Uhrschlamm

Letzte Woche, während meines Kurzurlaubs in München, war ich in größerer Runde zu Gast im »Giesinger Bräustüberl«. Es war ein semi-geschäftliches Treffen mit dem Mann, am Vorabend einer Statistiker-Konferenz und es gab deftige Speisen und reichlich bayerisches Bier. Gegen Ende der Tafelrunde wurde ich erstmals Zeuge, wie einer der Gäste mit seiner Apple Watch seine Rechnung beglich. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber am Tisch entwickelte sich daraufhin ein kurzes Gespräch über Armbanduhren – wer (noch) keine Smartwatch hat, wer besitzt eine »normale« Uhr, mit der man nichts bezahlen kann, wer trägt keine und aus welchem Grund nicht, beziehungsweise wer trägt eine und wieso.

Ich trage seit mindestens 20 Jahren keine Armbanduhren mehr, hauptsächlich aus zwei eher praktischen Gründen: seit ich ständig ein Handy bzw. Smartphone bei mir habe, geschehen für mich der Zugriff und der Blick aufs Display nahezu genauso schnell wie das Hochschieben des Ärmels und der Blick auf die Armbanduhr. Außerdem hat sich auch die Anzahl der Uhren im privaten und öffentlichen Raum gefühlt vervielfacht: auf dem Computermonitor, an der Mikrowelle, auf der Wanduhr, an Straßenkreuzungen, Ladenfassaden, in Schaufenstern, an Haltestellen und Bahnhöfen – überall sind analoge und digitale Zeitmesser anzutreffen. Man muss nicht mehr nach der Uhrzeit suchen, man wird quasi von ihr auf Schritt und Tritt verfolgt.
Der zweite Grund ist, dass mich mit den Jahren – insbesondere in warmen Sommermonaten – das schwitzige Gefühl unter dem Armband und die damit verbundene unweigerliche allmähliche Ansammlung von »Schmulk« auf und an dem Riemen störte, ich fand es zunehmend unangenehm und unhygienisch, egal, ob es ein metallenes Gliederarmband war oder eines aus Leder, Kunststoff, Gummi oder Stoff.

Das Gespräch am Wirtshaustisch erinnerte mich jedoch daran, dass ich einst ein begeisterter Armbanduhrenträger war, mir oft und gern ausgefallene Uhren zulegte und sie regelrecht »sammelte«. Mit »ausgefallen« meine ich keineswegs teuer. Nobeluhren interessieren mich nicht die Bohne, überteuerte Protzchronometer lassen mich kalt. Nicht, weil sie außerhalb meines Budgets liegen – selbst wenn ich alles Geld der Welt besäße, würde ich mir keine Luxusuhr zulegen. Geh weg, mir egal, kein Interesse, langweilig, passt nicht zu mir.

Mein »ausgefallen« ist anders definiert: originell, formschön und auffällig – aber nicht schrill. Und tatsächlich bewahre ich in einer Schublade die schönsten meiner Uhren immer noch auf. Obwohl ich sie nicht mehr trage, konnte ich mich bisher nicht davon trennen. Alle sind noch funktionstüchtig, wenngleich ohne Batterien gelagert. Es folgt nun ein kleiner Blick in mein privates »Uhrenmuseum«, ungefähr in der Reihenfolge ihrer damaligen Anschaffung:

1983 brachte der japanische Uhrenhersteller SEIKO eine kleine Sensation auf den Markt: eine der ersten Digitaluhren mit Matrix-Display, etlichen Zeitmess- und Alarmfunktionen und – einem Textspeicher! Man konnte in sieben »Memo-Channels« jeweils einen alphanumerischen Textschnipsel mit sagenhaften 16 Zeichen Länge ablegen, also insgesamt 112 Zeichen Speicherkapazität, das reichte manchmal sogar für einen elektronischen Spickzettel. Dieses Nerdjuwel musste ich unbedingt haben und so setzte ich die »Multi-Memory-Watch« D409 S auf meinen nächsten Geburtstags-Wunschzettel – und wurde nicht enttäuscht.

