Gradwanderung

Es ist Sommer und ich leide. Mir ist es zu heiß und mir ist es zu schwül. Seit ich mich erinnern kann, ist eher der Frühling meine liebste Jahreszeit, schon vor der Zunahme von »Rekordsommern«. Vielleicht liegt es daran, dass ich an der Schwelle zum Frühling, Anfang März, Geburtstag habe und in den ersten 2–3 Monaten meines Daseins auf der Erde auch mein Wohlfühlthermometer geeicht wurde. Das erschiene mir einleuchtender als irgendwelche Prägungen, die mit Sternenkonstellationen zu tun haben sollen. Ich liebe Temperaturen zwischen 19 und 25 °C, dazu ein paar schattenspendende Schäfchenwolken am Himmel und eine leichte Brise. Schweden kriegt so ein Wetter selbst im Sommer oft noch ziemlich gut hin, deshalb mache ich da vermutlich so gerne Urlaub.

Ich erinnere mich sogar noch an ein paar Zeilen aus einem Kinderbuch, das ich wegen der übersprudelnd fantastischen Geschichten darin bis heute aufgehoben habe. Ähnlich wie in den Büchern von J. R. R. Tolkien erlebt in diesem Buch eine Truppe von Gefährten auf einem langen Weg viele märchenhafte Abenteuer. Ein Mitglied der Gruppe ist ein Wassermann, der sich von den Mitstreitern überreden ließ, seinen Teich zu verlassen und mitzuziehen. Als die Abenteurer auf einem Stück des Weges unter großer Hitze leiden, überlegt der Wassermann, obgleich er von seinen Freunden fortwährend mit Wasser besprenkelt wird, die Mission aufzugeben:

Der Wassermann jammerte: »Das halte ich nicht aus! Ich muss umkehren. Ich will zurück in meinen Teich!« – »Aber Wassermann«, meinte ich, »denkst du denn gar nicht an das arme Mondschaf?« – »Ich kann nicht mehr denken«, blubberte er. »Wenn ich schwitzen muss, schlägt mein Gehirn Blasen!«

(Wolf Dieter von Tippelskirch: »Jeremias Schrumpelhut erzählt – Die Reise zum Stern Traumatia«)

Bestimmt habe ich mir diesen Absatz gemerkt, weil ich schon im Alter von 8 oder 9 allzu heißem Wetter nichts abgewinnen konnte. Ich erinnere mich, dass ich eine ziemliche »Wasserratte« war und mich im kühlen Schwimmbadwasser eher wohlfühlte als an Sandstränden, auf Liegewiesen oder glühenden Spielplätzen. Oft blieb ich auch im Sommer einfach drin (einige Jahre lang hatte ich ein riesiges Kinderzimmer im Keller unseres Mietshauses, das auch im Sommer wunderbar kühl blieb) und musste mir dann anhören, ich sei ein »Stubenhocker« und solle doch mal »an die frische Luft gehen«, dabei war die überhaupt nicht frisch. Erwachsene sagen auch nicht immer die Wahrheit, das wurde mir in den Sommern meiner Kindheit klar.

Ich muss einkaufen gehen, der Kühlschrank braucht neuen Content. Ich würde gern Fahrrad fahren, aber dann zerflösse ich endgültig. Ich schwitze relativ schnell, leider. Im Sommer gibt es für Menschen, die leicht schwitzen, eigentlich nur eine tragbare Klamottenfarbe: schwarz. Weiß geht gar nicht, das schmiegt sich in den nassgeschwitzten Zonen sofort eng an die Haut und man sieht das Epidemisrosa in klebrigen Inseln durchs trockene Textil schimmern. Farben wie Orange, Blau, Violett, Grün, Grau, Rot oder Rosa – abgesehen davon, dass mir die meisten davon nicht stehen – werden in den durchfeuchteten Transpirationszonen sofort markant abgedunkelt und man läuft mit weithin sichtbaren, tellergroßen Hitzeflecken unter den Armen, an Bauch und Rücken durch die Welt. Schwarz absorbiert die Feuchte, ändert dabei nur minimal die Farbe und lässt nichts durchscheinen. Nur nach längerer Anstrengung und anschließender Trocknung entstehen manchmal helle Streifen getrockneter Elektrolyte an einigen Stellen. Salzränder. Wie bei einem Margarita. Ein kleiner weiterer Nachteil: Schwarz wird in der Sonne noch eine Idee heißer als hellere Farben. Aber das ist irgendwann egal, genauso wie es egal ist, ob man sich an einer Tasse Tee mit 62 °C oder 65 °C die Zunge verbrennt.

