Der geschätzte Herr Buddenbohm setzt gerade eine Bloglawine in Gang, in der – zuerst nur Hamburger, aber allmählich die halbe Republik – aus ihrem Stadtteilnähkästchen plaudern. Das inspiriert. Voilà:
Als ich Anfang 1995 von Hildesheim nach Hamburg zog, musste alles ruckzuck gehen. Ich hatte nach meinem Studium gerade mal auf eine einzige Stellenanzeige geantwortet und sofort ein Vorstellungsgespräch, dann wenige Tage darauf die Zusage bekommen. Nur wenige Wochen später sollte ich in der großen Stadt meinen Job als »Junior-AD« in einer kleinen Werbeagentur beginnen. Wohnungen waren knapp und teuer zu dieser Zeit, und so blieb mir nichts anderes übrig, als die erstbeste bezahlbare zu nehmen. In Wandsbek, in einem Hochhaus mit 64 Ein-Zimmer-Appartments am Eichtalpark, die 36-Quadratmeter-Wohnung kostete 960 Mark warm, teurer als die 100 Quadratmeter der elterlichen Wohnung, aus der ich damals auszog. Aber hey, es war Hamburg!
Viereinhalb Jahre lang kam ich mit dem begrenzten Platz aus, den meine erste Unterkunft mir bot, dann hatte ich genug von dem fensterlosen altrosa gekachelten Bad, der knapp 2 Quadratmeter kleinen Küche, dem Einbauschrank im Flur und dem nur meterbreiten Bett in der Wohnzimmernische. Glücklicherweise entspannte sich gerade der Wohnungsmarkt wieder und ich machte mich mit den inzwischen erworbenen Kenntnissen über die Hamburger Stadtteile auf die Suche.
Winterhude hätte mir gefallen, oder Uhlenhorst, Altbau, 50 bis 60 Quadratmeter, mit Dielenboden und einem schönen, großen Duschbad. Ich durchkämmte die Wohnungsangebote und besichtigte die angepriesenen Objekte: Wohnungen, bei denen »Altbau« eher den Zustand als die Kategorie bezeichnete, Bäder mit brotscheibenkleinen Waschbecken (Borgweg), Wohnzimmer mit in Armlänge vor dem Fenster verlaufenden Hochbahntrassen (Mundsburg), eine coole, aber leider renovierungsbedürftige Loftwohnung (Hasselbrook), im Billig-Baumarktschick totrenovierte Räume (Eilbek) und Neubauwohnungen mit wellenschlagendem Teppichboden (Schnelsen). Ein paar Schmuckstücke waren schon dabei, aber ich merkte auch, dass je nach Stadtteil bis zu 30% »Prestigezuschlag« auf die Kaltmiete anfielen, wenn die Wohnung in einem besser beleumundeten oder besonders begehrten Stadtviertel lag.
Und dann besichtigte ich eine Wohnung in Barmbek-Nord, einem mir bis dahin völlig unbekannten Stadtteil, nicht weit von der Fuhlsbütteler Straße entfernt. Hier haben die Straßen Vogelnamen, es gibt die Habicht-, Drossel, Schwalben-, Star- und Wachtelstraße. Die besichtigte Wohnung war frisch renoviert, hatte honiggoldene, quietschende Dielen, eine nagelneue Einbauküche, einen kleinen gemauerten Balkon – und als ich das neu gekachelte, helle Bad mit Badewanne und Duschkabine betrat, war es um mich geschehen. Ich hatte mich verliebt! Wo die Wohnung lag, war auf einmal nicht mehr so wichtig. Und ich bekam den Zuschlag!
Seit 13 Jahren bin ich nun Nord-Barmbeker und habe den Stadtteil und seine Bewohner schnell kennen und schätzen gelernt. Obwohl ich »Werber« bin, mag ich Menschen am liebsten, von denen noch etwas übrigbleibt, wenn man ihr Geld, ihren Besitz, ihren Job und ihren Status von ihnen subtrahiert. Mich befremden graulanghaarige, solariumgegerbte Männer mit Zigarren in röhrenden Sportwagen und riesensonnenbebrillte Frauen, die für 5.000 Euro Kleidung und Accessoires am Körper tragen, aber so dünn sind, dass man ihnen Geld für ein Brötchen zustecken möchte. Ich schätze Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Authentizität und bin der Meinung, das habe ich hier gefunden.
Die Nord-Barmbeker verstellen sich nicht. Schon kurz nach meinem Einzug, als ich beim Metzger Göpp an der Ecke fürs spontane Wohnungs-Einweihungs-Brunch eine Aufschnittplatte ordern wollte, schnell, nichts Großes, bloß keine Umstände, ein Klumpen Mett und etwas Wurst und Käse, wies mich Frau Göpp energisch zurecht: »Also, entweder wir machen das hier richtig, oder gar nicht!«. Von da an hatte ich Barmbek ins Herz geschlossen.
Hier ist Multikulti, aber gut gemischt: Afrika, Indien, Orient, Asien. In der Nähe der Fuhlsbütteler Straße habe ich in einem Fußwegradius von nur 5 Minuten alles, was ich im Alltag brauche: Apotheken, Metzger, Bäckereien, Supermärkte, Drogeriemärkte, ein Asia-Shop, ein Fischgeschäft, eine Postfiliale, Blumenläden, Handyshops, Fahrrad- und Buchhändler, Videotheken, Optiker, Banken und Discounter. Es gibt indische, italienische, asiatische und griechische Restaurants, Kneipen, Imbisse und Cafés. Einige Läden haben bis 22 Uhr geöffnet. Ich fahre 10 Minuten zur Arbeit, mit dem Fahrrad sind es 15. Ich kann zu Fuß in den Stadtpark gehen, bin im Nu an einem S-/U-Bahnhof, dessen Linien fast die ganze Innenstadt abdecken, zum Flughafen ist es ein Katzensprung, der Nachtbus vom Rathausmarkt hält quasi vor der Haustür.
Was will ich in St. Pauli, in Eimsbüttel, in Eppendorf? Barmbek-Nord ist das, was Helvetica und Arial bei den Schriften sind, es ist der mittelalte Gouda unter den Hamburger Stadtteilen, die Jeans, das Graubrot, der Opel Astra. Ehrlich, gut, robust.
Ich fühl mich wohl hier.
Foto: © Sven Sommerfeld | www.midairpublications.de