Etwa zur gleichen Zeit begann der Siegeszug der »swatch« Plastik-Uhren. Die Uhr wurde zum erschwinglichen Modeaccessoire, jedes Jahr gab es neue Modelle mit schlichten oder exzentrischen Designs, in gedeckten Farben oder kunterbunt. Ich besaß etwa 5–6 davon, manche habe ich als »Sammlerstücke« nie getragen, in meiner Uhrenschublade befindet sich inzwischen keine mehr. Eine, an die ich mich aufgrund dieses Fotos noch erinnern kann und die ich eine Zeitlang trug, war das Modell »Pinstripe« aus der Spring Summer Collection 1985.

Von dem ebenfalls in der Schweiz ansässigen Uhrenhersteller MONDAINE kam 1986 die Handgelenksversion der klassischen »Bahnhofsuhr« auf den Markt. Bis heute finde ich es ein bisschen schade, dass es nicht gelang, von der großen Mutter-Uhr auch das typische kurze Verharren des Sekundenzeigers auf der »Zwölf« und den nachfolgenden kleinen Ruck des Minutenzeigers zum nächsten Markierungsstrich auf die Armbanduhr-Version zu übertragen. Die Uhr wird bis heute in leicht veränderter Form immer noch produziert. Ein Klassiker.

Dass man gar nicht unbedingt komplett sichtbare Zeiger oder Zahlen und Markierungen auf dem Zifferblatt braucht, beweist dieses schöne und schlichte Exemplar, das mir bis heute ausgesprochen gut gefällt. Ein Hersteller oder Fabrikat ist auf dem Gehäuse nicht vermerkt. Ein besonderes Detail sind die beiden weißen Segmente des Stunden- und Minutenzeigers – sie wurden phosphoreszierend beschichtet und glühen blassgrün im Dunkeln. Das Gehäuse ist tatsächlich nicht aus Kunststoff, sondern aus mattschwarz beschichtetem Metall.

Als Modell für Menschen mit guter Sehkraft (in der Schublade ohne Armband aufbewahrt) präsentiert sich dieses originelle chromglänzende Exemplar mit seinen zwei winzigen Zifferblättern, eins für Stunden und Minuten und eins nur für die Sekunden. Auch hier wurde verständlicherweise aus Platzgründen auf Zahlen und Markierungen verzichtet. Auf der Rückseite des Gehäuses ist der Schriftzug »MODERN TIME« eingraviert, es handelt sich wohl um eine Mode-Uhr – nicht besonders kostspielig, aber trotzdem schön schlicht und in puncto Design mit dem »gewissen Etwas«, wie ich nach wie vor finde.

An Wanduhren und Wecker der 1970er Jahre erinnert dieses deutlich später erworbene Modell im Retro-Design: eine »analoge Digitaluhr«, bei der zur Abwechslung mal der »Zeiger« als dünne Linie stillsteht, sich aber dafür die Scheiben der Zifferblätter darunter drehen. Auch die Anordnung der Zeitanzeige ist »andersherum«: Die Scheibe mit der Stundenanzeige ist die größte, die mit dem kleinen roten Dreieck der Sekundenanzeige hat den kleinsten Radius. Genauso schön metallisch glänzend verkapselt wie die zuvor gezeigte Uhr mit den Mini-Zifferblättern, aber etwas »maskuliner« im Design.

Noch einmal die Marke SEIKO, aber diesmal deutlich moderner als beim ersten gezeigten Modell. Ungefähr 1990 brachte das Unternehmen Uhrenmodelle unter dem Namen KINETIC auf den Markt. Das Besondere: es waren »Automatik-Quartzuhren«. Wie frühere Automatik-Uhren bezogen sie die Energie für ihren Antrieb aus den Bewegungen des Trägers, aber hier wird kein mechanisches Uhrwerk aufgezogen, sondern eine Batterie aufgeladen, die das Quartzuhrwerk speist. Ein Batteriewechsel ist somit nicht mehr erforderlich. Cool finden, haben wollen.

Ein Konkurrent der swatch-Uhren in einem vergleichbaren Preissegment, mit ständig neuen Kollektionen, aber einem deutlich nostalgischeren Designkonzept, ist die 1984 gegründete amerikanische Uhrenhersteller FOSSIL. Bei diesem Exemplar irgendwann aus den 1990er Jahren hatten es mir die Farb- und Formzitate technischer Geräte aus den USA der späten 1950er Jahren angetan, wie z.B. bei den damaligen Straßenkreuzern oder Kühlschränken. Auch der Schriftzug der Uhrenmarke wechselte bei FOSSIL oft passend zum Design der jeweiligen Uhr.

