Ed: Do you own a video camera?
Renee: No. Fred hates them.
Fred: I like to remember things my own way.
Ed: What do you mean by that?
Fred: How I remembered them. Not necessarily the way they happened.– Dialog aus »Lost Highway« (1997)
David Lynch ist gestorben. Wieder ein Mensch weniger auf der Welt, der mich inspiriert hat und dessen unbändige Kreativität ich bewundert habe. Bei Lynch war immer noch etwas unter der Oberfläche, die Bilder und Szenen seiner Filme und Serien zeigten zwar den Fortgang der Handlung, sie waren verstörend, wunderschön, rätselhaft, beängstigend, kitschig oder brutal. Aber die eigentlichen Geschichten fanden dahinter statt.
»I learned that just beneath the surface there’s another world, and still different worlds as you dig deeper. I knew it as a kid, but I couldn’t find the proof. It was just a kind of feeling. There is goodness in blue skies and flowers, but another force – a wild pain and decay – also accompanies everything.«
– David Lynch
Ich will gar keine Lobeshymnen oder einen Nachruf schreiben, das können andere viel besser und es geschieht zudem derzeit hundertfach. In meiner Filmbibliothek stehen einige (nicht alle) seiner Werke, ich besitze auch Bücher über sein Schaffen und einige Alben mit Soundtracks und Songs der Musiker*innen, mit denen er wieder und wieder zusammengearbeitet hat, allen voran die großartige Julee Cruise. Aber seit gestern Abend die Nachricht von Lynchs Tod die Runde machte, habe ich versucht, darüber nachzudenken, was genau es ist, das mein Gefühl der Verbundenheit mit diesem Künstler ausmacht, die ich oft gespürt habe und das mich nun auch durchaus traurig stimmt. Ich glaube, es waren drei Einsichten.
- Die Gegenüberstellung, die Provokation und das Spiel mit schön und hässlich, hell und dunkel.
Lynch hatte keine Scheu, abstoßende Dinge zu zeigen: Ein abgeschnittenes Ohr auf dem Vorgartenrasen, inmitten knallbunter Klischeebilder einer amerikanischen Kleinstadtidylle (Blue Velvet). Einen grundguten Menschen mit abstoßend deformiertem Äußeren (The Elephant Man). Ein seltsam alienartig aussehendes Baby (Eraserhead). Eine wie eine einzelne gekaufte Blume in Plastikfolie drapierte Leiche (Twin Peaks). Vermeintlich Hässliches kann durchaus ästhetisch sein bzw. eine schöne Oberfläche kaschiert oft etwas Unangenehmes darunter. Diese Spannung reizt mich auch bei anderen Künstlern, die ich schätze und bewundere, wie den wegweisenden Bildschöpfern Francis Bacon und H.R. Giger, im Internet entdeckten Künstlern wie z.B. John Kenn Mortensen, Häri Ren, Steve Salo, Antony Micallef oder dem ebenfalls kürzlich verstorbenen niederländischen Fotografen Erwin Olaf. Sie konfrontieren uns mit unserem Reflex, vor verstörenden, unangenehmen Dingen zurückzuschrecken und uns einer näheren Betrachtung zu entziehen, obgleich wir beim Nähertreten und an der Auseinandersetzung mit manchen dieser Themen (wie z.B. Tod und Vergänglichkeit) reifen, Erkenntnisse gewinnen oder Vorurteile und Ängste abbauen könnten. - Die Gegenüberstellung und Definition von Realität und Vorstellung, von Abbild und Empfinden.
