Heute morgen war ich beim Friseur. Alle vier Wochen sollte das schon sein, ab einem Fünf-Wochen-Intervall fühlt es sich für mich grenzwertig an. Das liegt aber auch daran, dass meine »Standardfrisur« an den Seiten und hinten extrem kurz ist. Ich hatte 2014 mal ein perfektes Foto im Netz gefunden, das meine Wunschfrisur visualisiert und seitdem habe ich das immer (nur mit dem frisurrelevanten Ausschnitt 😉) auf dem Smartphone dabei, kann es beim Friseur vorzeigen und muss meistens nicht viel mehr dazu sagen als »an den Seiten und hinten runter auf null Millimeter« und »oben und vorne etwas länger und mit glattem Übergang«. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mit meinem radikalen Kurzscherwunsch bei traditionellen »deutschen« Friseuren eine gewisse Unsicherheit auslöse. Allzu oft passierte es, dass die mich bedienende Person trotz der »Null Millimeter«-Ansage zunächst alles viel zu lang (für meine Begriffe also 1 bis 4 mm) zurechtstutzte, um dann bang zu fragen »So kurz genug?«. Daraufhin musste ich mindestens einmal, gelegentlich auch mehrmals, eine Nachscherung einfordern, bis der Schnitt dann am Ende hinlänglich auf Grund gestutzt und ich einigermaßen zufrieden war.
Ich weiß nicht, was der Grund sein könnte für diese Beklemmung, meine Kopfhaut freizulegen. Vielleicht haben einige der Geängstigten zuvor schon von erbosten Kunden Standpauken oder Androhungen von Zahlungsverweigerung erlebt, weil sie sie zu kurz schoren. Vielleicht sind manche Coiffeure aus weltanschaulichen Gründen gehemmt, weil es ihnen widerstrebt, einen Frisurenwunsch zu erfüllen, der ihnen womöglich zu »militärisch« erscheint oder sie vage an den Stil der etwas aus der Mode gekommenen Klischeefigur »Skinhead« erinnert. Dabei erkennt man die Νeonazіs von heute leider inzwischen weder verlässlich an ihrer Frisur, noch an ihrem Outfit – manchmal sogar nicht einmal an ihrer Parteizugehörigkeit (von der einen Partei mal abgesehen). Da mir derlei Gefeilsche um die Zielkürze meines Haupthaares irgendwann zu anstrengend wurde, ging ich eines Tages testweise mal in einen Friseursalon mit türkischen Betreibern. Mir war nämlich aufgefallen, dass extrem kurz rasierte Schädelzonen bei der Kundschaft solcher Salons häufiger vorkommen und ich hoffte, dass dort somit auch die Scherscheu kleiner sei. Und tasächlich ist das wohl so. Seither bin ich dem Marktsegment der türkischen Barbiere und Friseure treu geblieben.
Auffällig ist, dass Einrichtung und das Design des Außenauftritts dieser Salons städteübergreifend erstaunlich ähnlich ausfallen. Ich hatte eine vergleichbare Wahrnehmung schon einmal bei klassischen China-Restaurants, so dass ich mich fragte, ob es vielleicht irgendwo Geschäfte wie eine Mischung aus »METRO« und »IKEA« für Restaurantbetreiber gäbe. Dort fänden Kunden aus angehenden oder florierenden Gastronomiebetrieben in speziellen Abteilungen wie »China-Restaurant«, »Griechische Taverne« oder »Gutbürgerliches Deutsches Wirtshaus« auf mehreren Etagen ein vielfältiges Sortiment an stereotypen Möbeln, Geschirr, Besteck und Dekorationsartikeln vor – quasi ein »One Stop Shop« zur Einrichtung ihres spezifischen Lokals. Im »Asia«-Segment etwa gäbe es mit Drachenmotiven verzierte geschnitzte Stühle, rote Papierlampion-Lampenschirme mit grünen Quasten, Perlmutt-Intarsien-Wandbilder mit Landschaftsansichten oder historischen bzw. mythologischen Szenen aus dem asiatischen Kulturkreis, blau-weiße Reis- und Suppenschalen mit tiefen Porzellanlöffeln, schwarz-rot lackierte Stäbchen, elliptische Teekannen und runde Tische mit Servierkarussell in der Mitte. In der Abteilung »Griechische Restaurants« gäbe es z.B. Ouzogläser, Miniaturen griechischer Götterstatuen und Tempelsäulen, weißblaue Stuhlpolster, künstliche kleine Olivenbäumchen, Deko-Weinamphoren oder Repliken irdener Teller und Schalen mit gemalten Motiven antiker Sagengestalten. Der rustikale deutsche Gastwirt könnte dort Zinnteller, Deko-Steingut-Bierhumpen, rot-weiß karierte Tischwäsche, nachgebildete hölzerne Wagenräder und Heugabeln, gerahmte Kunstdrucke mit ggf. behirschten Landschafts- und Gebirgspanoramen, Weinrömer oder Kachelofenattrappen erwerben.
