Wenn man mal einen Moment lang darüber nachdenkt, wie viel Raum Gewohnheiten und Routinen im täglichen Leben einnehmen, ist man überrascht. Kaffeekochen, Zähneputzen, Anziehen, Bettenmachen – wohl jeder Mensch hat bei diesen Tätigkeiten eine individuelle, fast unveränderliche Art, sie durchzuführen. Die Handgriffe, ihre Reihenfolge, die Bewegungsmuster. Routinen erleichtern den Alltag, weil man nicht darüber nachdenken muss, was dort gerade getan wird, oftmals so sehr, dass gleichzeitig etwas anderes erledigt werden kann, das mehr Aufmerksamkeit erfordert: Zeitung lesen etwa, oder Telefonieren. Denn der Ablauf im Hintergrund ist immer gleich. Meistens jedenfalls.
Eine meiner Routinen ist das Abtrocknen nach dem Duschen. Der Griff zum Handtuch, das immer an derselben Stelle neben der Duschkabine hängt. Zuerst die Haare durchrubbeln, dann von oben nach unten abfrottieren, nebenbei den Tag schon mal vorwegnehmen: Was liegt an? Muss eingekauft werden? Stehen Verabredungen an?
An einem Morgen diesen Jahres, Anfang August, wurde diese Routine unterbrochen. Etwas war anders. Eine kleine Stelle am linken Bein oberhalb des Knies, die unter dem Handtuch nicht nachgab, wie sonst, sondern mit einem leichten Druckschmerz dagegen hielt. »Verspannungen« dachte ich, und ging zum Tagesablauf über, ich hatte Urlaub, Zeit und Muße. Kein Grund für beunruhigende Gedanken. Die Gewohnheit, gesund zu sein. Mal eine Erkältung, gelegentlich Kopfschmerzen, selten Rückenbeschwerden. Der Körper benimmt sich.
Doch die Stelle blieb. Unverändert, nicht stärker, nicht schwächer, stemmte sich der gefühlt »mentosgroße« Fremdkörper Berührungen entgegen. »Das wird schon nichts Schlimmes sein«, sagte mein Mann, »ich hab noch nie was von Beinkrebs gehört.« Ich lachte, recht hat er. Weiter mit Urlaub.
Drei Wochen später saß ich bei meinem Hausarzt im Wartezimmer, inzwischen war das vorsichtige morgendliche Betasten schon fast eine neue Routine. Die Untersuchung ging schnell, die Diagnose – gestellt von einem jungen Arzt in Vertretung, auch Hausärzte machen mal Urlaub – klang eindeutig: höchstwahrscheinlich ein Lipom, eine harmlose Fettgeschwulst, ein rein kosmetisches Problem, haben viele, keine Sorge, kann drinbleiben, solang’s nicht stört. Vielen Dank, auf Wiedersehen.
Ich bin ein paar Tage erleichtert, dann google ich »Lipom«. Die Beschreibung passt, nur von Druckschmerz ist nicht die Rede. Ein Kollege, mit einer Ärztin verheiratet, empfiehlt mir einen Internisten. Ich vereinbare einen Termin, lege mich dort auf die Ultraschallliege, das Gel auf meinem Bein ist so kalt wie das graue Septemberwetter draußen. Der Arzt dreht den Monitor in meine Richtung. Im monochromen Pixelbrei erscheint ein Ei. »Das ist es.«, sagt der Internist, »Ungewöhnlich scharf begrenzt. Ich denke, es ist das Beste, ich überweise Sie mal zur Kernspintomographie. Mit Ultraschall kann ich das nicht klar diagnostizieren.« Trotz des Reizwortes »Kernspintomographie« bin ich nicht beunruhigt, mir sind Ärzte, die Fragen haben, lieber als selbstgerechte Halbgötter in Weiß. Ich bekomme eine Praxisempfehlung zum Doktorvater des Internisten, einem niedergelassenen Radiologen.
