Naturtrüb

Als ich heute morgen von selbst gegen 10:30 Uhr aufwachte, stand ich kurz auf, zog die Gardinen im Schlafzimmer zur Hälfte auf und öffnete die Balkontür (die ist bei mir im Schlafzimmer, weil ich das größere balkonlose Zimmer als Wohnzimmer nutze). Von draußen strömte warme Frühlingsluft ins Zimmer, ich hörte von der Straße Leute, die ein Auto be- oder entluden und sich dabei unterhielten, irgendwo in einem Baum zwitscherte eine Kohlmeise ihr Frühlingslied, in der Ferne rauschte eine U-Bahn auf dem Viadukt vorbei. Dazu wehte plötzlich noch der Duft frischgebackenen Weizenbrotes herein, der mich in Gedanken mehrere Jahrzehnte in die Vergangenheit katapultierte, als ich irgendwo im Mittelmeerraum auf einem Markt oder in einem Geschäft exakt diesen Brotduft in der Nase hatte: getreidig, körnig, rösch und röstig und ein kleines bisschen angekohlt. Pizzateig aus dem Holzofen riecht manchmal sehr ähnlich.

Das klingt jetzt erstmal alles sehr angenehm, nostalgisch und schön, aber durch dieses mentale »Zurückkatapultieren« kam auch etwas zutage, was ich mittlerweile immer häufiger spüre: der Unterschied zwischen solchen Momenten, wie sie sich früher™ für mich anfühlten und der Wahrnehmung, wie ich sie heute empfinde. Es ist ein Gefühl, das nicht mehr so »pur« ist, wäre es ein Lebensmittel, stünde auf der Verpackung »Kann Spuren von Wehmut und Besorgnis enthalten«.

Ich gehe mit Nachrichtenmeldungen und meiner Nutzung des Internets vergleichsweise sorgsam um, um nicht dem »Doomscrolling« zu verfallen. Ich bin kaum Mitglied in irgendwelchen »Gruppen«, ich lese so gut wie nie Kommentare unter Medienmeldungen oder Postings (insbesondere zu »kontroversen« Themen), ich kommentiere so etwas auch selbst so gut wie nie. Internetleute, die in meinem Netzwerk rumpöbeln, schwurbeln, hetzen, andere beleidigen oder aggressiv werden, schalte ich stumm oder blocke sie. Ich habe zu fast allen Themen eine eigene Meinung, die ich aber nicht unentwegt ins Netz blasen muss. Der Vorteil einer hohen Userdichte ist nämlich, dass es genug Menschen gibt, die zu einem bestimmten Thema ziemlich genau meinen eigenen Standpunkt vertreten, somit reicht es bisweilen, wenn ich deren Beitrag zu etwas, das mich bewegt, teile, anstatt das Ganze noch mal mit Synonymen aber inhaltsgleich selbst zu verfassen. Ich halte mich für einen insgesamt recht gut informierten Menschen, über die zahllosen analogen und digitalen Kanäle bekomme ich mehrfach am Tag das Weltgeschehen zugespielt sowie die Aktionen und Reaktionen der damit konfrontierten Weltbewohner. Ich vertraue der Wissenschaft außerordentlich, das begann in zarter Kindheit mit dem Interesse an Paläontologie (Dinosaurier!), setzte sich in der Schule fort mit hohem Interesse an zunächst »Sachkunde«, später den naturwissenschaftlichen Fächern, einem Interesse für Science-Fiction-Literatur und der Lektüre hunderter (Sach-)Bücher zu naturwissenschaftlichen Themen, insbesondere Chemie, Psychologie, Hirnforschung, Astronomie, Kosmologie. Nichts liegt mir ferner als Schwurbelkram, Esoterik, Homööpathie und auch mit Religion kann ich nicht sonderlich viel anfangen.

