Hier.

Vor fast genau acht Jahren schrieb ich hier im Blog einen Artikel zum Thema »Heimat«. Darin stellte ich fest, dass ich rein geografisch kaum einen Ort aus meiner Biografie benennen könnte, der für mich einer »Heimat« entspricht. Heimat sind für mich eher Orte und Lebenssituationen, in denen ich von Menschen umgeben bin, mit denen mich Sympathie, Freundschaft oder Liebe verbinden.

Derzeit befinde ich mich im Urlaub in Schweden. Ich habe dieses Land und seine Menschen schon öfter besucht, gelegentlich verbunden mit einem oder wenigen Tagen in einer Stadt wie Stockholm, Malmö, Helsingborg oder Göteborg, aber meistens für eine oder zwei Wochen in einem Ferienhaus, möglichst etwas abgelegen und naturnah, im Wald und/oder an einem See. So ist es auch diesmal wieder, die aktuelle Unterkunft liegt in der Region Värmland an einem See in der Nähe des Ortes Sunne. Jeden Tag wandern wir hier zwischen 5 und 10 Kilometer durch Wald und Berge, der Mann und ich. Manchmal streife ich auch für eine Stunde mal alleine in der Umgebung im Wald herum, das habe ich schon als Kind in den Harzferien bei der Oma gerne gemacht. Es ist wunderbar still hier, die nächste Straße liegt 100 Meter entfernt und ist nur sehr sporadisch befahren, der Abstand zu den nächsten Nachbarn ist ähnlich großügig. Nur drei Häuser stehen hier, inklusive unserem, außerhalb einer Ortschaft, bis zum nächsten »größeren« Ort (gut 2.000 Einwohner) sind es knapp 8 Kilometer.

Ich habe schon etliche Orte bereist, einige als vorübergehendes Zuhause (als Kind mit den Eltern jeweils zwei Jahre in Algerien und Nigeria), einige während mehrwöchiger Urlaube und manche nur für Kurzreisen (zumeist Städte). Im Jahr 2012 hatte ich mal eine Google-Karte erstellt, auf der meine Reiseziele in Europa mit Pins markiert waren. Transatlantikreisen reisen habe ich seit meiner Schulzeit nur drei unternommen: 1992 nach Chicago, 1996 nach New Orleans und 1998 nach New York (beruflich, leider kaum mit Gelegenheit zur Erkundung der Stadt). Vergleichbar weite oder noch weitere Fernreisen habe ich nicht unternommen.

Es gibt kaum ein Reiseziel, das ich im Nachhinein nicht gerne besucht hätte. Es war immer neu, schön, interessant oder aufregend, woanders zu sein. Ich bin ein neugieriger Mensch und sauge neue, ungewohnte Eindrücke begeistert auf. Dazu muss ich nicht zwingend beliebte oder spektakuläre Locations aufsuchen, manchmal ist ein Bummel durch eine Markthalle, über einen Basar oder Wochenmarkt oder durch die Gänge eines großen Supermarkts an einem fremden Ort genauso spannend wie die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten. Generell meide ich Orte, an denen sich Touristen drängen, weil dort ein Panorama, ein Bauwerk oder andere pittoreske Brennpunkte zu bestaunen sind. Tausende von Menschen fahren dorthin, um in ihrer Reisechronik vermerken zu können, »dagewesen« zu sein, tausende Menschen machen von denselben Standpunkten aus dieselben Fotos, nur Variationen bei Jahreszeit, Wetter und mitgeknipsten Personen machen ihre Bilder unterscheidbar. Touristische Sehenswürdigkeiten sind die Gassenhauer der meisten Reisenden. Genauso wie z.B. in den meisten Konzerthallen der Welt jahraus, jahrein die immer gleichen Werke der immer gleichen klassischen Komponisten auf dem Programm stehen: Bach, Mozart, Beethoven, Tschaikowsky, Chopin, Vivaldi usw. Keine Frage, die genannten Künstler haben geniale Werke geschaffen und es bereitet auch Freude, sie anzuhören. Aber die Popularität ihrer Werke drängt Dutzende anderer, ebenso famoser Komponisten und Werke ins Abseits und damit in die Vergessenheit, die es verdient hätten, ebenso häufig auf den Programmen der großen Orchester zu stehen, wie etwa John Field, Wilhelm Stenhammar, Erich Wolfgang Korngold, Howard Hanson, Frederic Mompou, Frederick Delius oder George Enescu, deren Entdeckung meine eigene Musikwelt sehr bereichert hat. Und ganz ähnlich verdrängen die von Touristen überrannten Sehenswürdigkeiten als »Must Sees« viele unbekanntere Orte, Panoramen, Gebäude und Monumente und werden, wie Marlene Dietrich einmal auf sich bezogen sagte, »zu Tode fotografiert«. Ich hatte einmal den Gedanken, dass unaufhörlich oft gespielte Musikstücke überall auf der Welt mit jeder Aufführung und Wiedergabe eine Spur leiser werden sollten, ohne dass es dafür ein technisches oder physikalisches Gegenmittel gäbe – ganz so, als ob sie sich abnutzen würden. Irgendwann wären sie dann (für eine gewisse Zeit) unhörbar leise, egal ob von CD, Magnetband, MP3 oder als Live-Aufführung, so dass sich die Menschen, die Lust auf schöne klassische Musik haben, zwangsläufig mit anderen vorhandenen Werken und Komponisten befassen müssten. Analog könnten totfotografierte und überbesuchte Touristenattraktionen auf Film, Video und in digitalen Bilddateien fortwährend immer blasser und blasser abgelichtet werden, so dass man zwar hinfahren und sie live ansehen könnte, fotografieren müssten die Reisenden jedoch andere Motive. Zwar nur ein Gedankenexperiment, aber eins, das die Menschen womöglich motivieren könnte, wieder neugierig zu werden und sich selber auf die Suche nach unentdeckten schönen Dingen zu begeben, welche zwar nicht neu, aber genauso z.B. erlebenswert sind. Wer weiß.

