In den letzten Tagen und Wochen begegneten mir Meldungen, Ereignisse und Gedanken auf Websites, bei Twitter, Facebook, in Offline-Medien, in Nachrichtenmeldungen, in meinem persönlichen Umfeld, die in mir ein Gefühl auslösten. Sollte ich es benennen, würde ich sagen: »Ich glaube, es passiert gerade was.« Vielleicht sind die Zusammenhänge, die ich zu sehen glaube, totaler Blödsinn oder längst irgendwo anders formulierte »olle Kamellen«, aber ich möchte sie zumindest einmal hier aufschreiben, auch, um mal etwas Ordnung hineinzubekommen.
Was waren das für Dinge, die dieses Gefühl in mir auslösten? Das hört sich auf den ersten Blick ziemlich abenteuerlich an, denn sie scheinen keinerlei Zusammenhang zu haben: klassische Parteipolitik, die Holzmedien und ihre Krise, Musikverlage, e-Books, Downloads, der Arabische Frühling, die aktuellen Demonstrationen in der Türkei, Shitstorms, Facebook-Partys, das Hochwasser in weiten Teilen Deutschlands, Germany’s Next Topmodel und andere Castingshows, subversive Social-Media-Postings chinesischer Internetnutzer zum Jahrestag der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens, Umweltschutz, Ökostrom und Nachhaltigkeit, die sogenannte »Mass Customization«, die Netz-Initiative #aufschrei sowie einiges andere mehr. All diese Ereignisse kreisen um ein Thema bzw. deuten für mich auf einen Trend hin, für den ich das Wort »Schwarmaktivismus« gesucht und gefunden habe. Dieser Trend hat unmittelbar mit dem Internet zu tun, bewegt sich aber für mein Empfinden zunehmend ins Offline-Leben hinaus. Aber der Reihe nach.
Der finale Auslöser meines Gedankengangs war ein Zitat in dem Videoclip eines Vortrags einer TEDx-Konferenz, auf das ich im Blog von Isabel Bogdan aufmerksam wurde. Der Vortragende, ein Guerilla-Gardening-Aktivist aus Los Angeles, sagte darin:
»… ich weigere mich, Teil dieser vorgefertigten Realität zu sein, die von anderen Menschen hergesteⅡt wurde …«
(Video, Minute 4:49)
Seine Schlussfolgerung daraus war: ich tue selbst etwas, direkt vor meiner Haustür, werde nicht Mitglied einer Partei, warte nicht ab, bis andere für mich die Initiative ergreifen und kümmere mich nicht primär darum, wieviel ich mit meinem Tun bewege, sondern dass ich überhaupt etwas bewege, in einem kleinen, begrenzten Bereich (Selbstversorgung mit pflanzlichen Nahrungsmitteln) und unabhängig von Inititativen, Programmen und Vereinen, die sich Größeres auf die Fahnen geschrieben haben. Bis dahin eigentlich nichts bahnbrechend Neues. Aber ich interpretiere sein Zitat noch ein wenig darüber hinaus.
Bevor es das Internet gab, war der Austausch zwischen »Sendern« und »Empfängern« sowie innerhalb der »Empfänger« stark begrenzt. Politische Meldungen entnahm man dem Fernsehen, dem Radio, der Tagespresse oder engagierte sich selbst politisch aktiv. Der Austausch und die Verbreitung von Nachrichten und Meinungen untereinander vollzog sich durch Telefonieren, Briefe schreiben oder persönliche Gespräche. Um in Kontakt mit den »Sendern« zu treten, konnte man als »Empfänger« so etwas wie »Leserbriefe« schreiben, die nach Belieben veröffentlicht wurden oder man konnte bei Demonstrationen auf die Straße gehen. Das war’s. Dieselben Mechanismen bestimmten weitgehend auch das Kultur- und Alltagsleben. In Zeitungen und Magazinen konnte »man« lesen, welche Modetrends, Popstars oder Gesprächsthemen angesagt waren, die Erscheinungszeiträume folgten einem starren, bestenfalls täglichen Rhythmus. Nischenthemen wurden zwar in Independent-Kanälen behandelt, aber meist auch nur von einem Nischenpublikum konsumiert. Die Aufbereitung der Themen geschah unweigerlich in vorverpackter, gebündelter Form – man musste ein komplettes Magazin kaufen, um nur einen Artikel von persönlichem Interesse zu lesen, ein komplettes Album kaufen, um nur einen Lieblingssong zu besitzen, eine ganze Nachrichtensendung schauen, um einzelne individuell interessante Meldungen wahrzunehmen oder eine Partei wählen, um vielleicht nur einen einzelnen oder wenige persönliche Standpunkte aus dem gesamten Parteiprogramm politisch zu forcieren.
Für die »Sender« war diese Art der Beziehung zu ihren »Empfängern« von großem Vorteil. Sie konnten sich institutionalisieren und solidarisieren. Ob Konzerne, Parteien, Verlage oder Religionsgemeinschaften – die Botschaften und die Bedingungen für deren Abnahme durch die »Empfänger« konnten bequem vorgefertigt im Gesamtpaket gebündelt und verteilt werden, frei nach dem Motto »Alles oder Nichts«. So konnten Einfluss- und Machstrukturen entstehen, mit denen sich die Abnehmer bequem steuern oder zu vielfältigen Kompromissen bewegen ließen, sie konnten ja kaum etwas dagegen tun, das war nun einmal so. In vielen Bereichen, allen voran im Konsum, ist das weiterhin unverändert und wird es wohl auch eine Weile noch bleiben. Tausende Menschen, Erwachsene wie Teenager, kopieren ihren Lebensstil als »Bundle«, wollen aussehen (oder bei Castingshows singen oder tanzen) wie [hier bitte nach Belieben Promi, Popstar, Modestil oder Statusgemeinschaft einfügen], wir alle kaufen Massenprodukte, die vorgefertigt in den Regalen liegen, der Weg zur Individualisierung liegt lediglich in der Kombination unserer Einkäufe, in wenigen, begrenzten Customizing-Optionen wie Ausstattung, Material oder Farbe oder im Do-it-yourself-Verändern der Produkte nach ihrem Kauf. Natürlich erlischt dann sofort die Garantie.
