08 Ein Buch, das dich an einen Ort erinnert
An den Ort kann ich mich gut erinnern, wenn ich das Buch in die Hand nehme – »Nachrichten aus der bewohnten Welt« von Ror Wolf –, aber das genaue Jahr, dem meine Erinnerung zugrundeliegt, fiele mir auf Anhieb nicht ein. Es war während meines Studiums der Kommunikationsgestaltung von 1989 bis 1995 in Hildesheim.
Während einiger schon dort verbrachter Semester hatten großartige neue Freundschaften schon bestehende wunderbar ergänzt, so dass unsere »Clique« aus etwa 8 Leuten beschloss, den anstehenden Jahreswechsel in Dänemark zu verbringen. Ein bezahlbares, geräumiges Ferienhaus wurde gemietet und wenige Tage vor Silvester fanden wir uns dort ein. Der naheliegende Ort Nørre Nebel wurde zum Einkaufen genutzt, am Tage ließen wir uns bei Spaziergängen durch die klirrend kalte Seeluft den Wind um die Ohren wehen, abends wurde gekocht, gespielt und getrunken (Bier, Whisky), wir hörten CDs von Tom Waits (»Black Rider«) und Helge Schneider (»Es gibt Reis, Baby«), spielten Gesellschaftsspiele, philosophierten und diskutierten über Studium, Zukunft, Leben und Welt. Scheinbar belanglose Momente und Tage, deren Besonderheit erst Jahre später im Licht der Erinnerung bernsteinfarben zu glühen beginnt.
Das Buch von Ror Wolf hatte ich erst kurz vor der Reise gekauft, meine Begeisterung für seine surrealen Wortwelten irgendwo zwischen Dürrenmatt und Max Goldt war noch frisch, und so bot ich an einem der Abende an, eine kleine Lesung zu geben. Besonders hatte es mir der Text »Der Anfang der Finsternis« angetan, in dem eine Reisegesellschaft den nach einem Mittagessen verlassenen Speisesaal eines Palasthotels betritt:
Die Tische waren von den abgegessenen Tellern bedeckt, von Speiseresten, auf denen schwarze gemästete Fliegen saßen; in den ausgetrunkenen Gläsern, in der Tiefe der Suppenschüsseln schwammen kleine plätschrige Tiere. Etwas, das zusehends wuchs, kroch beutelförmig, mit fadenartigen Beinanhängen, über den Boden des Speisesaals, man sah nichts als eine vollkommene Durchsichtigkeit des Leibes, so daß die Anwesenheit von etwas Weichem, der Vorgang des Kriechens, entweder niemandem auffiel, oder nur durch die im Verhältnis zum Körper auffallend großen glänzenden bösen Augen verraten wurde; …
Ich hatte natürlich gehofft, dass der anwesenden Runde die etwa viereinhalb Seiten lange vorgetragene Geschichte genausogut gefallen würde wie mir. Doch dass meine (auch heute noch) gute Freundin A. in spontanen Beifall und Begeisterungsrufe ausbrach, überraschte mich dann doch. Wie ich kurz darauf erfuhr, war sie dem Irrtum erlegen, nicht Ror Wolf, sondern ich sei der Autor des Textes gewesen. Natürlich habe ich dies umgehend richtiggestellt, damals in Nørre Nebel, Dänemark, in einem Ferienhaus mit guten Freunden, an einem gemütlichen Dezemberabend, in irgendeinem Jahr, in einem golden leuchtenden Moment.
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