Deshalb bin ich auch mit ziemlicher Gewissheit davon überzeugt, dass es unserem Planeten nicht sonderlich gut geht (ungeachtet der obendraufkommenden Dinge wie z.B. COVID und geopolitische Krisen) und dass zu viele Menschen auf der Welt, mit und ohne politische Verantwortung, nach wie vor entweder nicht willens und/oder in der Lage sind, daran etwas zu ändern. Die Zukunft wird mit ziemlicher Sicherheit aufgrund der Klimakrise auf unfassbar vielen Gebieten in unser aller Alltag drastisch unangenehmer werden. Der überbordende Lebensstil und etliche Gewohnheiten, die uns im wahrsten Sinne lieb und teuer sind, sind Gift für Klima, Natur und Umwelt. Ich gehöre zu der Generation, die im Verlauf ihres Lebens lernte, wie schädlich das, was ich als »normal« ansah, tatsächlich werden kann, wenn zu viele Menschen es zu ausufernd, zu unbekümmert und unvermindert unter Rückgriff auf fossile Rohstoffe tun, ob z.B. Autofahren, Fliegen, Kreuzfahrten machen, Fleisch essen, Ressourcen verschwenden oder Heizen. Ich bin seit mehreren Jahrzehnten dabei, selbst etwas an meinem Verhalten zu ändern, aber ich weiß auch, dass die Bemühungen aller Einzelpersonen nicht ausreichen werden, um das Schlimmste abzuwenden, dafür bräuchte es viel größere, kraftvollere, systemische Initiativen und Maßnahmen seitens der Politik und die lassen leider nach wie vor quälend lange auf sich warten. Ich bin überzeugt davon, dass die drastischen Auswirkungen der Klimakrise in wenigen Jahren den Verantwortlichen all ihre Pläne links und rechts um die Ohren hauen wird, die mit allzu geruhsamen Laufzeiten vermeintliche Gegenmaßnahmen verkünden – »Bis 2030 werden wir …«, »Ab 2050 ist vorgesehen, dass …«, »Wir streben an, dass nach 2035 …«. Climate crisis is what happens to you while you’re busy making other plans. (ab dem 3. Wort: © John Lennon)

Doch zurück zu meinem sonntäglichen Bettgelümmel. Ich bin nach wie vor in der Lage, das Leben schön zu finden, bin – glücklicherweise – nicht depressiv (das gab es mal, aber es liegt mittlerweile 16 Jahre zurück), ich kann schöne Momente genießen, ich liebe die Natur, genussvolles Essen, Muße und Ruhe, den Duft der Jahreszeiten. Aber diese Gefühle sind seit geraumer Zeit immer öfter durchsetzt von diesem oben genannten Gefühl der Melancholie, sie sind nicht mehr so pur, so unbefangen, so »allesdurchdringend« wie ich sie lange Zeit kannte. Ich sehe saftige Wiesen und denke »Schade, dass das nicht so bleiben wird«, ich höre den Sprecher in einer Naturdoku sagen »Diese weithin unberührte Region ist ein Paradies für Flora und Fauna« und denke »… noch«. Ich sehe Eltern mit kleinen Kindern und hoffe, dass sie auch als Erwachsene noch ein friedliches und sorgenfreies Lebensumfeld haben werden, gleichzeitig zweifele ich daran. Ich höre meinen Neffen vom Beginn seiner geplanten Ausbildung erzählen und sorge mich trotzdem um seine Zukunft. Diese wachsende Durchdringung des eigentlich Schönen von Zweifeln, Sorge, Angst und auch Pessimismus – obwohl ich mich weigere, meinen Optimismus aufzugeben und fatalistisch, zynisch, nihilistisch zu werden – macht mich zwar traurig, aber ich will mir auch nicht wünschen, dass sie verschwindet, so dass ich auch heute jeden schönen Moment wieder zu 100% so ungetrübt empfinden könnte wie »damals«, denn das wäre Verdrängung. Und davon gibt es ja beileibe schon genug auf der Welt.

Es hat ein wenig davon, wie schöne Momente sich anfühlen könnten, wenn man z.B. entweder sehr krank oder sehr alt ist. Wenn das Schöne im Leben und auf der Welt unerschöpflich zu sein scheint, läuft es Gefahr, an Wert und Besonderheit zu verlieren. Wenn ich mir aber bewusst werde, dass es begrenzt oder bedroht ist, erscheinen die schönen Dinge um so kostbarer und schützenswerter. Vielleicht hat das ja auch sein Gutes.

Und nun wünsche ich allen einen schönen, wirklich schönen Sonntag.

Es sind die kleinen Dinge.