Neugier ist einer der Haupt-Antriebe für mich, zu reisen und wann immer möglich, sind selbstbestimmte Tagesabläufe ein Muss. Ich bin kein Typ für Busreisen, Kreuzfahrten oder Reisegruppen, wo ich inmitten einer Gruppe oder gar größeren Schar Mitreisender an eine Route oder ein Verkehrsmittel gebunden bin, wo die Abläufe der Reisetage, Zeiten und Orte für Ausflüge oder Stunden-Slots für »Freizeit« oder die täglichen Mahlzeiten vorgegeben sind. Ich mag keine überfüllten Züge, Schiffe, Flugzeuge oder Hotels, sondern möchte im kleinstmöglichen Kreis mit angenehmen und »pflegeleichten« geschätzten Menschen meine Ferien verbringen. Unangenehme, aber unvermeidliche Phasen der An- und Abreise mit Schlangestehen oder Warten sowie notwendige Zeitabschnitte mit Fortbewegung oder Unterbringung inmitten größerer Menschengruppen versuche ich, auf ein Minimum zu reduzieren. Am Ziel der Reise wünsche ich mir Autonomie, Stille, Genuss und auch etwas Komfort, der nicht unbedingt »luxuriös« sein muss. Dazu genügen bequeme Betten, eine gut ausgestattete Küche zur Selbstverpflegung nebst allen Utensilien zum Zubereiten und Servieren, eine stabile und schnelle Internetverbindung und einige gemütliche Sitzecken draußen oder drinnen zum Entspannen, Filme schauen, lesen oder Musikhören. Ich möchte schlafen, so lange ich will und anschließend trotzdem noch, ohne Rücksicht auf örtliche Buffet-Öffnungszeiten, ausgiebig frühstücken können. Ich möchte selbst in Geschäften oder auf Märkten einkaufen können, dabei vielleicht lokale, mir unbekannte Köstlichkeiten entdecken und meinen täglichen Speiseplan nach Angebot und Appetit zusammenstellen. Ich möchte Tage mit Muße und Ruhe verbringen, wenn mir danach ist. Wenn ich unternehmungslustig bin, möchte ich – auch spontan – selbstgeplante Ausflüge machen und wenn ich einfach nur in der Natur wandern oder Zeit an einem (gerne wenig besuchten) Badestrand verbringen möchte, sollte auch das möglich sein, ohne auf eine vorgegebene Agenda Rücksicht nehmen zu müssen. Ich möchte selbst entscheiden, wann ich mich, z.B. bei einem Stadtausflug, in größeren Trubel und unter Menschen begebe und wann ich mich in eine ruhige und ungestörte Umgebung zurückziehen will. Luxus bedeutet für mich, mich ohne Fremdbestimmung erholen und etwas unternehmen zu können und dabei das jeweilige Maß an Geräusch und Geselligkeit selbst bestimmen zu können.