Dies knüpft sowohl eng an den ersten Punkt an als auch an den zitierten Dialog, den ich diesem Beitrag vorangestellt habe. In Lynchs Filmen sind Traumbilder, halluzinierende Visionen, mehr oder weniger klare Erinnerungen, surreale Episoden, schwer erkennbare und sich im Dunkeln abspielende Szenen allgegenwärtig. Was ist echt? Was ist Trugbild, Anschein, Erinnerung oder Traum? Was spielt sich wirklich ab? Was deuten wir im selben Moment oder auch nachträglich hinzu? Zeigen gesehene oder technisch aufgenommene Bilder immer die Realität? Können sie das? Sollen sie das? Am vergangenen Wochenende, während eines klassischen Kirchenkonzerts erlebte ich es wieder selbst und habe es auch schon oft im Netz dokumentiert gesehen: Es gibt Menschen, die bei bedeutsamen oder als erinnerungswürdig eingestuften Ereignissen, seien es Familienfeste, öffentliche Veranstaltungen wie Konzerte oder Kulturaufführungen, Ausflüge, Urlaubsreisen, unentwegt ihr Smartphone oder ihre Kamera vor sich halten und die Szenen und Augenblicke dessen, was um sie herum abläuft, fast ausschließlich durch den Sucher oder auf dem Display wahrnehmen, während sie es aufzeichnen. Sie halten Bilder fest, versuchen, die Realität einzufangen um später für sich selbst oder Andere eine Konserve des »Erlebten« bereitzustellen. Aber eigentlich bringen sie sich genau durch dieses pausenlose Filmen und Fotografieren selbst um das »Erleben«. Anstatt sich dem Moment, den Sinneseindrücken, Gefühlen und ihrer eigenen Gegenwart vor Ort hinzugeben, sind sie eigentlich »abwesend« und permanent damit beschäftigt, ihr rein visuell eingefangenes Abbild der Ereignisse zu bewerten, scharfzustellen, zu beschneiden oder stabilisieren zu müssen – und dadurch dokumentieren sie lediglich den physischen Ablauf der Geschehnisse und verpassen es, sich von dem Erlebten wahrhaft durchfluten zu lassen. Mich macht so etwas traurig und ich versuche es, nach Möglichkeit zu vermeiden. Ich möchte mich nicht nur an Bilder meines Lebens erinnern, sondern an Erlebtes. Die erinnerten Szenen im Kopf und im Herzen können so viel farbiger, intensiver, bewegender sein als jedes Bild auf einem Abzug oder einem Display. Und sie müssen nicht zwingend 1:1 der Realität in den erlebten Momenten entsprechen. Wenn ich ein Foto eines erinnerungswürdigen Moments mache und nach Betrachtung das Gefühl habe, zur Nachbearbeitung einen Filter anwenden zu müssen, versuche ich immer, das Bild nicht primär lediglich oberflächlich hübscher zu machen, sondern dahingehend zu justieren, dass es dem entspricht, was ich in dem Moment vor und nach der Aufnahme gefühlt habe. Und ich bin überzeugt davon, dass David Lynch einen Anteil daran hat, dass ich dies so sehe. - Die Zusammenarbeit mit talentierten, hingebungsvollen Menschen, die eine gemeinsame Vision teilen.
In vielen Filmen Lynchs stößt man immer wieder auf dieselben Menschen, mit denen er seine Geschichten und Ideen in die Tat umsetzte: Die Schauspielenden Kyle MacLachlan, Harry Dean Stanton, Laura Dern und Jack Nance oder die Musiker*innen Julee Cruise oder Angelo Badalamenti sind wohl die bekanntesten unter ihnen. Der Kameramann Freddie Francis wirkte bei drei Filmen mit (The Elephant Man, Dune, The Straight Story), seine Kollegen Frederick Elmes (Eraserhead, Blue Velvet, Wild at Heart) und Peter Deming (Lost Highway, Mulholland Drive, Twin Peaks) ebenfalls. Das ist nichts Ungewöhliches, es gibt viele eingespielte, gleichgesinnte oder sogar seelenverwandte Teams im Film- und Musikbusiness, die immer wieder an gemeinsamen Projekten gearbeitet haben. Aber bei Lynchs skurrilen, surrealen, rätselhaften, seltsamen Geschichten glaubte ich zu spüren, dass es ihm nicht nur darum ging, sich auf bewährte Mitwirkende verlassen zu können, um reibungsloser, effizienter, stressfreier an der Umsetzung seiner Ideen arbeiten zu können, sondern dass ohne diese Personen etwas komplett anderes dabei herausgekommen wäre und dass die Resonanz, der popkulturelle Einfluss und die Popularität der Filme Lynchs fast ebensosehr diesen wiederkehrend Beteiligten zuzuschreiben sind wie ihm als Ideengeber und Regisseur. Ich selbst habe im kleinen Rahmen meines Jobs als Grafikdesigner dieselbe Erfahrung gemacht: Wenn es gelingt, kreative, begabte, kompetente, erfahrene und beseelte Menschen ausfindig zu machen, sie für eine Idee oder ein gemeinsames Projekt zu begeistern, auf ihr Können und ihr Urteil zu vertrauen, ihnen Raum bei der Umsetzung zu geben und sie nicht einzuengen, dann ist nicht nur die Arbeit an dem gemeinsamen Vorhaben entspannter, angenehmer, lustiger, begeisternder und fruchtbarer, sondern es kommt am Ende auch viel mehr dabei heraus als bei einer rein additiv und hierarchisch organisierten Konstellation aus handwerklich guten und fair entlohnten »Fachkräften«. Manchmal übertrifft das Ergebnis sogar den anfänglichen, am kreativen »Reißbrett« konzipierten Entwurf und entwickelt ein blühendes Eigenleben, das am Ende so weder vorhersehbar noch planbar gewesen wäre – und zwar im besten Sinne.
Gute Reise, Mr. Lynch.
»I don’t know why people expect art to make sense. They accept the fact that life doesn’t make sense.«
– David Lynch