Während ich diesen Beitrag schreibe, befinde ich mich gerade für zwei Wochen im Urlaub in Dänemark. Die erste Woche verbrachte ich am schönen Limfjord. Letzten Samstag erfolgte dann ein »Umzug« auf die kleine Insel Fanø nördlich von Sylt. Fanø ist recht klein, gerade mal 15,7 km lang und 5,3 km breit und hat rund 3.500 Einwohner, der feine, ebene Sandstrand an der Westküste ist bis zu einem Kilometer breit.
Das Ferienhaus am Limfjord hatte riesige Fenster. Fast die gesamte Westseite des geräumigen Wohnzimmers war eine einzige Fensterfront mit Blick über eine zum Garten gehörende Blumenwiese auf das Wasser des Sallingsund und dahinter auf die Insel Mors. Jeden Abend konnte man vom Wohnzimmer aus den Sonnenuntergang verfolgen und jeden Abend sah er anders aus. Mal war der Himmel wolkenlos und bestand nach dem Versinken der Sonne ausschließlich aus einem zarten Verlauf von Orange über Gelb zu Blau (wobei ich mich immer frage, wie das geht, in der Mitte das Grün als eigentlich logische Mischfarbe auszulassen), mal überspannten flammend rot gesäumte, langgestreckte violette Dramawolken die Meerenge. Ich hatte schon einige Wochen zuvor bei einem längeren Aufenthalt im Havelland während des abendlichen Feierabendausklangs im Innenhof der dortigen Unterkunft bemerkt, dass der Himmel jeden Abend anders aussah. Anderes Licht, unterschiedlich viele Wolken in verschiedensten Formen, andere Farben, andere Stimmung. Ich dachte noch, beim nächsten Mal nehme ich eine kleine Zeitrafferkamera mit, stelle die gleich am ersten Tag auf einem Stativ nach oben gerichtet auf, lasse sie die ganze Zeit meines Aufenthaltes über alle zehn Minuten ein Bild knipsen und schaue mir dann hinterher das Video an, das müsste atemberaubend schön aussehen. Schon vor über 10 Jahren hatte ich hier im Blog schon mal vier sehr verschiedene Fotos desselben Meeresblicks auf Bornholm gepostet. Ich finde es faszinierend, wie ein Ort allein durch Licht, Wetter, Farbe und Zeit total verändert erscheinen kann.
Gestern Nachmittag dann machte ich eine erste kleine Wanderung durch einen Kiefernwald in den Dünen Fanøs. Die karg wirkende, sandige Heidelandschaft besteht auf den ersten Blick kilometerweit fast nur aus Kiefern, Birken, Heidekraut, Moos und trockenen Gräsern. Doch als ich meinen Blick beim Gehen auf die Details der Vegetation zu meinen Füßen richtete, wurde eine bemerkenswerte Vielfalt sichtbar: es gab verschiedene Sorten Heidekraut, mit unterschiedlich voluminösen Blüten in verschiedenen Rosa- und Purpurtönen, im Gras versteckt leuchteten winzige kleine vierblättrige gelbe Blumen, daneben etwas wie Mini-Kornblumen, mit kaum einem Zentimeter großen leuchtendblauen zottigen Kelchen. Es wuchsen fahlgrüne Puschel von Strauchflechten am Boden und an einer Stelle fanden sich zwischen Gras und Binsen sogar zahlreiche rotgrüne Sterne glitzernd lockstoffbetropfter Sonnentaupflanzen. Die vermeintliche Eintönigkeit der Landschaft löste sich in bunte Vielfalt auf, ich musste ihr nur Zeit und Aufmerksamkeit widmen.
