Sprache ist doch etwas Tolles. So unendlich vielfältig, dass man im Prinzip alles damit ausdrücken kann und doch so beschränkt, wenn einem manchmal die Worte fehlen. So einfach und logisch und doch so inkonsequent, komplex und manchmal verwirrend. So präzise und doch oft so doppeldeutig. Man kann Dinge sagen, indem man sie knapp und pointiert formuliert oder indem man sie überbordend ausschmückt, doch manche ellenlangen Texte bleiben trotzdem nach dem Lesen komplett unverständlich. Manchmal genügt ein einziges Wort, um alles von Belang mitzuteilen und manchmal gibt es sogar Momente, in denen unendlich viel gesagt werden kann, indem man einfach nur schweigt.
Sprache ist eine Plattform, auf der alle sich verständigen können, die sie beherrschen und doch ändert sie sich ständig und niemand, kein/e Politiker*innen und kein/e Populist*innen können diesen Prozess auf Dauer unterbinden. Es gibt zehntausende von Wörtern und doch sind es nie genug, so dass ständig neue hinzukommen und jedes Synonym, das es für ein Wort gibt, hat eine abweichende Nuance in seiner Bedeutung.
Ich war schon immer fasziniert von Wörtern und von Kindesbeinen an daran interessiert, mir möglichst viele anzueignen. Ich wollte sie haben, benutzen, mit ihnen arbeiten und spielen. Ich hasse Missverständnisse, die bei unklarer Kommunikation entstehen und die Nachfragen oder sogar Unstimmigkeiten nach sich ziehen und mein Wortschatz hilft mir dabei, dies nach Möglichkeit von vornherein zu vermeiden. Irgendwann schrieb ich mal ins Internet »Effizienz ist die edelste Form der Faulheit« und das ist auch eine meiner Maximen beim schriftlichen und gesprochenen Ausdruck – wenn ich etwas möglichst kurz und eindeutig mitteilen kann, geht es schneller und ich muss nachträglich nichts erläutern, ergänzen oder widerrufen.
Ein Punkt aus meiner Einleitung (»Es gibt tausende von Wörtern und doch sind es nie genug, so dass ständig neue hinzukommen«) interessiert mich z.B. immer wieder besonders. Warum geraten manche Wörter mit der Zeit ins Abseits oder sterben aus und warum gewinnen neue Wörter plötzlich an Popularität und Verbreitung? Ich freue mich immer, wenn ich in Texten oder Gesprächen »alte« Wörter wahrnehme, wie etwa »indes«, »famos« oder »dergleichen«. Und wer kreiert neue Wörter und wieso? Ich finde etwa, dass es noch nie so deutlich spürbar wurde wie heutzutage, dass Politiker über alle Parteien hinweg (und/oder deren Berater) mehr oder weniger geschickt versuchen, ihre Programme oder Maßnahmen mittels Sprache und neu geschaffenen, meist sehr plakativen Begriffen zu »framen«. Die Konsequenz, mit der einzelne Repräsentanten aus Politik oder Wirtschaft bei jedem Medienauftritt ihre jeweils gerade sendebedürftigsten Vokabeln, Floskeln oder sogar ganzen Sätze in absolut identischer Form immer und immer wieder abspulen, hat bisweilen schon etwas Roboterhaftes, stur nach dem Prinzip »steter Tropfen höhlt den Stein« – zwar eindringlich, aber maximal penetrant und völlig entseelt. Einige Begriffe früherer Akteure sind längst in unser aller Wortschatz hineindiffundiert, ohne dass heute noch irgendjemand darüber nachdenkt, woher diese ursprünglich stammen. So fällt zum Beispiel auf, dass das Wort »Entsorgung« als Begriff für die vermeintlich endgültige bzw. unproblematische Beseitigung von Müll oder Abfall seit dem Jahr 1974 signifikant häufiger genutzt wurde, zunächst in den Massenmedien und später auch im alltäglichen Sprachgebrauch der Bevölkerung (siehe Grafik »Abb. 1: DWDS-Wortverlaufskurve für Entsorgung und entsorgen«). Im Jahr 1977 stand »Entsorgung« auf Platz 4 der damals seit kurzem von der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. erkorenen »Wörter des Jahres«. Woher kommt diese plötzliche Popularität? In Deutschland gibt es einerseits seit 1974 ein flächendeckendes Sammelsystem für Glas, also könnte womöglich eine aufkommende breitere Debatte zum Thema Müllvermeidung oder Recycling das Wort »gepusht« haben. Andererseits taucht das Wort gegen Mitte der 1970er Jahre auch verstärkt im Zusammenhang mit der Beseitigung und »End-«Lagerung von Atommüll auf, also könnte der Ursprung eventuell auch dort liegen.
