bisschen so, als gäbe es Schulen oder Kitas, an deren Fassade ein Banner aufgehängt ist mit der werbenden Anpreisung »In dieser Einrichtung wird nicht geprügelt!«
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