Ich denke dann immer: bin ich langweilig? Ein Lieblingswort von Off-Sprechern in Naturdokus ist »spektakulär«. Es kommt beim Publikum offenbar gut an, wenn etwas spektakulär ist, groß, imposant, beeindruckend, gewaltig, anders, ungewöhnlich. Sicher, auch mich faszinieren Riesenwellen, Vulkanausbrüche, Steilküsten, Schluchten und Canyons. Aber genauso interessant sind doch die kleinen, wunderschönen, stillen Dinge. Und sie sind meiner Meinung nach unendlich zahlreicher. Wenn Menschen nach ihren Hobbys und Freizeitbeschäftigungen gefragt werden, antworten manche: Fallschirmspringen, Bergsteigen, Paragliding, Bungeejumping, Wellenreiten. Sie suchen nach dem »Kick«, dem Besonderen, möchten Action, Adrenalin, Herzklopfen. Oder Leute sagen, sie bräuchten Abwechslung, mal ganz was Anderes. Ich frage mich dann oft, wie genau die Menschen überhaupt hinsehen, wenn sie dann dem ganz Neuen gegenüberstehen. Reicht es ihnen, in der Umgebung eine zeitlang eine fremde Sprache zu hören, mal anderes Essen auf dem Teller zu haben, für eine Weile aus dem Auto oder im Vorbeiwandern von weitem ungewohnte Landschaften zu betrachten, ein paar Erinnerungsfotos zu schießen und dann meinen, alles Sehenswerte gesehen zu haben? Wie viele sehen genauer hin? Ist das Neue um des Neuen willen wirklich etwas Neues?
Das gilt nicht nur für Reisen. Ich liebe z.B. den Geschmack von Walderdbeeren. Und gerade deshalb bin ich meist wenig begeistert, wenn im Frühsommer die Erdbeersaison im Einzelhandel beginnt. Dann gibt es zwar »Erdbeeren« zu kaufen, knallrot, groß und saftig, aber der Geschmack ist für mich zumeist enttäuschend: wässrig, zu sauer, wenig aromatisch. Doch diesen Sommer gab es an einigen Ständen Erdbeeren zu kaufen, die einen Namen hatten: »Malwina«. Eine Erdbeersorte, die mir erstmals einen Genuss verschaffte, der an Walderdbeeren erinnert. Und dann frage ich mich: warum interessieren sich Kunden offenbar nur bei einigen Öbsten und Gemüsen für »Sorten«? Man kennt Kartoffelsorten – Linda, Annabelle oder Gala – und vielleicht kaufen einige Kunden diese auch gezielt ein, aufgrund ihres Geschmacks oder ihrer Kocheigenschaften. Sehr vertraut sind die Apfelsorten – Gravensteiner, Granny Smith, Cox Orange, Elstar, Boskop, Golden Delicious, Braeburn oder Jonagold und bestimmt hat fast jeder Apfelliebhaber seinen persönlichen Favoriten. In den meisten Supermärkten kann man zwischen verschiedenen Tomatensorten wählen, im Herbst locken verschiedene Kürbissorten. Aber warum besteht kein Interesse an Gurkensorten, Spinatsorten, Auberginensorten, Paprikasorten, Porreesorten, Zwiebelsorten, Zitronensorten? Ich hätte großes Vergnügen daran, die feinen Unterschiede zu schmecken und beim Kochen auszuprobieren. In einer Dokumentation über Peru lernte ich, dass es dort 50 verschiedene Maissorten gibt (und 3.000 verschiedene endemische Kartoffelsorten!). Sicher sind auch exotische »Trendfrüchte« und -Gemüse wie Yuzu, Pitahaya, Salak, Taro, Acai, Aronia und Goji nicht uninteressant. Aber mein Kick sind Nuancen, Varianten meine Abwechslung!
Bis vor etwa zehn Jahren war es auch völlig normal, dass zwar beim Wein feinste Unterscheidungen gemacht wurden, beim Bier jedoch waren allenfalls Pilsener, Lager, Alt, Kölsch, Weizen, Stout, Porter und Bayerisch Hell oder Dunkel bekannt. Seit dem Aufkommen der »Craft Biere« etwa um das Jahr 2010 erobern sich immer mehr neue und alte, sowohl traditionelle als auch experimentelle Biersorten die Zapfhähne und ich finde das großartig. Gleiches gilt für Kaffee. Noch nie gab es so viele kleine Kaffeeröstereien wie jetzt, die Herkunft, Sorte und Röstung der Kaffeesorten bieten eine unglaubliche Geschmacksvielfalt. Und seit ich selber regelmäßig Brot backe, habe ich große Freude daran, fast jede Woche neue Rezepte mit anderen Mehlen, Zutaten oder Zubereitungsarten auszuprobieren.