»1975: Untersuchungen zur Errichtung eines Nuklearen Entsorgungszentrums
Quelle: www.endlagersuche-infoplattform.de
Beginn der Untersuchung dreier Standorte in Niedersachsen zur Errichtung eines Nuklearen Entsorgungszentrums im Auftrag der Bundesregierung. Mit dem Bekanntwerden der Untersuchung regt sich an allen Standorten Widerstand.«
Ist es plausibel, anzunehmen, dass der Begriff entweder von Vertretern aus dem Umfeld der Atomlobby kreiert und gezielt medial in Umlauf gebracht wurde? Oder stammt er von Politikern, in deren Interesse es stand, der Bevölkerung zu suggerieren, das Problem des Abtransports und der Einlagerung radioaktiver Abfälle sei problemlos, endgültig und sorgenfrei möglich?
»Wer auch immer die beiden Wörter (gemeint sind Entsorgung und entsorgen) geprägt hat, tat einen genialen Griff. Sie nutzen den Wortschatz der Emotionen für einen euphemistischen Terminus technicus. Das Wort entsorgen legt nahe, man würde nicht nur seinen Müll los, sondern auch seine Sorgen.
Quelle: www.welt.de (2017)
Darüber jedoch denkt heute wohl kaum noch jemand nach. Wir »entsorgen« dank dieses Begriffs mittlerweile alles Mögliche, von der Bananenschale über gebrauchte Batterien und Schlachtabfälle bis hin zu ausgedienten hochradioaktiven Brennstäben. Das Wort und seine beschönigende Aura sind in der Welt und werden sie wohl vorerst auch nicht wieder verlassen.
In diesem länger zurückliegenden Fall ist es schwierig, im Nachhinein klar zu beweisen, wann, wo und von wem der Begriff gezielt oder beiläufig erfunden wurde.
Update: Ich habe noch einen Link zu einem Dokument gefunden, in dem die Wurzeln des Begriffs »Entsorgung« als Synonym für die Beseitigung von (radioaktiven) Abfällen erkundet und auf das Jahr 1975 datiert wurden – sie liegen tatsächlich in der Politik:
Ein Lehrstück zum Thema Verbreitung sprachlicher Ausdrücke bieten die Abschnitte, die die Kommunikationskarriere des Ausdrucks Entsorgungspark behandeln. Dieser Ausdruck wurde im Jahre 1975 im Innenministerium erfunden und dort intern etwa eineinhalb Jahre lang verwendet. In die Öffentlichkeit gelangte das Wort erstmalig im Mai 1975, als Innenminister Maihofer es in einem Vortrag bei einer Reaktortagung verwendete. Die anderen Ministerien, vor allem das Forschungsministerium, zogen »Entsorgungsanlage« vor. 1975 finden sich weitere vereinzelte Verwendungen, z.B. in der Rede eines Bundestagsabgeordneten. Aber schon 1976 verwenden die Experten das Wort nicht mehr; es ist eine terminologische Eintagsfliege. Auch in der Presse sind Belege kaum zu finden.
Quelle: Gerd Fritz – »Rezension von: Jung, Matthias: Öffentlichkeit und Sprachwandel. Zur Geschichte des Diskurses über die Atomenergie«, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994 – PDF
Nachdem es eigentlich schon tot ist, wird das Wort in den 80er Jahren von Sprachkritikern in den Medien und in der Wissenschaft entdeckt. Es wird als abschreckendes Beispiel eines manipulativen Euphemismus zitiert und als Standardbeispiel weitertradiert. So erlebt es eine Karriere aus zweiter Hand, die bis heute viel dynamischer ist als die unbedeutende Erstkarriere.
