Herr Doktor, ich hab’ Hybris!

Vorhin telefonierte ich mit einem Kollegen und meldete mich dabei für eine kurze Abwesenheit ab, um in einem Sanitätshaus ein Rezept meines Orthopäden für temporäre Schuheinlagen einzulösen. Grund: gelegentliche lokale Beschwerden am Fuß während längeren Gehens, kann man behandeln, geht wieder weg. Er habe auch seit einiger Zeit morgens beim Aufstehen so seltsame Symptome am Fuß, berichtete der etwa gleichaltrige Kollege. »Du«, sagte ich, »ich habe eine unbequeme Wahrheit für Dich: Das ist vermutlich das Alter.« – »Hör bloß auf!« winkte er ab.

Dann fiel mir als nächstes ein Posting auf Twitter ins Auge: »Sarah von den Sarggeschichten«, die sich als Bestatterin beruflich, auch durch erklärende Kommunikation, mit dem Thema Tod beschäftigt, fragte: »(…) Du wird 1400 geboren, moderne Medizin gibt es noch nicht. Alles was deinem Körper in deinem Leben hier passiert ist, passiert Dir auch in 1400. Wie lange lebst Du und woran stirbst Du? Bei mir wäre es wohl der Blinddarm mit 13 gewesen.«

Inzwischen gibt es mehrere tausend Antworten auf den Tweet und sehr viele der Verfasser geben an, ohne moderne Diagnostik und Medizin sehr wahrscheinlich ihr heutiges Lebensalter nicht erreicht zu haben. Nicht wenige berichten sogar schon von Behandlungen kurz nach der Geburt, in der Kindheit oder Jugend.

Wenn ich diese Frage beantworte, kann ich mindestens fünf Gelegenheiten aufzählen, bei denen mich der Sensenmann ohne rechtzeitige Behandlung bereits jedesmal hätte abholen können: eine akute Blinddarmentzündung (etwa mit 15), eine Hodentorsion (mit ca. 17), ein gutartiger »mesenchymaler Tumor« im Oberschenkel, der jedoch unbehandelt durchaus Entartungspotenzial hat (mit 45), ein sich plötzlich mit rasenden Koliken manifestierender Nierenstein (mit 49) und schließlich – bislang erfolgreich per OP und Rezidiv-Bestrahlung behandelter – Prostatakrebs (mit 52). Dazu kommen noch einige »Glücksfälle« nichtmedizinischer Art, bei denen ich einfach großes Glück hatte, dass mir bei Stürzen, Unfällen und Ähnlichem nicht das passiert ist, was im schlimmsten Fall hätte passieren können – meine Beerdigung.

Wenn man das den Taten und Äußerungen etlicher Menschen gegenüberstellt, die sich im Internet abfällig über Krankheit, Tod, Behinderung, Unfallschäden, Immunsuppression und die davon betroffenen Personen äußern, muss man zwangsläufig vier Schlussfolgerungen ziehen:

  • Erstens scheint es eine ganze Menge Menschen zu geben, die in ihrem Leben noch niemals ernsthaft krank gewesen sind.
  • Zweitens scheinen diese Leute zu glauben, ihre beständige Gesundheit sei so etwas wie ein Zeitschriftenabonnement, das so lange geliefert wird, bis sie es persönlich abbestellen.
  • Drittens denken vermutlich ebenso viele, ihr womöglich bewusst »gesunder Lebenswandel« ohne Zigaretten, Alkohol, mit gesunder Ernährung, viel Sport etc. würde sie auch in ihrem künftigen Leben vor jeglicher Erkrankung bewahren.
  • Und viertens scheint dieses Geschenk der stabilen Gesundheit (denn es ist kein Verdienst, sondern eine Mischung aus Zufall und Glück) bei einer reichlich großen Gruppe nicht zu sowas wie Dankbarkeit oder Demut zu führen, sondern zu Hochmut und Arroganz.

