Wenn bei mir ein »Fernsehabend« auf dem Sofa ansteht, teile ich das Programm gerne in zwei Abschnitte: der frühe Abschnitt vollzieht sich – außer es wird ein aufwendigeres, mehrgängiges Menü serviert – meist zeitgleich mit der Einnahme des warmen oder kalten Abendessens und besteht zumeist aus einer interessanten Dokumentation. Nach dem Essen wechselt das Programm dann zu Serienfolgen oder Speilfilmen von der beharrlich nicht schrumpfenden Watchlist.
Bei den Dokumentationen stellen Reise-/Länder-, Tier- oder Naturdokus einen großen Teil, ein zweites großes Segment widmet sich wissenschaftlichen Themen. Von Kindesbeinen an bin ich fasziniert von Wissenschaft, es begann mit »WAS IST WAS?-Büchern«, TIME LIFE Bildbänden und allerlei weiteren Sachbüchern, erst aus der Schulbibliothek, später auch in Form eigener Anschaffungen für die heimische Bibliothek. Hirnforschung, Psychologie, Mathematik, Physik, Astronomie, Chemie, Informatik – wenn das Medium ein Thema fesselnd und anschaulich rüberbringt, bin ich für alles offen. Gute Wissenschaftler geben nicht auf, wenn ein Experiment misslingt, sie versuchen, den Grund herauszufinden und versuchen, es zu wiederholen. Wenn ein Experiment einer ihrer Theorien widerspricht, sind sie höchstens kurz frustriert, dann versuchen sie auf Basis der neuen Daten ihre Prämissen anzupassen und forschen weiter. Glauben steht über wissen, erforschen über vermuten. Das kommt meiner eigenen Attitüde sehr nahe, deshalb sind mir Wissenschaftler vom Wesen her oft sehr sympathisch.
Vor zwei Tagen sah ich auf dem GEO-Channel bei Amazon Prime die Teilchenphysik-Doku »Particle Fever« aus dem Jahre 2013, die auch auf YouTube zu finden ist. Größtenteils im O-Ton und ohne darübergelegten Off-Kommentar dokumentiert sie die Arbeit von Wissenschaftlern auf der Suche nach dem »Gottesteilchen« genannten Elementarteilchen namens »Higgs-Boson« im LHC. Der LHC oder »Large Hadron Collider« ist ein Teilchenbeschleuniger am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf (mehr bei Wikipedia).
»Zum ersten Mal kann das Publikum in einem Film einen bedeutenden und inspirierenden wissenschaftlichen Durchbruch aus der ersten Reihe miterleben, während er geschieht. ›Particle Fever‹ begleitet sechs brillante Wissenschaftler beim Start des Large Hadron Collider, dem größten und teuersten Experiment in der Geschichte der Menschheit, das an die Grenzen des menschlichen Erfindergeistes stößt.
Auf der Suche nach den Geheimnissen des Universums haben sich 10.000 Wissenschaftler aus über 100 Ländern zusammengetan, um ein einziges Ziel zu verfolgen: die Bedingungen, die nur wenige Augenblicke nach dem Urknall herrschten, zu reproduzieren und das »Higgs-Boson« zu finden – ein Elementarteilchen, das möglicherweise den Ursprung aller Materie erklären könnte. Doch die Protagonisten stehen vor einer noch größeren Frage: Haben wir bereits unsere Grenzen erreicht, wenn es darum geht zu verstehen, warum wir existieren?