Die schon erwähnte Neugier(de) – eigentlich gefällt mir das deutsche Wort überhaupt nicht, weil da das unsympathische »Gier« drinsteckt, ich finde das englische »curiosity« viel netter – umfasst jedesmal alles, was mir am Zielort begegnet. Zwar werden die Hin- und Rückreise, die Unterkunft, eventuelle wichtige Einkaufsmöglichkeiten vor Ort und einige wenige Anlaufstellen wie ein erstes Restaurant, ggf. ein Bahnhof für Ausflüge oder, falls die Unterkuft etwas abgelegener liegt, die nächstgrößere Ortschaft vorab recherchiert, aber das meiste andere, Wochenmärkte, Ausflugsziele, Wanderrouten, Einkaufszentren, Fußgängerzonen, am liebsten erst vor Ort erkundet. Nach der Ankunft nehme ich mir möglichst bald gerne einige Stunden Zeit, um einfach ziellos in der Gegend herumzustromern, die Nachbarschaft der Unterkunft zu erkunden, egal, ob in einer Stadt oder mitten im Wald. Ich will wissen, wie sich das Urlaubsziel anfühlt, wie es aussieht, wie es riecht. Ich möchte wissen, was draußen wächst, wo die Straßen, Wege und Trampelpfade hinführen, wie die Sprache, der Dialekt oder der Akzent der Leute klingen, auch wenn ich ihre Sprache nicht oder kaum beherrsche. Ich möchte wissen, wie die Menschen aussehen, wie sie gekleidet sind, wie ihr Alltag auf der Straße abläuft, wie ihre Häuser gebaut sind, wie die Pflanzen in ihren Gärten aussehen, was auf ihren Balkons steht, was man von außen beiläufig durch die Fenster ihrer Wohnungen sehen kann. Ich beobachte den Verkehr, die Fußgänger, die Radfahrer, studiere Straßenschilder, Wegweiser, Beschriftungen und Leuchtreklamen, betrachte Werbeplakate und Schaufenster, besuche kleine und große Geschäfte und stöbere im lokalen Warensortiment. Besonders Markthallen finde ich großartig. Am beeindruckendsten waren für mich bislang die in Florenz, in Kopenhagen, in Budapest und in Malmö. Das Treiben der Marketender und Kunden, die unzähligen Lebensmittel und Delikatessen und – die Gerüche! Wie viele Düfte und Gerüche habe ich im Kopf aus Urlauben mit nach Hause genommen und werde jedesmal an den Ort ihrer Wahrnehmung zurückkatapultiert, wenn mir zu Hause irgendwo zufällig ein Anklang daran begegnet. Der Duft frisch gebackenen Fladenbrotes oder knuspriger Pizza, der leicht metallische Geruch frischen Fleisches, die Aromen von Käse, von geräuchertem Fisch oder Würsten, gerade geröstete Kaffeebohnen, Putzmittel, Parfum, Überbackenes, Kandiertes, Gebratenes, die Düfte von Schnittblumen und Gewürzen, der trockene Geruch von Kleidung, Tuchwaren und Teppichen. Ich gehe wie ein Schwamm durch die neue Umgebung und sauge alles auf, was durch meine Sinnestore passt. Nach Möglichkeit und Budget müssen die Spezialitäten all dieser Fülle natürlich auch verkostet und ausprobiert werden. Das ist Reisen für mich.

Doch trotz des immer vorhandenen Interesses für Land und Leute fühlen sich manche Orte, Reiseziele oder Urlaube für mich unterschiedlich an. In manchen Ländern bleibe ich immer der Reisende. Ich bin zu Gast und fühle mich zu Gast, ich bin Besucher, Beobachter, Zuschauer. Die Unterkunft ist perfekt, das Wetter hervorragend, alle Unternehmungen laufen nach Plan, das Essen schmeckt köstlich, die Eindrücke sind überwältigend, neu und interessant, die Landschaften und Bauwerke atemberaubend, die einheimischen Menschen sind freundlich, hilfsbereit und famose Gastgeber und doch bleibt immer eine hauchdünne Barriere zwischen mir und meiner Urlaubsumgebung spürbar. Als wäre ich in einem Zug oder einem gläsernen Fahrzeug wie dem »Papamobil« unterwegs, vieles ist und bleibt mir fremd, obwohl es mich fasziniert, mir gefällt oder mich beeindruckt. Ich nehme viel wieder mit nach Hause, habe Dutzende Fotos gemacht, schöne Erlebnisse gehabt, vortreffliche Speisen gekostet, tausend neue Dinge gesehen, bin netten Menschen begegnet und doch bleibt es eine Reise, von der ich wieder »nach Hause« zurückkehre.

In Skandinavien und insbesondere in Schweden ist das etwas anders. Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, ich sei bereits vor meinem allerersten Besuch schon einmal hier gewesen und auch, als wäre ich den Menschen hier auf seltsame Weise verbunden. Wenn ich alleine durch den Wald gehe, ist es zwar still, aber ich höre die Bäume und Felsen flüstern »willkommen zurück!«. Auch der Wind, der durch die Bäume streicht oder das Rauschen eines kleinen Waldbaches sagen »da bist du ja wieder!«. Ich fühle mich nicht wie in einem fremden Land, sondern wie in einem Ur-Zuhause, wandere nicht als Beschauer umher, sondern bin an einem Ort angekommen, der sich anfühlt, als gehörte ich dorthin. Es fühlt sich an wie ein Einrasten, als spürte ich ein »Klick« und fügte mich an einem Platz ein, der genau der richtige für mich ist.