Meine zweite FOSSIL-Uhr bewegt sich stilistisch irgendwo zwischen 30er/40er-Jahre Retro-Design und Steampunk. Statt einem glänzend silbernen Uhrengehäuse besitzt sie eins, das an mattes Messing erinnert und mit künstlicher Patina auf alt getrimmt ist. Das Modell stammt ebenfalls aus den 1990er Jahren, etwa als auch in meinem Tätigkeitsfeld Grafik-Design gerade eine Retro-Welle »angesagt« war und Designer wie Charles Spencer Anderson oder die Duffy Design Group mit ihren nostalgischen Entwürfen Erfolge feierten. Die Anschaffung der zu diesem Trend passenden Uhr war damit ein Muss.

Wer in den Achtziger Jahren die Schulbank drückte, erinnert sich sicherlich noch an die glühenden Ziffern auf den Displays der damals gängigen programmierbaren wissenschaftlichen Taschenrechner, wie z.B. dem TI-57 von Texas Instruments. Diese Vorläufer- bzw. Konkurrenztechnik mit ihren relativ stromfressenden LED-Segmenten fand sich auch in einigen frühen Digitaluhren. Sie zeigten zwecks Schonung der Batterie die Zeit nur auf Knopfdruck für einige Sekunden an. Dieses schöne Exemplar habe ich Anfang der 2000er Jahre für wenig Geld auf einem Flohmarkt ergattert und mit einem neuen Armband versehen.

Unerfüllte Uhrenwünsche

Eine außergewöhnliche Uhr des Designers Tian Harlan, die in den 1980er/1990er Jahren für längere Zeit auf dem Markt war und mir sehr gefiel, war die CHROMACHRON. Sie nannte sich »Farb-Zeit-Uhr« (der Werbeslogan lautete »Die Uhr, die Zeit hat«) und besaß keinerlei Zeiger, sondern nur eine einzige schwarze Scheibe, deren 30°-Aussparung über den zwölf verschiedenfarbigen Stundensegmente des »Zifferblatts« rotierte und nur ungefähr anzeigte, wie spät es gerade war. Sicherlich kam man mit etwas Übung auf eine Genauigkeit von ±5 Minuten, aber diese Uhr war definitiv nichts für Pünktlichkeitsfanatiker. Lange hortete ich einen Prospekt dieses in limitierten Auflagen produzierten Designerstücks, aber der damalige Kaufpreis von mehreren hundert DM lag weit außerhalb meines Budgets – und so blieb es beim Begehren.

Noch unerreichbarer war eine ebenfalls limitierte Uhr nach einem Entwurf von Andy Warhol, die Ende der 1980er Jahre vom Uhrenhersteller MOVADO angeboten wurde. Der Name des Kunstobjekts war »Times/5« (Ansicht: siehe Link 1 / Link 2). Es war eigentlich nicht nur eine Armbanduhr, sondern umfasste fünf rechteckige, voll funktionale Uhrengehäuse, die durch Scharniere miteinander zu einem breiten tragbaren Armband verbunden waren. Auf den fünf zahlenlosen Zifferblättern, unter den signalroten Zeigern, waren verschiedene von Andy Warhol aufgenommene Schwarzweiß-Fotografien der Skyline Manhattans zu sehen. Am nächsten durfte ich dieser Uhr einmal im Schaufenster eines Juweliers/Uhrenhändlers in Münster kommen, wo ich zu dieser Zeit studierte und so konnte ich das Objekt der Beigierde zumindest einmal aus 30 cm Entfernung durchs Sicherheitsglas anschmachten. Für die Uhr wurde damals nach meiner Erinnerung ein Preis von 10.000–15.000 DM verlangt, was natürlich jeden finanzierbaren Rahmen sprengte. Hätte ich sie mir allerdings damals leisten können, wäre sie heute (allerdings nur ungetragen) ein Vielfaches wert.

Seit 1999 bin ich ununterbrochen im Besitz eines Handys oder Smartphones und so hießen meine Zeitmesser fortan Siemens C25, Nokia 3310, Motorola RAZR V3, Nokia 6131 oder iPhone. Die kann ich zwar nicht am Handgelenk tragen – aber das Bezahlen geht inzwischen damit genauso gut wie mit einer Armbanduhr.