Die Dokumentation ist entstanden unter der Regie von Mark Levinson, einem Physiker, der zum Filmemacher wurde, auf Anregung und Initiative des Produzenten David Kaplan und meisterhaft geschnitten von Walter Murch (›Apocalypse Now‹, ›Der englische Patient‹, ›Der Pate‹-Trilogie). ›Particle Fever‹ ist eine Hommage an den Forschergeist und erzählt die menschlichen Geschichten hinter der gigantischen Maschine des LHC.«
(Übersetzt und leicht editiert nach dem Begleittext bei YouTube)
Zwei Zitate der interviewten Forscher sind mir dabei besonders aufgefallen, denn sie spiegeln eine Geisteshaltung wider, die in der Gegenwart immer seltener zu werden scheint: das Hinterfragen dessen, ob alles, in das Geld und Zeit investiert wird, wirklich immer einen messbaren materiellen oder ökonomischen Nutzen erbringen muss und das Verhältnis zu objektiver Wahrheit und belegbaren Fakten. Deshalb möchte ich die von mir transkribierten Zitate hier gerne weitergeben, verbunden mit der Anregung, die Dokumentation bei Interesse komplett anzuschauen.
David Kaplan, Theoretischer Physiker am CERN:
»Es fällt Physikern schwer, zu erklären, warum wir diese Experimente machen. Die Maschine dient nicht militärischen Zwecken. Es sind keine kommerziellen Zwecke. Es geht darum, die Grundgesetze der Physik zu verstehen. (…) Man kann es damit vergleichen, einen Menschen auf den Mond zu schicken. Es ist eine gemeinsame Anstrengung. Ich würde sogar sagen, noch größer. Es ist mehr wie der Bau der Pyramiden. Warum machten die Ägypter das? Warum machen wir das? (…) Wir reproduzieren die Physik, die Bedingungen gleich nach dem Urknall. Wir machen das in diesem Collider, damit wir sehen können, wie es war, als das Universum entstand. Wir versuchen die Grundgesetze der Natur zu verstehen. (…) Falls das Higgs-Boson tatsächlich existiert, werden wir es entdecken.«Zwischenfrage:
»Ich bin Ökonom (…) Nehmen wir an sie sind erfolgreich und alles klappt so wie geplant. Was haben wir davon? Was ist der ökonomische Ertrag? Womit rechtfertigen Sie das alles?«Kaplan:
(eigenes Transkript)
»Was ist der finanzielle Gewinn eines solchen Experimentes und aus den Erkenntnissen, die wir daraus gewinnen? Es gibt eine sehr einfache Antwort: Ich habe keine Ahnung. Wir haben keine Ahnung. Als einst die Funkwellen entdeckt wurde, nannte man sie nicht Funkwellen, weil es noch keinen Funk gab. Sie wurden als eine Art Strahlung entdeckt. Grundlagenwissenschaft und große Durchbrüche müssen auf eine Ebene passieren, auf der man nicht nach finanziellem Gewinn fragt. Man fragt: Was wissen wir nicht? Und wo können wir Fortschritte machen? Vielleicht ist es für nichts anderes gut, als alles zu verstehen.«
Das zweite Zitat stammt von einem anderen Wissenschaftler.
Savas Dimopoulos, Teilchenphysiker an der Universität Stanford:
(eigenes Transkript)
»Ich wuchs als Kind griechischer Eltern in der Türkei auf, in einer bürgerlichen Familie. In den 1960ern mussten wir fliehen. Wir mussten die Türkei verlassen, aufgrund politischer Spannungen zwischen Griechen und Türken wegen der Insel Zypern. Es gab viele politische Strömungen: Linke, Rechte … und ich war ein naiver Dreizehnjähriger, der sich die Argumente pro Linke und pro Rechte anhörte. Und war einmal davon überzeugt, dass die eine Seite recht hatte, am nächsten Tag die andere. Das verwirrte mich. Wie können sie beide wahr sein, wenn sie im Gegensatz zueinander stehen? Also entschied ich mich für ein Feld, in dem die Wahrheit nicht auf der Eloquenz des Redners beruht. Die Wahrheit ist absolut.«
Ich wünschte, diese Sicht der Dinge würde wieder populärer, aber viel Hoffnung habe ich in einer Welt mit radikalen Кonservatisten, Querdenkern, der FDP, Νeurechten, Νationalisten und evangelikalen Сhristen nicht.