Mit dem Internet begannen diese Machtstrukturen zu zerbrechen, denn die »Empfänger« wurden nun nicht nur bald ebenfalls zu»Sendern«, sondern konnten sich auch untereinander in weitaus größerer Zahl, Frequenz und Intensität miteinander austauschen. Statt größerer Contentpakete zerfielen Botschaften und Medieninhalte in kleinstmögliche Einheiten. Songs statt Alben, Twittermeldungen statt Nachrichtenmagazine, individuelle Standpunkte statt Parteiprogramme. Ständig formieren sich changierende virtuelle Interessengemeinschaften von Fans, Aktivisten, Hobbybetreibern, Zeit und Ort sind egal. Jeder kann bloggen, twittern, posten. Das beunruhigt die gewachsenen Sendermonolithen natürlich, denn plötzlich werden Widerspruch und Kritik in Echtzeit öffentlich, manchmal in beängstigender Zahl und mit aggressiver Energie. Verlage fordern vom Staat Schutzmechanismen für ihre schwindende Relevanz ein, Regierungen überwachen oder manipulieren den Traffic im Netz, Konzerne reagieren mit Ignoranz oder richten mit panischem Feedback und Abmahnungen mehr Schaden als Nutzen für ihre Marken und Kunden an.
Dennoch hatte ich bislang das Gefühl, die Mehrheit der Internetnutzer bediente sich dieser Möglichkeiten des Netzes hauptsächlich auf zwei Arten: entweder totaler Individualismus (»endlich kann ich mich mit meiner Meinung und meinen Themen im Netz selbst verwirklichen«) oder totaler Kollektivismus, wie er bei Shitstorms, Facebookpartys oder der Organisation von Massenprotesten wie z.B. beim Arabischen Frühling bzw. derzeit in der Türkei sichtbar wird. Ich will das gar nicht abwerten, ich finde es toll, dass jedes Nischenthema im Netz seinen Platz findet, ebenso begrüße ich die Macht, die durch die Online-Solidarisierung und -Koordination vieler Einzelner bei Demonstrationen, Petitionen und Diskussionen möglich wird. Dennoch blieb eine dritte, weitaus subtilere – und vielleicht gerade deshalb machtvolle – Einflussmöglichkeit aus meiner Sicht bislang wenig genutzt: der Schwarmaktivismus.
Der Schwarmaktivist (egal welchen Geschlechts) hat zwar ebenfalls keine Lust mehr, seine Themen und Ideologien im Komplettpaket von politischen oder sonstigen Instanzen zu »abonnieren«, aber er flüchtet sich nicht in einen neuen Kollektivismus, indem er nach Anderen sucht, die exakt dasselbe tun wie er und mit diesen wiederum neue Parteien und Interessengruppen gründet oder an bestimmte Orte reist, um diese Gleichgesinnten zu treffen. Stattdessen reicht es ihm vollauf, zu sehen, dass im Netz an unzähligen Stellen und Orten auf der Welt andere Individuen so denken wie er. Er handelt individuell, vor seiner Haustür, mit kleinen, persönlichen Beiträgen in dem Bewusstsein, dass überall auf der Welt Andere etwas Ähnliches tun. Um dieses Bewusstsein zu entwickeln, benötigt er das Netz. Um entsprechend zu handeln, braucht er es nicht. Gegenseitiger Online-Austausch mit Geistesverwandten hingegen ist erwünscht und wird auch genutzt. So beschließen Menschen, zu Ökostromanbietern zu wechseln, Solarkollektoren auf dem Dach zu installieren, zu vegetarischer Ernährung zu wechseln, Fahrgemeinschaften für Vor-Ort-Hilfe oder Spenden für Flutopfer zu organisieren, Obst auf Verkehrsinseln anzupflanzen, kluge und konstruktive Blogartikel zur Verlags- oder Buchhandelskrise zu veröffentlichen, sich persönlich aufgrund eines Online-Denkanstoßes in ihrem ganz persönlichen Umfeld gegen Sexismus im Alltag zu engagieren oder auf andere Weise »die Welt zu retten«. Vereint durch den Überdruss an Lobbyismus, Parteipolitik und des Wartens müde, dass sich von oben oder von selbst etwas ändert – und angetrieben von der Weigerung, zu resignieren, weil man als Einzelner ohnehin machtlos ist. Der Schwarmaktivist muss sich nicht zwingend mit jemandem verabreden, er kann selbst entscheiden, wie und wann er etwas tut – und was. Motiviert durch das Internet und durch die dort sichtbare Gewissheit, dass da draußen Millionen anderer Menschen ebenso denken und sich überlegen, was sie im Kleinen bewegen können, damit trotzdem, bald und überall auf der Welt das Leben jeden Tag wieder ein kleines bisschen besser wird. Und aufgrund meines Gefühls, dass die Zahl derer, die so handeln, täglich zunimmt, möchte ich gern optimistisch sein und glauben: das wird es.