Auf dem Weg durch die aufgeheizten Straßen fallen mir an mehreren Stellen auf dem Asphalt bei Lindenbäumen bemerkenswert große dunkle Flecken unter deren Baumkronen auf. Dass Linden im Sommer herumkleckern, ist mir geläufig, ich bewohnte 4 Jahre lang eine Wohnung, deren estrichbeschichteter Balkon unter einen Lindenbaum ragte. Dieser sorgte mit seinen Absonderungen im Sommer für ein pappiges Gehgefühl auf dem Balkonboden und versah alle dort abgestellten Dinge, wie etwa Klappstühle, mit einer klebrigen Glasur (als effektives Hausmittel zu deren Entfernung stellte sich übrigens, nach langen und ausführlichen Testreihen, ein Backofenspray mit dem Inhaltsstoff 2-Aminoethanol heraus). Aber in diesem Sommer scheinen die Linden geradezu vor Zuckersaft zu triefen, an manchen Stellen glänzte der Gehweg unter ihnen, die Schicht schien millimeterdick, als hätte jemand eine Flasche Sirup vergossen. Dank Internet lernte ich, dass Linden nicht selbsttätig tropfen, sondern dass die zuckerhaltigen Ausscheidungen einer auf Linden spezialisierten Läusepopulation dafür verantwortlich sind. Ist 2023 also ein Läusejahr? Es ist ja auch schon ein Orcajahr, und – wie mir letzte Woche an der Ostseeküste auffiel – offenbar auch ein Greifvogeljahr. Vielleicht sind manche vermeintlichen Häufungen aber auch nur gefühlt. In Zeiten des sich immer weiter manifestierenden Klimawandels mit seinen jährlich neu eskalierenden Anomalien guckt man womöglich ja auch genauer hin, hat feinere Antennen, eine geschärfte Aufmerksamkeit. Nicht normal ist das neue normal, man droht sich daran zu gewöhnen. Nicht schön.

Die Pflanzen auf den Grünstreifen neben Straße und Gehweg lassen welk Stängel und Blätter hängen. Mehr Vegetation in den Städten könne im Sommer an heißen Tagen die Temperatur merklich senken, liest man. Flächen sollten entsiegelt, von Beton und Asphalt befreit und üppig begrünt werden. Ich fände das wunderbar, allein optisch. Aber gleichzeitig vermelden die Nachrichten auch Dürren, Wassermangel und ausbleibende Niederschläge allerorten. Da kommt die Frage auf, ob und wie die zusätzlichen Stadtpflanzen in den dräuenden immer heißeren und trockeneren Jahren bewässert werden sollen, wenn die vorhandenen Gewächse derzeit schon dürsten.

Auch ich dehydriere allmählich auf meinem Weg. Ich hätte eine Wasserflasche mitnehmen sollen, bereits der mäßig weite Weg zum gewählten Supermarkt erweist sich als Durststrecke. Im Laden kaufe ich mir ergänzend zu den notierten Einkäufen ein isotonisches Sportgetränk. An heißen Sommertagen ist auch Gehen Sport.

Mit Blick aufs Thermometer ist es dieser Tage eigentlich noch gar nicht übermäßig heiß. 28 °C in Hamburg, sagt die Wetter-App. Der Hochsommer liegt noch vor uns, es könnten Tage mit 30, 34, 36 °C bevorstehen. Da fällt mir ein weiterer Textausschnitt ein, der mir im Kopf hängengeblieben ist – aus einer Satire des wunderbaren Ephraim Kishon:

Ich weiß nicht, auf welchem Breitengrad unsere Wohnung liegt. Es kann nicht sehr weit vom Äquator sein. Im Schlafzimmer haben wir 42 Grad gemessen, an der Nordwand unserer schattigen Küche 48 Grad. Um Mitternacht.
Seit den frühen Morgenstunden liege ich da, bäuchlings, die Gliedmaßen von mir gestreckt, wie ein verendendes Tier. Nur dass verendende Tiere kein weißes Schreibpapier vor sich haben, auf das sie etwas schreiben und mit ihrem Namen zeichnen sollen. Ich, leider, soll. Aber wie soll ich? Um den Kugelschreiber aufzuheben, müsste ich mich hinunterbeugen, in einem Winkel von 45° (45 Grad!), und dann würde der auf meinem Hinterkopf ruhende Eisbeutel zu Boden fallen, und das wäre das Ende.