Fern halte ich mich hingegen von den kultartigen Auswüchsen, die manche der begrüßenswerten Vielfalt-Trends mit sich bringen. Beim Kaffee etwa sind dies der Hype um Baristas in Coffeeshops, die Kunstform »Latte Art« oder die geradezu explodierenden Sparten des Berufsbildes »Sommelier« – es gibt inzwischen nicht nur Wein- und Käsesommeliers, sondern auch Bier-, Brot-, Sake-, Gin-, Fleisch-, Fisch- und sogar Wassersommeliers. Mich hatte mal jemand gefragt, als ich ihm gegenüber von einigen meiner liebsten Weinsorten schwärmte, ob ich ein Weinkenner sei und ich antwortete, ich kenne viele Weine und wenn mir einer schmeckt, ist das für mich ein guter Wein. Die Freude am Ausprobieren und die persönliche Wahrnehmung, Einordnung und Bewertung der Sinneseindrücke sind das, was mir wichtig ist und was mich inspiriert. Was mir nicht gefällt oder schmeckt, ist nicht weiter interessant für mich und was medial angesagt ist oder hochgelobt wird, muss mir nicht automatisch gefallen. Wenn ich erstmals in einem neuen Restaurant esse, wähle ich aus der Karte entweder etwas, was ich noch nie probiert habe oder etwas, was ich schon Dutzende Male gegessen habe, um zu schmecken, wie speziell dieses Lokal dieses vertraute Gericht interpretiert. Auf diese Weise bin ich einerseits z.B. mit Nattō (–), Bries (±), geräucherten Miesmuscheln (+) und Ceviche (+) in Kontakt gekommen und andererseits zu der Auffassung, dass (zumindest in Deutschland) das Straciatella-Eis die Visitenkarte einer guten Eisdiele und die Wan-Tan-Suppe diejenige eines guten China-Restaurants ist. Man kann bei Rezepten aus ganz wenigen Zutaten unglaublich viel falsch machen und es sind die simplen Gerichte, die solche Fehler am schonungslosesten offenbaren. Wenn ich in einem anderen Land Urlaub mache, streife ich am liebsten ausgiebig durch lokale Lebensmittelgeschäfte oder Supermärkte. Was ist mir vertraut? Was kenne ich, aber anders? Was habe ich noch nie gesehen? Warum gibt es das nur hier und nicht auch woanders? Wie schmeckt das?
Ich dachte oft, ich sei »neugierig«, aber das trifft es nur zum Teil. Denn ich interessiere mich eben nicht nur für das komplett Neue, sondern für die unzähligen Details, Schattierungen und Unterschiede des schon Bekannten. Ich mag es, mir die Welt wie ein Apfelmännchen anzuschauen, je genauer ich hinschaue, je tiefer ich eindringe, desto mehr kann ich entdecken. Das gilt für Reisen, Essen, Trinken, Wandern, Kunst, Musik – für alles. Vielleicht bin ich ja nicht neugierig, sondern tiefgierig.
Das weckt gerade eine schöne Erinnerung, die mir diesen Sommer ins Gedächtnis kam. Eine Schulfreundin aus Salem im Lauenburgischen lud damals zum Geburtstag ein, den wir im nächtlichen Garten feierten, im Herzen des Hochmoors. Das wunderbare Abendlicht hatte ungewöhnliche Farben, und ihr Vater, seines Zeichens Maler und gebürtig aus Worpswede, hat es uns erklärt: es sind Reflexionen des Himmels. Wie Wetter und Klima (was heute problematisch wird) färben Vegetation und Wind kurz- und langfristig die Luftschichten, profaner ausgedrückt: die Gase der Atmosphäre werden gefiltert. Man sieht es mit feinem Auge, Touristen bleibt es verborgen, die Kleinknipskisten nehmen es erst gar nicht auf. In den vergangenen Monaten habe ich zum Fotografieren bekannte Orte wieder aufgesucht und neu gesehen. Erinnerungen sind da wie der Geschmack der Möhre, die der Großvater aus dem Gartenacker zog, die Goldparmäne, der intensive Dillgeruch. Wir gewinnen viel hinzu, wenn wir vergleichen, immer vorausgesetzt, wir können es aus dem Schatz der Erinnerung reproduzieren. Denn der wird bleiben, und im besten Falle wird er immer wieder lebendig.
Ich finde es bei den Erinnerungen auch immer wieder interessant, von welchen Sinnen sie »getriggert« werden. Manchmal habe ich das Gefühl, Riecherinnerungen sind noch tiefer eingeprägt als visuelle oder Geschmackserinnerungen.