Keine Woche später liege ich bis zur Hüfte in einer engen Röhre und höre über einen schlechten Kopfhörer NDR Info Radio, während der Apparat, in den ich 20 Minuten lang schubweise hinein- und hinausgefahren werde, ohrenbetäubende Klickgeräusche macht, die dumpf das Radioprogramm zerhacken. Der Radiologe ist ein freundlicher Mann, er nimmt sich Zeit und zeigt mir die erstaunlich scharfen Aufnahmen meines Unterleibs, kein Vergleich mehr zu dem schwammigen Monitorbild beim Ultraschalltermin. »Sie haben Glück.« sagt er. »Mit dieser Art von Tumoren kenne ich mich aus. Darüber habe ich meine Doktorarbeit geschrieben.« Wieder bin ich erstaunt, dass mich das nun erstmals ausgesprochene Wort nicht beunruhigt, vielleicht, weil ich mich auch hier in guten Händen fühle. Es muss nichts Bösartiges sein, sagt der Arzt und erklärt mir ausführlich, was ich da im Bein habe. Ein sogenannter Stammzellentumor oder Weichteiltumor, er entsteht oft an Stellen, wo das Gewebe (etwa durch eine starke Prellung) vorangehend schon einmal traumatisiert wurde. Und es besteht immer die Möglichkeit einer »Entartung«. Doch vor einer Behandlung müsse geklärt werden, ob die Stelle im Bein die einzige im ganzen Körper sei. Ein erneuter Termin wird vereinbart, diesmal eine Thorax-Computertomographie. Nun werde ich doch etwas nachdenklicher. Ich lenke mich ab durch Arbeit und Verabredungen mit Freunden, vermeide es, die gehörten Fachbegriffe zu googeln, verdränge den Gedanken »Was, wenn …« und merke, dass die sorgenvollen Blicke derer, denen ich von meinen Arztbesuchen berichte, ihre (zweifellos aufrichtige) Anteilnahme und ihre aufmunternden Worte mehr an mir nagen als mir nützen. Ich beginne zu erahnen, dass zu viel Mitgefühl Menschen, die (ernsthaft) krank sind, auch Kraft rauben kann, statt ihnen welche zu geben.
Am Nachmittag vor der Computertomographie räume ich im Büro einen Sessel beiseite, als mir wie aus heiterem Himmel ein einzelner kupferfarbener Euro-Cent vor die Füße fällt. Ich stecke ihn in ein separates Fach meines Portemonnaies und denke noch: vielleicht ein Glückspfennig.
Die Untersuchung kurz darauf ist ohne Befund. Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie kleine Zeichen.
Nun ist klar: die Therapie geschieht operativ. Die scharfe Abgrenzung des Tumors zum benachbarten Muskelgewebe erleichtert dessen Entfernung, gleichwohl werde ich zweimal hintereinander ins Krankenhaus müssen: zuerst für eine Biopsie, um anhand der Gewebeprobe zu klären, ob der Tumor gut- oder bösartig ist und danach zur eigentlichen Entfernung. Auch der Radiologe gibt mir wieder eine Empfehlung, er verweist mich an einen von zwei Spezialisten für diese Art von Tumoren in Hamburg. Trotz der weiterhin vorhandenen Ungewissheit darüber, was da in meinem Bein wohnt, kehrt meine seltsam beruhigte Verfassung zurück. Ich bin inzwischen fast dankbar dafür.
Nach der ambulanten Biopsie darf ich schon abends mit einem 5 cm langen Schnitt wieder nach Hause. Die Gewebetypisierung, erklärte mir der etwas zerstreute, aber sehr »professorale«, mich an den Reklamearzt Dr. Best erinnernde Chirurg, sei aufgrund der anzusetzenden Zellkulturen, recht zeitaufwendig: mit etwa zwei Wochen Wartezeit müsse ich rechnen. Ich rechne und warte. Endlich kommt der Anruf aus dem Sekretariat der Klinik: der Tumor ist gutartig. »Dann feiern Sie das heute mal richtig.« sagt die Sekretärin und wir vereinbaren den endgültigen OP-Termin.
Eine runde Woche später werde ich erneut in den OP gefahren. Ich erinnere mich noch, dass ich dabei mit der Anästhesistin scherzte: »Achten Sie aber darauf, dass mir der Herr Doktor ’ne schön dezente Narbe macht.« Nach zwei Stunden erwache ich mit einem Drainageschlauch im Bein. Der Schnitt, wie ich beim ersten Verbandswechsel sehe, ist nun gut doppelt so lang. Egal. Bei einem bösartigen Tumor hätte ich durch das unabdingbare Ausräumen umgebenden Muskelgewebes eine richtige »Grube« im Bein gehabt. Was ist dagegen eine spannenlange Narbe? Ich habe kaum Schmerzen. Drei Tage später darf ich die Klinik verlassen.
Inzwischen sind die Fäden gezogen, die Wunde verheilt gut und ich bin dankbar. Dankbar, dass dieser »Kelch« an mir vorübergegangen ist. Dankbar, dass ich in der Hand guter Ärzte war. Dankbar, dass ich von Menschen umgeben war, die mit halfen und bei mir waren. Dankbar, dass mich dieses Erlebnis nachdenklicher gemacht hat. Vielleicht ist es doch kein so abwegiger Gedanke, mit Mitte 40 über ein Testament oder eine Patientenverfügung nachzudenken. Und froh darüber, rechtzeitig zum Arzt gegangen zu sein, trotz des Gedankens »Aber was, wenn es doch ,Beinkrebs‘ ist?«. Angst ist niemals gut. Sie lähmt, hemmt und schadet.
Ach, und eins noch, bevor ich wieder zur Routine übergehe:
Fröhliche Weihnachten – und bleibt gesund!
Fotos: © formschub