Für neuere Begriffe aus Politik oder Medien, die in der jüngeren Vergangenheit entstanden, seien sie euphemistisch, neutral oder abfällig (»Gute-Kita-Gesetz«, »Rettungsschirm«, »Abwrackprämie«, »Kopftuchverbot«, »Maskendeal«, »Heizungsgesetz« oder »Heizhammer«, »Impfskeptiker«, »Klimakleber« – die Liste kann endlos fortgeführt werden) lassen sich der Zeitpunkt des Ursprungs und die Zielsetzung weit besser protokollieren. Allein in den drei Jahren der Corona-Pandemie entstanden Hunderte solcher neuen Wortschöpfungen (»Neologismen«) wie etwa »Distanzbier«, »Impfwurst« oder »Kontakttagebuch« und fast täglich werden wir alle in der Berichterstattung der Medien, in Postings, Kommentaren oder Alltagsgesprächen mit weiteren neuen Begriffen konfrontiert. Einige verschwinden nach einer gewissen Zeit wieder, andere sind gekommen, um zu bleiben. Und alle sind sie entstanden, um den offenbar unzulänglichen vorhandenen Vokabeln im bisherigen Wortschatz etwas hinzuzufügen, nämlich entweder eine Präzisierung oder Ausweitung der Bedeutung und/oder eine neue und starke Assoziationsebene (positiv oder negativ), von der sowohl die Erfinder als auch die bewussten Nutzer des jeweiligen Begriffes in irgendeiner Form profitieren. Dass das Aufgreifen und Weiterverbreiten solcher Neuschöpfungen sehr oft unbemerkt oder unreflektiert geschieht, halte ich für problematisch. Dass selbst »Qualitätsmedien« solche Begriffe arglos, nachlässig oder gezielt übernehmen bzw. kritisch behaftete Wörter dieser Art nicht wenigstens in Anführungszeichen setzen, um damit sowohl deren Framinganspruch zu kennzeichnen als auch journalistische Professionalität zu zeigen, finde ich noch problematischer. Denn so sickern Lobbyismus, Propaganda, Diskriminierung und all ihre manipulativen Verwandten heimlich, still und leise in die Alltagssprache ein und vergiften den Dialog oft unmerklich, gerade auf Kanälen und in Situationen, wo Sachlichkeit im Diskurs dringend vonnöten wäre.
Jetzt ist mir das Thema eigentlich in eine viel zu ernste Ecke abgedriftet. Denn mein Impuls, etwas zu Neologismen zu bloggen, kam eigentlich aus einer ganz anderen Ecke. Ich hörte nämlich neulich in einem privaten Gespräch nach längerer Zeit mal wieder das Wort »Nuckelpinne«. Für diejenigen, die es nicht kennen: es bezeichnet leicht spöttisch ein Fahrzeug (meistens ein Auto), das klein, schwach motorisiert, langsam, minderwertig ist, ähnlich wie »Klapperkiste«, »Schrottmühle« oder »Rostlaube«. Und daraufhin fing ich an, über die Bedeutung und die Ursprünge längst etablierter älterer Neologismen nachzudenken, die teilweise schon wieder drohen, in Vergessenheit zu geraten. Wieso »Nuckelpinne«? Was nuckelt da und warum pinnt es? Warum konnte sich ein derart wenig nachvollziehbarer Begriff für Jahrzehnte im Wortschatz festsetzen? Das Wort steht sogar im Duden! Zum Ursprung heißt es dort: »Herkunft ungeklärt, vielleicht zu nuckeln (wegen der langsamen Bewegung) und Pinne im Sinne von ›etwas Kleines; kleines Teil o. Ä.‹«
Es gibt Dutzende solcher seltsamen Wörter, die sich irgendwann mal jemand ausgedacht haben muss und deren Wortbestandteile sogar häufig deutlich klarer in ihrer Einzelbedeutung sind als »nuckeln« und »Pinne«. Hier mal eine spontan erstellte, natürlich unvollständige Liste:
- Quetschkommode (Akkordeon oder eine Ziehharmonika)
- Drahtesel (Fahrrad)
- Nesthäkchen (kleines Kind, Sprössling, jüngster Nachkomme)
- Trantüte (langsamer, trödeliger oder behäbiger Mensch)
- Arschkarte [ziehen] (in die momentan denkbar ungünstigste Lage geraten)
- Herzkasper (Schreck oder Herzinfarkt)
- Pappenstiel [etwas ist kein …] (Kleinigkeit, Lappalie)
- Ratzefummel (Radiergummi)
- Wuchtbrumme (besonders üppig gebaute oder übergewichtige Frau)
- Schwerenöter (irgendwie sympathischer, aber auch durchtriebener Mensch)
- Fersengeld [geben] (zügig entfliehen)
- Schreckschraube (herrische oder unattraktive Frau)
- Quadratlatschen (ungewöhnlich große Füße)
- Zwickmühle (Dilemma)
- Hüftgold (überflüssige Pfunde in der Bauchgegend)
- Schnapsidee (törichter Einfall)
- Wonneproppen (wohlgenährter Säugling)
