Meiner reizenden Blognachbarin creezy ist es zu verdanken, dass der schon fast totgeglaubte Brauch des Blogstöckchens eine wunderbar nostalgische Frischzellenkur erfuhr. Sie rief dazu auf, Gegenstände aus dem eigenen Haushalt zu fotografieren, die mit einprägsamen Kindheitserinnerungen verbunden sind – und deren Geschichte(n) zu erzählen. Ein Stöckchen, das ich gerne fange, weil es mich sofort auf eine Kopfreise durch Schrankfächer und Schubladen schickte. Aus Zeitgründen möchte ich meine Beiträge dazu auf mehrere Blogeinträge verteilen. Hier kommt der erste:
Ich war eben auf meinem Dachboden und habe ein Stückchen Vergangenheit heruntergeholt. Es ist ein kleiner Zettel, etwa so groß wie eine Postkarte. Ich wusste, dass er dort oben liegt. Ich habe ihn mit anderen kleinformatigen Papiersouvenirs in einem braunen Briefumschlag aufbewahrt. Es stehen acht handgeschriebene Zeilen darauf, in einer wunderschönen, doch für viele Menschen nahezu unleserlichen Schrift: Sütterlin. Und verfasst hat ihn meine Oma Margarethe, genannt »Oma Gretchen« – irgendwann im Sommer 1978. Da war ich elf.
Oma Gretchen lebt schon lange nicht mehr, sie starb 1983 in dem kleinen Ort mitten im Harz, wo sie den größten Teil ihres Lebens verbrachte, der Gegend, aus der meine Familie stammt. Oma Gretchen lebte, seit sie verwitwet war, in einer kleinen Etagenwohnung im Haus meiner Tante. Dort oben besuchte ich sie oft als Kind, an Wochenenden oder auch während der Schulferien, wenn ich abwechselnd ein, zwei Wochen bei meinen Harzer Omas verbrachte.
Die Wohnung von Oma Gretchen war sehr braun, schön warm und irgendwie weich. Dunkle Holzschränke, ein federkerngepolstertes Sofa, ein riesiges, unendlich nachgiebiges Bett, Spiegel, Vitrinen, Fußschemel und Deckchen. Es roch nach Holz, Latschenkiefer, Stoff und ein bisschen nach Vanille. Eine Omawohnung wie die korpulente und gemütliche Oma, die darin wohnte.
Auf dem großen Vitrinenschrank im Wohnzimmer, ganz oben, neben der hölzernen Kaminuhr, die mit einem gemütlichen Gongschlag die Stunden in Omas Wohnung durchnummerierte, stand ein Hund aus Porzellan. Ich musste diesen Hund gemocht haben damals, denn ich erinnere mich, dass ihn Oma oft vom Schrank holen musste. Vermutlich habe ich ihn nur angesehen, bewundert, berührt, denn Porzellan ist empfindlich und kein Spielzeug für Kinder. Ich fand ihn nie kitschig, denn er ist nicht bunt bemalt, nur ein paar graue und schwarze Farbflecken akzentuieren das Fell und die Augen. Er trägt kein Halsband und keine Leine, er ist nicht »niedlich«, sondern schlank und, wie ich finde, von einer vornehmen Wildheit. Er sitzt nicht brav bei Fuß, sondern ist draußen unterwegs, streift durchs Gras, apportiert vielleicht einem Jäger. Ich gab ihm nie einen Namen, er war einfach »der Hund«.
Nach dem Tod Oma Gretchens bekam ich nicht mit, was mit dem Nachlass in ihrer Wohnung geschah. Die Zimmer wurden renoviert, neu eingerichtet, ein Nähzimmer für die Tante, ich war selten wieder dort oben. Mit 16 macht man keine Ferien mehr bei Tanten und Omas. Sie war nicht mehr da, ebensowenig wie der vertraute Geruch, wie die Farben und Möbel, die alte Kaminuhr und das federnde Sofa. Oma war weg.
Dann wurde mir plötzlich der Porzellanhund gegeben, meine Tante oder meine Mutter überreichten ihn mir, ich erinnere mich nicht mehr genau. Beim Herunterholen vom Schrank hatte sich im hohlen Sockel des Hundes der handgeschriebene Zettel gefunden, den ich eben vom Dachboden holte. Ich kann ihn entziffern, denn meine Oma schrieb mir auch zum Geburtstag oft Karten von Hand:
Sommer 1978
Ich, der schöne Porzellan-Hund gehöre meinem Frauchen-Gretchen. (Auch Omchen, Omi oder Omichen)
Sollte mein Frauchen mich einmal verlassen, so möchte mich der Thomas (…) gerne haben.
Er freut sich.
Ich habe ihn gern aufgenommen. Er hat es gut bei mir, oben auf dem Schrank.
Fotos: © formschub | (to be continued)
Wunderbare Geschichte. Danke.
Gerne.
Hallo,
aber wer ist denn dann bitte oma gretchen bei Facebook?
Jahrgang 1910, wohnhaft in sydney, um die ich mir wirklich sorgen mache …
gruß jessica
Woher sollte ich die Dame kennen? Und warum Sorgen?
Wie schön zu wissen daß man nicht allein ist … meine oma gretchen und ist letzte woche gestorben und ich suche sie überall, ich bin dankbar über alles was ich finde und über alle, die vielleicht ähnlich denken … großer trost! Danke
….und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus…
Ich mag ja keine Hunde, aber diesen Eintrag, den find‘ ich toll. Danke!
Ich bin über den Freitagstexter auf Ihr Blog gekommen und habe dieses wunderschöne Posting entdeckt. Danke für die Erinnerungen an meine Großmutter, die Sie mir damit ins Gedächtnis riefen.
Tiefmenschlichste Kindheitserinnungen von „OMAlischster“ Seite – wunderbar zu lesen und eigene Oma-Erinnerungen auslösend.
Mein Hund möchte wissen, wie es deinem Hund geht. Ich sage ihm gerade, ihm scheint es bei dir gut zu gehen. Deine Oma wusste schon, wer gut auf ihn schauen würde!
Gruß – LitterART und Hund „Wauwau“
das ist ein sehr schönes und bewegendes Erinnerungsstück!
Gruss, Tine
Sehr schöner Eintrag. Er spricht für sich. Dazu muss man nicht viel sagen. Mich persönlich hat er jedenfalls sehr berührt.
Vielen Dank für Eure lieben Kommentare. Ich hatte mich beim Verfassen auch spürbar in die Melancholie geschrieben. Schön, dass ich davon etwas weitergeben konnte.
Eine sehr schöne Erinnerung…
Ich mußte fast weinen. Danke dafür!
Danke für diesen wunderschönen, rührenden, be-rührenden Einblick. Ich hab auch schon lang keine Omas mehr und die Erlebnisse scheinen weit weg wie ein fremder Kontinent. So ein Dachbodenfund ist ein Schatz, und ihn so zu würdigen wie hier ist ein schöner Weg. Danke fürs Teilen mit uns, der Welt! 🙂