Ich habe gerade eine Trauerkarte gekauft. Es wird viel gestorben in diesem und auch im letzten Jahr, aber das ist wohl unausweichlich. Der Preis des Älterwerdens inmitten geschätzter Mitmenschen, denen es vergönnt war, noch älter als man selbst werden zu dürfen, ist es nun mal, auf eine solche Häufung hinzuleben.
Tante Ingrid ist tot. »Tanti« habe ich sie genannt, noch bis ich Teenager war. Sie war die Frau von Mutters älterem Bruder, Herbert. Fast genauso oft wie bei meiner Oma väterlicherseits bin ich als Kind bei ihr und dem Onkel, der bereits 2018 starb, in den Schulferien im Südharz zu Besuch gewesen, auch weil die zweite Oma, Oma Gretchen, mit in ihrem Haushalt lebte. Tanti, die kleine, agile, zähe, unglaublich arbeitsame, empathische Frau, früh ergraut, mit ihrem hauchfeinen Damenbart über der Oberlippe. Tanti, bei der es im Sommer oft entweder mit Wasser verdünnten, selbstgemachten Waldmeistersirup zu trinken gab oder ein unfassbar süßes »Kindergetränk« aus Malzbier, verquirlt mit rohem Ei und extra Zucker(!). Tanti, in deren Deko-Kaffeemühle, die auf dem dreieckigen Wandbrett im Winkel der Eckbank stand, ich als Kind gesalzene Erdnüsse zu Pulver zermahlen durfte. Tanti, die ihre Mutter schon mit 7 Jahren durch Krankheit verlor und dann, wie in einem bösen Märchen, von der Stiefmutter, die der verwitwete Vater heiratete, bei vermeintlichem Ungehorsam mit einem eisernen Feuerhaken geschlagen wurde. Tanti, die mit 14 im Fleischerladen meiner Großeltern als Hilfskraft zu arbeiten begann und die sowohl meine Mutter als auch ich unser ganzes Leben lang kannten. Tanti, bei der die Makkaroni immer deutlich weicher als al dente gekocht waren, die aber mit Butter, Paniermehlbröseln und Ketchup unglaublich lecker schmeckten. Tanti, die mich und meine kleine Schwester in jenen Tagen bei sich aufnahm und uns mit »Mensch, ärgere Dich nicht« und anderen Spielen ablenkte, als mein Vater 100 km entfernt in der elterlichen Wohnung im Beisein meiner Mutter und meiner anderen Oma mit dem Krebstod rang. Tanti, über deren Beherztheit es die krasse Anekdote von einem Moment gab, als sie eine dicke Spinne, deren Netz sie hoch unter der Decke mit dem Besen beseitigt hatte, hinterher nirgends mehr finden konnte – nicht am Besen, nicht an der Decke, an der Wand oder auf dem Boden, und die dann, als sie plötzlich ein Kribbeln im Dekolleté spürte, nicht nachsah, was das wohl sein könnte, sondern es wusste und sich genau deshalb kurzerhand mit der flachen Hand kräftig aufs Brustbein schlug, damit Ruhe war. Tanti, die mir, als ich »groß geworden« war und sie aus Hamburg nur noch selten besuchte, gerade mal bis zur Brust reichte. Tanti, deren superkurze Telefonnummer mit nur drei Ziffern nach der Vorwahl ich bis heute auswendig kann.
Tanti ist tot.
Sie wurde 92 Jahre alt, war geistig nach wie vor fit, in Anbetracht ihres Alters kerngesund und schlief wenige Tage nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus aufgrund leichter Atemprobleme friedlich tief in der Nacht ein, während ihre Schwiegertochter ihre Hand hielt. Ein langes, oft hartes Leben. Ein sanfter Tod. Und viele schon fast verblasste Erinnerungen, die plötzlich wieder bunt werden.