Mich würde interessieren, ob das nur mir so geht oder ob auch andere an manchen Orten, egal ob im Ausland oder in »ihrem« Inland, ein ähnliches Gefühl oder vergleichbare Unterschiede bei der Wahrnehmung ihrer Reiseziele haben.

Nächstes Jahr, wenn nichts dazwischen kommt, Schweden, komme ich wieder.

9 Kommentare

  1. Mir und anderen geht es in Afrika so. Da stellt sich dieses Gefühl ein, wieder zuhause zu sein, frei zu sein, ich selbst zu sein, einfach am richtigen Ort zu sein. Die (steile) These dazu ist, dass Afrika eben die Wiege der Menschheit ist und irgendwo im hintersten, verschüttesten Winkel unseres Hirns vielleicht noch irgendwelche Instinkte dazu kodiert sind.

  2. Was für ein wunderschöner Text über das Reisen! Vielen Dank dafür – auch wenn er ganz viel Sehnsucht macht.

    Ich bin früher nie viel gereist, das Dasein als Musikerin und später noch dazu Alleinerziehende gab das einfach nicht her. Eine Kurztour während des Studiums mit einem Freund in seiner Ente durch Benelux (wir schliefen im Auto), Camping auf Ameland mit der Tochter, einmal Urlaub alleine in der Schweiz, auch mit dem Zelt, und dann noch mit Freunden 10 Tage im Haus meiner Tante auf Ischia: das alles verteilt auf ca. 15 Jahre. Dann wechselte ich mit einem neuen Job in die Reisebranche und wurde von den Chefs nach Portugal geschickt. Vom ersten Moment an war da dieses noch nie dagewesene Gefühl: ich bin zuhause. Endlich bin ich angekommen. Seit diesem ersten Mal war ich weitere fünfmal da, hab den Ost- und Westalgarve kennen gelernt, mich durch Lissabons Straßen treiben lassen, die Schönheit der rauen Westküste und die Lieblichkeit der Costa Azul gesehen, wunderbare Menschen getroffen und mich jedes Mal wieder aufs Neue in dieses Land verliebt. Hätte mein Leben nicht noch einmal eine Wendung genommen, würde ich heute sehr wahrscheinlich irgendwo in einem kleinen Ort am Atlantik leben und arbeiten – und hätte hoffentlich diese wunderschöne Sprache gelernt, so dass ich nicht nur mit dem Herzen verstehen könnte, wovon in den Fados gesungen wird. (Das Leben hält sich nicht immer an Träume …)

  3. Mir ging es mit Südengland so, vor allem mit Brighton, inklusive Träumen von Altersruhesitz. Bis ich mir mit der Brexit-Kampagne und dem Brexit eingestehen musste, dass es dieses Daheim gar nicht gab, dass es meine eigene Konstruktion gewesen war.

    1. Ja, wann immer ich seltsame Dinge aus DK höre, dann muss ich auch immer wieder neu schauen und justieren und abgleichen – und ich fürchte, ein Däxit hätte auch gut das Ende unserer Beziehung sein können. Schade.

  4. Ich wiederhole mal eben hier, was ich gerade bloggte:
    Ja, bei mir ist das In Dänemark sehr genau so: Ich fühle mich, als sollte ich da sein. Ich bin dort ein anderer Mensch, sagt die Liebste manchmal und ich selbst blicke dort auf mich und merke: Ich bin dort der Mensch, den ich kannte, bevor mir das Leben passierte.
    Als wäre von der Landschaft über die Orte, die Architektur, den Stil, das Design bis zu Menschen dort, das der Ort wo ich herkomme.

    … was ein sehr eigenartiges Gefühl ist.

    1. »Ich bin dort der Mensch, den ich kannte, bevor mir das Leben passierte.« ist ein ausgesprochen schöner und treffender Satz dazu. Danke!

  5. Zum Thema Heimat gibt es einen schönen Satz, den ich mal irgendswo aufgeschnappt habe: Heimat ist dort, wo die Rechnungen ankommen. Ich fand das sehr passend.

    1. Eine Variation der Formulierung mit weniger Mahungsrisiko hab ich ganz früher mal beim »alten« Twitter gelesen: »Zuhause ist da, wo man das WLAN-Passwort kennt.« ( via @sue_reindke/@HappySchnitzel | 04.04.2010 )

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