(Ephraim Kishon: »Hitze«)

Meine Strategie gegen Hitze in der Wohnung – soweit die tageszeitlichen Schwankungen Außentemperatur das zulassen – ist, möglichst nur nachts zu lüften. Gegen Mitternacht reiße ich alle Fenster und Türen auf – außer der Wohnungstür natürlich – und lasse den linden Nachthauch durch meine Klause strömen. Morgens zwischen 7 und 8 wird dann wieder alles verrammelt, auf der Sonnenseite zuerst, auf der Schattenseite warte ich gern noch ein bisschen. Es gibt etliche Tipps und Tricks im Netz, wie sich eine sommerheiße Wohnung mit »Life Hacks« runtertemperieren lassen soll, viele davon nutzen das Prinzip der Verdunstungskühle. Man kann z.B. nasse Handtücher vor den Ventilator hängen und ihn dagegenblasen lassen. Das mag tatsächlich einen gewissen Temperaturabfall erzielen, aber ich frage mich, was passieren würde, wenn ich das den ganzen Tag und vielleicht auch nachts machte? Die viele Feuchtigkeit, die da verdunstet, bliebe ja in der Wohnung. Was nützte es mir, wenn ich vier, fünf Grad Abkühlung erziele, doch dafür wellten sich die Seiten meiner Bücher im Regal, die Tapete löste sich ab, Holzmöbel quöllen auf, Schimmel eroberte Winkel und Ecken? Ich bin ein bisschen skeptisch.

Letzte Nacht gab es ein Gewitter in Hamburg, das war schön. Endlich mal länger als nur drei Minuten Regen, der sich ansammelt, anstatt sofort zu verdampfen und die Luft lediglich in ein atembares Heißgetränk zu verwandeln. Die Kühle hielt bis in den Morgen hinein an, ich wertschätze das. Überhaupt fühlt sich Sommer tagsüber und nachts, selbst bei annähernd gleich warmer Luft, für mich komplett anders an, erst recht in einer großen Stadt wie Hamburg. Wenn die emsigen Geräusche des Tages verstummen, kaum noch Autos und Fußgänger unterwegs sind, die Sonne untergegangen ist, in der Nachbarschaft überall die dunklen oder noch beleuchteten Fenster und Balkontüren weit offenstehen, nur ab und zu ein Lufthauch das Laub der Straßenbäume zum Rascheln bringt oder die nächtliche Stille ab und zu von fern durch ein Martinshorn oder das Rumpeln einer Hochbahn durchbrochen wird, hat eine Stadt im Sommer eine ganz besondere Atmosphäre. Kupferfarbene Zeitlupe. Ein früher Song der Eurythmics ist für mich seit einer Reise nach Chicago, als ich einmal mitten in der Nacht in der Maihitze auf dem Hotelbalkon diese Nachtstimmung einsog, deren perfekte musikalische Inkarnation:

Vorhin hatte ich ja gemutmaßt, meine persönliche Temperaturpräferenz könne mit der Jahreszeit meiner Geburt korrelieren. Aber in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es auch Gegenbeispiele. Eine ehemalige Kollegin, der es im Sommer nie warm genug sein konnte und die quasi gleich nach der ersten sonnigen Mittagspause eines Jahres braungebrannt wieder zurück ins Büro kam, hat Anfang Januar Geburtstag. Ein anderer Freund, der den Sommer und die Hitze liebt, ist im Mai geboren. Ein Kollege, der kurz oberhalb normaler Zimmertemperatur zu zerfließen beginnt, erblickte das Licht der Welt Anfang Juni. Kann also nicht sein. Sind es die Gene? Ist die Darmflora schuld? Gerne läse ich dazu von Indizien und weiteren Vermutungen in den Kommentaren. Von Max Goldt gibt es einen Text, der den Missmut der Thermophoben über alle Sternzeichen hinweg ganz gut in Worte fasst:

Viele Menschen hassen den Sommer. Doch niemand ist verpönter als einer, der den Mut besitzt, sich und andern einzugestehen, dass er dem Sommer nicht nur für sich persönlich keine gute Seite abgewinnen kann, sondern ihn regelrecht hasst und ihm den Vorwurf macht, an Übellaunigkeit und Antriebsschwäche schuld zu sein.
Dabei hat auch der Sommer durchaus schöne Tage, an denen es nur 15 Grad hat, ein freundlicher Wind die Windjacken wölbt und der Himmel die durstige Schöpfung labt. Doch dann wird gemault und gejammert, und die Medien überbieten einander mit langweiligen, leutseligen Wetterbedauerungen.
Doch freilich sind’s die heißen Tage, die uns Sommerverächtern am meisten auf die Nerven gehen. Sofort reißen sich die Leute die Kleider vom Leibe und finden es offenbar völlig normal, in Unterwäsche Kunden zu bedienen, Kinder zu unterrichten oder Kirchen zu besichtigen.

