Nur durch Zufall wurde ich gestern via RT auf diesen Tweet aufmerksam, aber er brachte einen Gedanken, den ich kürzlich ebenfalls hatte, wieder zurück an die Oberfläche. Im Dezember letzten Jahres stieß ich auf das famose Fotoprojekt »Behind The Scars«, bei dem Menschen allen Alters und Geschlechts die Geschichten zu ihren Narben erzählen. Wie wäre es wohl, dachte ich, wenn man diese Idee auf die Twitter- und Blogosphäre übertrüge und etwas ausführlicher als in nur 280 Zeichen – womöglich sogar bebildert – die Geschichten erführe, die Blogleser, Follower und Followees zu ihren Narben berichten könnten? Ich weiß nicht, ob der schöne Brauch des »Blogstöckchens« noch gepflegt wird, aber ich möchte es hiermit gerne versuchen und alle dazu anregen, unter #narbengeschichten von den Begleitumständen ihrer bedeutsamsten Narben zu erzählen.
Zur größten Narbe an meinem Körper gibt es sogar schon einen Blogeintrag, deshalb wähle ich für heute aus meinen sechs vorhandenen Narben eine andere, an deren Ursache ich mich noch erinnere. Es ist eine der ältesten, sie befindet sich an meinem rechten Ringfinger, direkt neben dem obersten Gelenk. Ich trage sie mit mir, seit ich sechs Jahre alt war.
Zu dieser Zeit lebte unsere Familie gerade in Algerien, wo mein Vater von 1973 an für zwei Jahre als Gießereiingenieur für das Industrieunternehmen DIAG arbeitete. Für mich stand im Jahr 1973 mit sechs Jahren die Einschulung an und für alle Eltern schulpflichtiger Kinder gab es in der Nähe unseres Wohnortes die von diesem Unternehmen betriebene Deutsche Schule DIAG, Constantine. Dort besuchte ich die erste und teilweise zweite Klasse, ehe die Familie 1975 wieder zurück nach Deutschland umsiedelte.
Der Schulbus für die überschaubare Zahl an Schülern war ein graublauer VW Bulli mit dem in weiß auf den Seitentüren angebrachten, markanten Logo der Firma DIAG. Jeden Morgen machte der Bus im firmeneigenen »Siedlungscamp« am Stadtrand die Runde, sammelte die Schüler aller Klassen ein und lieferte sie auf dem Schulhof zum Unterricht ab. Nach Ende der vierten Stunde und nach Ende der sechsten Stunde holte der Bulli dann die Kinder nach ihrem jeweiligen Schulschluss wieder ab.
Am »Narbentag« hätte ich eigentlich länger als vier Stunden Unterricht gehabt und wartete in der Klasse auf den Beginn der folgenden Unterrichts, als plötzlich verkündet wurde, dass die folgende(n) Stunden ausfielen. Schnell packte ich meine Sachen zusammen und rannte aus der Schule, denn vielleicht konnte ich ja den Schulbulli noch kriegen, der jeden Moment abfahren müsste. Ich hatte Glück (zunächst), denn der Bus stand noch abfahrbereit auf dem Schulhof, die Seitentür war geöffnet und ich beeilte mich, um ihn noch rechtzeitig zu erreichen. Im selben Moment, als ich am Bus ankam und einsteigen wollte, schloss einer der mitfahrenden Schüler, der mich nicht bemerkte, von innen mit Schwung die Schiebetür des Busses und der Ringfinger meiner Hand, mit der ich zum Einsteigen just in diesem Moment an den Türholm gegriffen hatte, geriet in den Schließmechanismus.
Ich sehe vor meinem geistigen Auge danach nur noch das Bild rotbraun verfärbter Haut um die heilende Wunde, irgendjemand musste sie nach dem Vorfall mit Jod desinfiziert haben. Aber an mehr erinnere ich mich nicht. Ich hatte Glück, der Finger hätte vermutlich auch ohne weiteres noch stärker verletzt oder gar abgetrennt werden können. Die an jenem Tag ausgefallenen Schulstunden kamen mir aber wohl trotz des glimpflichen Ausgangs deutlich weniger zugute, als ich mir zunächst erhofft hatte.
Es liegt im Wesen von Narben, dass sie oft mit Blut und Schmerzen verbunden sind, aber das muss nicht heißen, dass es nicht auch andere Geschichten geben kann, die vielleicht sogar heitere oder skurrile Begleitumstände haben. Und selbst die schmerzvollen und düsteren Erfahrungen mit unseren Narben haben alle etwas Positives gemein: wir haben sie überlebt.
Ich werfe das Stöckchen hiermit in die Blogosphäre und würde mich sehr freuen über eine rege Teilnahme – für einen thematisch gebündelten Zugang könnt Ihr gerne hier in den Kommentaren oder bei Twitter (#narbengeschichten) auf Eure Erlebnisberichte verlinken.
Update: Stöckchenfänger
Ich freu mich, die ersten Blogger haben sich beteiligt! Wer dort weiterlesen mag, lasse sich hier hinüberleiten:
- Im Blog »Weerke« berichtet Andre von einer Rodelnarbe aus seiner Kindheit
- »Lost in awesome« erzählt von einem dramatischen Erlebnis mit Pavianen im Tierpark
- »fragmente« hat gleich sieben frühere Blogeinträge parat, die von eigenen Narben handeln
- »Novemberregen« prägt den schönen Begriff »deppige Narben«, aber die Geschichten dazu lesen sich überhaupt nicht deppig
Einige Twitterer/Blogger haben nun auch noch Links zu ihren bereits früher veröffentlichten Narbengeschichten beigesteuert:
- »Vorspeisenplatte« – »Clackity-clackity-clackity – wie ich durch die Terrassentür lief« (2011)
- »Donnerhall(en)« – »Vernäht« (2012)
Oh, mal wieder ein Stöckchen… das habe ich mal gefangen 🙂
https://weerke.de/2020/07/05/blog-stoeckchen-meine-narbengeschichte/