Ich selbst bin dankbar dafür, erkrankt gewesen und wieder gesund geworden zu sein. Ich merke, dass mich das wertschätzender gegenüber dem Leben an sich macht und auch mitfühlender gegenüber Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft krank bzw. behandlungsbedürftig sind. Ich merke auch, dass das Alter (hier schließe ich wieder den Kreis zum oben erwähnten Telefonat mit dem Kollegen) nach mehreren glücklich überwundenen, riskanten Diagnosen etwas von seinem Schrecken verliert. Denn die einzige Alternative zum Altwerden ist leider, jünger zu sterben. Und deshalb ist älter werden nach jeder gut überstandenen Erkrankung eigentlich die Belohnung für den Behandlungserfolg. Vielleicht können nur dauerhaft Gesunde lautstark das Altern beklagen, denn es ist das Einzige, was sie zu beklagen haben. Frohlocken sollten sie. Aber, ach.

Was ebenfalls auffällt, ist, dass viele derjenigen, die vom Turm ihres gesegneten Wohlbefindens herunter die Kranken und Leidenden schmähen oder missachten, dem konservativen, neoliberalen und gerne auch neurechten Spektrum zuzuordnen sind. Fast schon salonfähig scheint die Floskel vom »gesunden Immunsystem«, dem Mikroben aller Art nichts anhaben können, im schlimmsten Fall predigen Unbelehrbare gar vom »Volkskörper«, dessen schwache Glieder zu entfernen seien.

»Sie ahnten nichts …«, würde eine unheilvoll sonore Stimme in einer Reality-Crime-Doku nun raunen. Denn auch der Mietvertrag im Gesundheitsturm kann vom Leben und dem Zufall jederzeit gekündigt werden. Es kann auch dich treffen, als Selbstoptimierer, Kraftstrotzer, Leistungsträger, Erfolgsmensch oder Rechtsaußenflirter jeden Geschlechts – egal, wie viele grüne Smoothies oder Vitamintabletten du dir eingeworfen hast, ob du viermal die Woche ins Fitnessstudio gehst oder Oma und Uropa fast hundert Jahre alt geworden sind. Ein Spalt in deiner Maske (so du sie trägst), während du im Supermarkt neben einer Person mit Grippe oder COVID-19 anstehst. Ein zufälliger Schreibfehler bei der Replikation deiner DNA während der Zellteilung, der zu einer bösartigen Mutation führt. Ein ungünstiger Aufprall bei einem Sturz. Eine infizierte Wunde. Ein Verkehrsunfall, ganz ohne eigene Schuld. Infektiöse Keime im Essen oder unbemerkte Giftstoffe in der Umwelt, in deiner Wohnung oder am Arbeitsplatz. Eine genetische Veranlagung, von der du nichts ahnst. Ein Aneurysma vielleicht. Du magst dich sicher fühlen, gesegnet, auserwählt, gefeit. Aber du bist es keineswegs. Dein Immunsystem ist nicht allmächtig, dein Körper nicht unverwundbar, der Zufall liebt dich nicht für immer. Und plötzlich stehst du unten am Fuß des Turms, brauchst eine langwierige Therapie mit eventuell unklarer Prognose oder siehst dich mit lebenslangen Folgen konfrontiert, und die Gesunden, Starken lachen auf dich herunter, verweigern dir die Behandlung, wollen dich als lästigen, mitgeschleppten Ballast zurücklassen, sprechen dir dein Recht auf Gesundheit oder ein Leben ohne Schmerzen ab. Selber schuld, werden sie sagen. »Stimmt nicht!«, möchtest du dann zurückrufen, ich bin doch einer von euch. Aber niemand von denen hört dir mehr zu.

Gesundheit ist ein Geschenk. Krankheit ist weder Schuld noch Strafe.
Und Älterwerden allein ist eigentlich gar nicht so schlimm.
 

Gesund geblieben? Schwein gehabt!

Destatis »Datenreport 2021«, Kapitel 9: Gesundheit – Gesundheitszustand der Bevölkerung