(Max Goldt: »Der Sommerverächter«)

Die steigenden Temperaturen führen auch dazu, dass ich eine Abneigung entwickele, Wärme absondernde Haushaltsgeräte in Betrieb zu nehmen. Gern äße ich eine Scheibe Toast zum Frühstück, aber die glühenden Drähte im Brotschacht knuspern ja nicht bloß die Brotscheibe rösch, sondern heizen daneben auch die Küche mit auf. Pinienkerne für Pesto im Backofen rösten? Inakzeptabel. Irgendwas auf einer Herdplatte kochen oder braten? Abwegig. Staubsaugen und sich die Abwärme in die Bude föhnen lassen? Schauderhaft. Den Geschirrspüler einschalten und beim Öffnen der Klappe, selbst nach Stunden noch, von einem warmen Dunstschwall umfangen werden? Unerquicklich. Gibt es schon den Begriff »Sommerverwahrlosung«?

Aber ich will auch nicht nur klagen, der Sommer hat schließlich immer noch auch ein paar schönen Seiten, trotz Klimawandel. Es gibt lecker heimisches frisches Obst und viel saisonales Gemüse, es blüht und grünt überall (sofern genug Regen fiel), man kann Eis essen und baden gehen, picknicken und im Schatten einer Kastanie im Biergarten oder auf dem Balkon sitzen. Aber manchmal habe ich das Gefühl, wenn ich über den Sommer klage, wird es für die Dauer meiner Tirade ein kleines bisschen kühler. Vielleicht senken ja nicht nur nasse Handtücher vor dem Ventilator die Temperatur in der Wohnung, sondern auch ein bisschen Hitzejammern.


Wie kommt Ihr mit Hitzetagen klar? Was glaubt Ihr, wodurch Eure Präferenz geprägt wurde? Was sind Eure »Life-Hacks«, wenn Ihr Linderung sucht? Welche Texte oder Musikstücke assoziiert Ihr mit extrem heißen Tagen? Ich freue mich über Kommentare.

2 Kommentare

  1. Ich habe schmunzelnd gelesen – danke.
    Lifehacks für die Hitze? Nun ja, in einer deutschen Stadt ist das tatsächlich schwierig. Ich fand immer, in D wäre die Hitze schwerer zu ertragen als weiter südlich, vielleicht, weil ich meist in Gegenden mit höherer Luftfeuchtigkeit lebte.
    Seit ich hier in Amman lebe, sind dreißig Grad im Sommer eher nett – ich hab’s gern warm und bin eher der Wintermuffel.
    Mir fehlt hier manchmal die Möglichkeit, Dinge ganz früh zu erledigen – da ist noch nichts geöffnet, in D habe ich an heißen Tagen zugesehen, wenn möglich vor 9 Uhr wieder zu Hause bzw. im Büro zu sein. Hier müsste ich, wie es viele Leute tun, einen großen Teil auf die Zeit nach Sonnenuntergang verlegen, was mir aber gar nicht liegt.
    Im Haus stehen Tag und Nacht alle Fenster offen – ab einem gewissen Punkt funktioniert das mit dem nachts lüften und tags alles dichtmachen nicht mehr. Sonnenseitig werden nur die Rolläden heruntergelassen, der Luftzug muss sein. Dazu kommt pro Raum ein Ventilator – viele Leute haben hier zumindest in einem Raum eine Klimaanlage, aber wir beide sind kein Freund davon und ich glaube, unsere Katzen fänden es auch nur so maumau.
    In diesem Jahr hatten wir ungewöhnlich oft Regen im Frühjahr – wohl auch eine Auswirkung des Klimawandels, ein bisschen in die andere Richtung. Mal sehen, was uns der Sommer beschert. Ein paar Stunden weiter im Osten, in Kuwait, war es im letzten Sommer absolut unerträglich, wie berichtet wurde. Amman hat immer noch den Vorzug, auf fast 1000 m Höhe zu liegen, das bringt mehr Luft und oft gemäßigtere Temperaturen gegenüber anderen Landesteilen.
    Aber ich werde schon wieder geschwätzig.

    1. Ich danke sehr für die »Geschwätzigkeit«, ich fand es sehr interessant, mal aus einer anderen geographisch-klimatischen Perspektive als der hiesigen auf das Thema schauen zu können!

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