Analog dazu könnte es durchaus »Barbershop-Ausstatter« geben, wo Salongründer alles aus einer Hand bekommen, um ihren Laden einzurichten. Wichtig sind im Dekobereich auf jeden Fall reichliche visuelle Referenzen zu voll- oder schnurrbärtigen Männerköpfen, Totenschädeln und klassischen Tattoomotiven. Bei der Einrichtung dominiert dunkles Holz, gepaart mit angelaufenem Messing oder mattem Zink, alles möglichst im »Shabby Chic«, gerne freiliegende Klinkerziegel oder abgewetzte Betonmauern, vor dem Laden eventuell ein Barbierpfosten. Die Frisierumhänge sind bevorzugt schwarz oder anthrazit, manchmal mit einem Rapport aus verfremdeten Luxusmarken-Signets bedruckt, oder aber gleichfalls mit Tattoo-, Bart- oder Totenkopfmotiven. Mich stört diese bisweilen amüsante Konformität keineswegs, ich habe außer einem guten Haarschnitt zu einem bezahlbaren Preis (allein aufgrund meines 4-Wochen-Taktes), grundlegender Hygiene und freundlichem, kompetenten Personal kaum Ansprüche an einen Frisiersalon. Ich muss auch während der Prozedur nicht verbal bespaßt werden, im Gegenteil. Smalltalk mit der surrenden Schermaschine am Ohr empfinde ich eher als anstrengend, von der Suche nach geeignetem Gesprächsstoff ganz zu schweigen. Ohne Haarewaschen schlägt ein Besuch solcher Salons in etwas kiezigeren Vierteln in Hamburg oder Berlin mit einem Preis zwischen 15 und 18 EUR zu Buche, Rasur und/oder Bartpflege kosten je nach Zuwendungsgrad noch einmal gut dasselbe. Meist wird man als Kunde spontan bedient, eine vorherige Terminabsprache ist eher unüblich. Wenn ich sofort drankomme, bin ich unter den flinken Händen der geübten Mitarbeiter meist schon nach zwanzig Minuten wieder draußen, was ich ebenfalls sehr schätze.
Noch ein Bonus der türkischen Friseurläden sind bisweilen die famosen Extra-Pflegeservices, die zwar manchmal nur auf Nachfrage, aber dennoch meist ohne extra Berechnung erfolgen. Augenbrauen stutzen, mit einer Art Fidibus die Ohrhaare abflämmen, mit einem echten manuellen Rasiermesser die Konturen herausarbeiten. Einmal bekam ich sogar ein duftend-heißes Dampftuch fürs Gesicht angeboten, ein andermal lehnte ich jedoch ein Nasenhaar-Waxing angstvoll ab. Es wäre mir zu peinlich, vor fremden Menschen zu schreien und zu weinen.
Die Corona-Pandemie gebar für die Behandlung z.B. in Friseursalons, Fußpflegepraxen, Kosmetikateliers und Massagestudios die einprägsame Bezeichnung »körpernahe Dienstleistungen«. Darin steckt für mich ein durchaus treffender Verweis auf die psychologische Dimension sowohl der Auswahl eines persönlich »passenden« Salons als auch auf die eventuell folgende Treue als Stammkunde. Friseur*innen kommen für mich direkt nach Ärzt*innen. Sie müssen zur Ausübung ihrer Tätigkeit meine persönliche Distanzschranke durchbrechen, was ich Fremden sonst keinesfalls gestatte, außer vielleicht beim zwangsweisen Körperkontakt mit anderen Fahrgästen im überfüllten ÖPNV. Von Ärzt*innen wie Friseur*innen erhoffe ich mir, dass mir zugehört wird und dass ich verstanden werde. Ein schöner Bonus ist, wenn die Chemie stimmt, man eine Sprache spricht oder – wenn ich denn tatsächlich bei einem Stammfriseur mal einen Plausch halte – man einen ähnlichen Humor hat. Wenn mein Friseur nicht versteht, was ich will, kann das ggf. unbefriedigende Ergebnis auf Wochen mein Selbstbild und Selbstbewusstsein trüben. Das gilt insbesondere für extrem kurze Haarschnitte, denn die kann man im Havariefall höchstens noch in eine Vollglatze überführen. Ein missratener Bob oder ein suboptimaler Vokuhila können (zumindest rein technisch) an kompetenterer Stelle hinterher wenigstens noch zu einer nachgeschnittenen Kompromissfrisur umgearbeitet werden. Das »Versagen« eines Friseurs oder einer Friseurin kann vorübergehend eine fast intime seelische Verletzung bewirken, so wie das Abrasieren aller Haare gegen den Willen der betroffenen Personen, etwa in Gefängnissen oder beim Militär, oft gezielt eine Demütigung bezweckt.
