19 Ein Buch, das du schon immer lesen wolltest
Sie gingen, das rhythmische Rauschen der langgestreckten Wellen neben sich, den frischen Salzwind im Gesicht, der frei und ohne Hindernis daherkommt, die Ohren umhüllt und einen angenehmen Schwindel, eine gedämpfte Betäubung hervorruft … Sie gingen in diesem weiten, still sausenden Frieden am Meere, der jedes kleine Geräusch, ob fern oder nah, zu geheimnisvoller Bedeutung erhebt …
(Textquelle: »Buddenbrooks« bei Project Gutenberg – www.gutenberg.org)
Ich glaube, man kann durchaus durch den Erstkontakt mit einer als schlecht empfundenen Literaturverfilmung auf ein gutes Buch aufmerksam werden. Zumindest erging es mir so mit den Buddenbrooks von Thomas Mann.
Etwa ab Mitte 2008 kam wohl niemand daran vorbei, die dauerbetrailerte und durch alle Kulturmagazine geisternde Neuverfilmung des Werkes durch den Dokudramenregisseur Heinrich Breloer wahrzunehmen, ehe sie im Dezember auf die Kinoleinwände kam. Die Crème de la Crème der deutschen Schauspielergilde stellte die Besetzung: Armin Mueller-Stahl, Iris Berben, Jessica Schwarz, August Diehl. Das Buddenbrookhaus wurde in einem Kölner Filmstudio rekonstruiert, die historischen Kostüme detailgetreu nachgeschneidert. Aufwendige Kamerafahrten und eine High-Tech-Farbbearbeitung sollten Atmosphäre und Stimmungen der schicksalhaften Familiensaga eindrücklich unterstreichen. Prädikat »besonders wertvoll«, Bayerischer Filmpreis für Szenenbild und Ausstattung.
Gesehen habe ich den Film auf einer Leih-DVD und einem Flachbildfernseher beträchtlicher Größe – aber beeindruckt hat er mich nicht. Es war alles zu glatt, zu perfekt, auf Wirkung getrimmt, Disneyland in Lübeck. Der Score wogte wild durch die Gefühlsklaviatur, Farben, Gesichter, Einstellungen, alles wie aus Plastik. Als ich in einer Szene einen völlig nebensächlichen Kerzenleuchter sah, in dem eine der Kerzen leicht schief stand, dachte ich: endlich etwas, das nicht versucht, perfekt zu sein! Und spätestens, als ich bei der Sterbeszene der Konsulin Bethsy Buddenbrook laut auflachen musste, weil mich das auf verhärmt geschminkte, verkniffene Gesicht Iris Berbens an ihre altjüngferlichen Witzgestalten aus der Klamaukserie »Sketchup« erinnerte, war der Film für mich unten durch. Nicht aber das Buch. Ich spürte das Potenzial, die Kraft der Geschichte und ihrer Charaktere und wurde neugierig auf die literarische Vorlage.
Gesteigert wurde diese Neugier durch die zweite der insgesamt vier Verfilmungen, 1959 inszeniert von Alfred Weidenmann. Auch damals eine Spitzenbesetzung, u.a. mit Lil Dagover, Hansjörg Felmy, Liselotte Pulver, Helga Feddersen, Hans Paetsch, Nadja Tiller und Gustav Knuth. Der in schwarzweiß gedrehte Film berührte mich trotz seiner technisch beschränkteren Mittel weit mehr, ich empfand die Figuren als glaubwürdiger, die Erzählweise als bedächtiger und intensiver, die Schicksale als ergreifender. Und seitdem weiß ich: ich möchte dieses Buch gerne lesen. Und ich hoffe, ich werde mich von den bereits gesehenen Bildern abnabeln können, so dass dann in meinem Kopf endlich der dritte und beste Film dazu ablaufen kann.
Der komplette Fragebogen im Überblick.
Das Bild zeigt eine noch in Fraktur gesetzte Ausgabe des Romans aus dem Jahr 1930.
Foto: © formschub