Ich bin kein Literaturübersetzer und es heißt ja, Gedichte zu übersetzen, sei eine der schwierigsten Disziplinen dieser Zunft, aber ich möchte es zumindest einmal versuchen – für eines meiner Lieblingsgedichte. Das Werk stammt von der amerikanischen Schriftstellerin Mary Oliver und trägt im Original den Titel »The Sun«.
Die Sonne
Erblicktest du jemals
im Leben
etwas Schöneresals die Sonne,
die allabendlich
ruhig und stetig
gen Horizont sinktin die Wolken, auf die Hügel,
in das wogende Meer,
wie sie verschwindet –
und wieder aufsteigtaus dem Dunkel
jeden Morgen,
auf der anderen Seite der Welt,
so blütenrot,sich aufschwingend zu ihrer himmlischen Bahn,
eines Morgens etwa, im frühen Sommer,
in strahlender Ferne, so nah –
und empfandest du jemals für etwas
so tiefe Liebe –
glaubst du, weit und breit, in den Sprachen der Welt,
umfasste ein Wort gänzlich
die Freudedie dich durchströmt
wenn die Sonne
dich berührt
und dich wärmt,wenn du dastehst
mit leeren Händen,
oder wandtest auch du dich
ab von der Welt –oder ließest auch du
dich blenden
von Macht,
von Besitz?(Mary Oliver)
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