- Pappenheimer (Person mit einem erwartbaren, typischen Verhalten)
- Fracksausen, Muffensausen (Angst)
- Miesepeter (chronisch übellaunige Person)
- Feuerstuhl (sportlich motorisiertes Motorrad)
- Lokalmatador (lediglich örtlich berühmte Person)
- Pustekuchen (das vergebliche Resultat einer Bemühung)
- Dreikäsehoch (kleiner Mensch, meistens ein Kind)
- Nasenfahrrad (Brille)
- Schlauberger (altkluger Mensch)
- Korinthenkacker (kleinlicher, übermäßig penibler Mensche)
- Sesselfurzer (passiver, untätiger, antrieblsoser Mensch)
- Mummenschanz (Maskerade, Verkleidung, Farce)
- Schindluder (Missbrauch, Betrug)
- Drückeberger (faule oder sich ihren Pflichten entziehende Person)
- Schluckspecht, Schnapsdrossel (Mensch, der übermäßig dem Alkohol frönt)
- Lustmolch (sich sittenwidrig oder sexuell übergriffig verhaltender Mann)
- Torfnase, Vollpfosten (begriffsstutziger oder tollpatschiger Mensch)
- Geizhals (knauseriger Mensch)
- Grüßaugust (Person, die ein repräsentatives Amt bekleidet, aber keine wirkliche Macht besitzt)
- Klapsmühle (psychiatrische Klinik)
- Lackaffe (eingebildeter, eitler, geckenhafter Mensch)
- Kohldampf (Hunger, Appetit)
- Zukunftsmusik (aktuell noch nicht relevante Maßnahme/n)
- Krisenherd (Ursprungsort eines Konfliktes)
- … Oder auch längere Redewendungen wie »Himmel, Arsch und Zwirn«, »Mein lieber Scholli«/»Mein lieber Herr Gesangverein«, »jemandem zeigen, wo der Hammer hängt«/»jemandem zeigen, wo der Bartel den Most holt« etc.
Damit soll’s erstmal gut sein. Natürlich wäre es interessant, jetzt für jeden der Begriffe, bei dem es nicht intuitiv ersichtlich wird wie z.B. beim »Drahtesel«, die Herkunft oder den Ursprung zu ergoogeln, aber das eigentlich Spannende ist für mich, warum solche Begriffe sich ab dem Zeitpunkt ihrer Entstehung verbreitet und schließlich regional oder im gesamten Sprachraum im Wortschatz etabliert haben. Denn anders als die obengenannten politischen Neologismen, die bewusst zum Zweck des Framings und der Beeinflussung erschaffen und anschließend gezielt über Kommunikation und Medien verbreitet wurden, sind solche »klassischen« Begriffe vermutlich nicht absichtlich entstanden, um möglichst große Verbreitung zu finden, sondern wohl eher aus dem Bedarf heraus, spontan in einem Gespräch oder einem Text für einen Sachverhalt ein Wort zu kreieren, das dessen Benennung eine treffendere, manchmal spöttische oder humorvolle Bedeutungsebene hinzufügt. Das allein ist aber noch kein Grund dafür, dass das Wort danach außer dem Erfinder noch irgendjemand anders verwendet oder dass es sogar »viral geht« und sich auf die gesamte Sprachgemeinschaft ausbreitet. Es könnte genausogut verhallen und nie wieder genutzt werden, was vermutlich auch vielen originellen Neologismen beschieden war, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort geboren wurden und trotz ihres Witzes oder ihrer Pointiertheit wieder in Vergessenheit gerieten. Wie gerne würde ich einige davon kennen! Bei den erfolgreicheren Neuwörtern aber scheint es so zu sein, dass sie ab dem Zeitpunkt ihres Entstehens für so treffend oder originell gehalten wurden, dass viele Menschen beim ersten Kontakt damit sowas dachten wie »geil, das merke ich mir mal!«. Und dieser »Impact« ist für viele historisch überlieferten Begriffe (zumindest für mich und aus heutiger Sicht) schwer nachvollziehbar. Wieso zum Beispiel »Dreikäsehoch« und nicht »Vierziegelgroß«? Warum hat sich der »Warmduscher« (gefühlt) stärker durchgesetzt als »Schattenparker«, »Sitzpinkler« oder »Schiffschaukelbremser«? Wieso wurde die »Quetschkommode« populär, obwohl ein Akkordeon an etliches andere mehr erinnert als an eine Kommode?
Ich selbst habe ebenfalls ein Erlebnis mit einem einst von mir erdachten und öfter genutzten Begriff, den ich inzwischen auch an anderer Stelle »wiedergefunden« habe – und nun gibt es zwei Möglichkeiten: entweder bin ich tatsächlich der Urheber dieser Wortkombination und diese hat sich tatsächlich aus meinen Gesprächskreisen weiterverbreitet, oder jemand anders hatte irgendwann zufällig dieselbe Idee zu dieser Wortschöpfung und nur deshalb taucht sie nun andernorts auf.