Nach meinem Umzug nach Hamburg war ich den von mir neu ausfindig gemachten, geschätzten Friseur*innen ausgesprochen treu. Sie arbeiteten meist als Angestellte in Salons und ihre Verweildauer dort betrug selten länger als zwei, drei Jahre. Einem Friseur folgte ich für eine gewisse Zeit von St. Georg nach Hoheluft, einer Friseurin von Uhlenhorst nach Eppendorf. Aber so wie bei Ärzten ist mir auch bei bei meinen Haarstylist*innen die räumliche Nähe zu Arbeitsstätte oder Wohnadresse wichtig. Wenn ich im Krankheitsfall oder für ein Rezept quer durch die halbe Stadt in eine Praxis fahren muss, kann das genauso strapaziös sein, wie für einen Friseurbesuch drei- bis viermal so viel Zeit für die An- und Abreise aufwenden zu müssen wie für den eigentlichen Haarschnitt. Rein. Schneiden. Raus. Bei der eben erwähnten nachverfolgten Friseurin kam dazu, dass sie sich nicht davon abbringen ließ, selbst meinen Superkurz-Haarschnitt immer fast ausschließlich mit Schere und Kamm durchzuführen, statt mit der Maschine. Sie war eine meisterhafte Handwerkerin und rechtfertigte ihre Technik damit, dass sie so minimale Unebenheiten in meiner Kopfform ausgleichen könne, indem sie die Haare stellenweise ein Mü länger oder kürzer schnitt. Daher dauerte eine solche akribische Schnibbelsession bei ihr nicht unter 50 Minuten. Das war in direkter Nähe zum Büro ohne Weiteres auch in der Mittagspause machbar. Nach ihrem Weggang in ein anderes Viertel musste ich jedesmal inklusive Wegzeit einen 2-Stunden-Slot für meinen Besuch einplanen, was mir irgendwann auf Dauer zu anstrengend war, zumal die neue Adresse auch in einer »edleren« Gegend lag und einen saftigen Preisanstieg für die Behandlung mit sich brachte. Doch ich erinnere mich noch gerne an das leise unablässige snip-snip-snip-snip der kleinen Schere dieser sehr netten Perfektionistin und tatsächlich konnte ich mit ihr währenddessen auch ausgesprochen kurzweilige Gespräche führen.
Bezüglich meiner Haarbeschaffenheit bin ich sehr dankbar dafür, dass der Kelch mit dem Gen für »kreisrunden Haarausfall« bis heute an mir vorbeigegangen ist. Meine Mutter hat ziemlich dünnes Haar, ihre beiden Brüder bestachen durch willybrandteske Geheimratsecken und meine Opas hatten beide eine unübersehbare Platte mit Haarkranz. Der Segen dichten, vollen Haares scheint aus Richtung der Großeltern väterlicherseits zu kommen, auch die betreffende Oma und ihre Söhne hatten bzw. haben sehr kräftiges Haar. Ich hoffe, auch das meine bleibt dieser Veranlagung noch ein paar Jahre treu, ansonsten würde ich unverzüglich auf einen kurzrasierten Captain-Picard-Look umschwenken. An der Seite und hinten sind meine Haare ohnehin schon kurz genug, da täte es mir um die längeren auf der Schädelkuppe nicht allzu leid. Die Anblicke von Verwandten, Lehrern oder fremden Männern mit Alopezie, die den vermeintlichen Life-Hack Overcomb praktizierten, haben mich von Kindesbeinen an nachhaltig verstört. Ich kenne eigentlich keine kosmetische Maßnahme, die mir derart untauglich erscheint, auch nur ansatzweise ein unerwünschtes äußerliches Merkmal zu kaschieren wie diese. Dann doch lieber »Flucht nach vorn«.
Eine Zeitlang habe ich mir mein Haar tatsächlich oft selber und in teils gewagten Tönen gefärbt. Meine Naturfarbe ist ein relativ profilloses bräunliches Blond, das mich damals irgendwann langweilte. Ich probierte unter anderem Haselnussbraun, Kastanienbraun, Kirschrot, Pumucklorange, Maisgold und sogar ein fast weißes Marilyn-Monroe-Blond aus (einem Freund entfuhr beim Anblick das schöne Wort »Puppenblond!«). Auf der Arbeit erregte das zwar anfangs ein gewisses Aufsehen, aber als »Werber« wurde ich mir das bald als Ausdruck von Kreativität und Selbstverwirklichung ausgelegt. Schon immer beneidet habe ich Menschen, die früh und/oder attraktiv ergrauten, wie etwa die Promis Jim Jarmush, Timothy Olyphant, George Clooney, Sean Connery oder John Forsythe bei den Männern oder Judi Dench, Annie Lennox und Jamie Lee Curtis bei den Frauen. Ich hatte sogar während meiner Haarfärbephase den damaligen Friseur gefragt, ob man graue Haare künstlich so färben könne, dass es natürlich aussähe, aber natürlich ging das nicht, weil graue Haare fast immer »meliert« sind und man ja somit auf dem Kopf Haar für Haar einzeln färben oder nicht färben müsste.
Damals fand ich das schade, aber inzwischen kriege ich das mit dem Ergrauen allmählich ganz von selbst hin. Und das finde ich sehr schön.