Der Ausdruck stammt etwa aus der Zeit, als ich in der 8.–10. Schulklasse war (also etwa 14–16 Jahre alt) und mit einigen Schulfreunden zusammen in unregelmäßigen Abständen eine »Klassenzeitung« namens »Skandal-Post« herausbrachte. Der Zweck der Zeitung war reiner Spaß, wir, die Mitwirkenden wollten unsere kreativen Einfälle in Umlauf bringen, die Klassenkameraden erheitern, zusammen etwas Witziges aushecken. Wir schrieben lustige Lehrerportraits, sammelten lustige Lehrerzitate oder Schüler-Lehrer-Dialoge (Chemieunterricht. Lehrer: »Woraus besteht die Erdatmosphäre?« – Schüler »Wasserstoff?« – »Lehrer: Ja klar. Wenn Onkel Meier sich seine Morgenlulle ansteckt, fegt ein Glutball um die Erde.«) oder kürten in klassenweiter Abstimmung ohne Arg die beliebteste und/oder hübscheste Mitschülerin als »Miss 8f₃«. Im Rahmen der Redaktionsarbeit ging es irgendwann mal um einen Artikel zu inflationären Feiertagen, sprich jene, an denen Schüler in anderen Bundesländern (vornehmlich im katholischen Bayern) unterrichtsfrei hatten, wir in Niedersachsen aber leider nicht. Und als satirischer Stellvertreter dieser gehäuften katholischen Feiertage entstand für die »Skandal-Post« der fiktive Anlass »Mariä Einschulung«. Kein echter Neologismus zwar, sondern eher eine Wortkombination, aber diese habe ich in den letzten Jahren im Netz (ich weiß nicht mehr, wo genau) plötzlich wiederentdeckt und mich natürlich gefragt, wie der dorthingekommen ist. Es wäre mir natürlich eine große Ehre, einen eigenen Begriff in Umlauf gebracht zu haben, aber zweifelsfrei herausfinden oder beweisen, ob es so ist, werde ich wohl kaum können.
Ein anderer Begriff, den ich schon länger gerne benutze (ohne mich erinnern zu können, woher er kommt) und der sich offenbar seit einigen Jahren munter weiter verbreitet, ist die Bezeichnung »Schwumm« (Artikel: der) für einen sportbedingten Gang in ein Badegewässer (z.B. »Ich kam gerade von meinem Morgenschwumm zurück, da klingelte das Telefon.«). Offensichtlich gibt es einen Bedarf für dieses Wort, denn ich kenne kein ebenso kurzes und treffendes Synonym dafür – und dies könnte sowohl seine Verbreitung gefördert als auch begünstigt haben, dass es an mehreren Stellen simultan entstanden sein könnte.
Auf dem Twitterkanal meines Zweitaccounts @wortgeburt sammle ich seit September 2009 Neologismen, die mir gefallen und die ich zumeist irgendwo im Netz oder »draußen« aufgeschnappt habe. Einige davon sind aber auch Eigenkreationen:
- Klickschweiß (Symptom großer Anstrengung beim Surfen/Recherchieren im Internet)
- Tupperlawine (was auf einen herabprasselt, wenn man den betreffenden Küchenoberschrank öffnet)
- Kofferzombies (Menschen an Bahnhöfen und Flughäfen, die mit ungeschickt platzierten Gepäckstücken anderen Reisenden den Weg versperren und dies selbst nicht zu bemerken scheinen)
- Mumiensteak (sehr zähes gegartes Fleischstück)
- Misanthropenkongress (könnte man z.B. für neubraune Parteitage nutzen)
- Wimmerpop (kreiert für Musik von »Silbermond«, aber auch beliebig auf ein ganzes Genre ausweitbar)
- Genitivreservat (Orte, an denen dessen Anwendung noch gepflegt und geschätzt wird)
- Nippringe (die schaumigen mehretagigen Restränder im Inneren von Trinkgefäßen, aus denen gemeinhin schluckweise getrunken wird, z.B. Biergläser oder Milchkaffeetassen)
- Siffnapf (Aufbewahrungsbehälter bei stehenden Klobürsten)
- Deppengerinnsel (verwandt mit Kofferzombie – Menschengruppen, die diskutierend oder ratlos umherguckend vor Rolltreppen, Durchgängen herumstehen und allen anderen damit den Durchgang versperren)
- Scrollschal (endlos lange Internetseite, die zum mühevollen Suchen des gewünschten Contentabschnitts zwingt, oft z.B. Rezeptseiten in Foodblogs. Siehe auch: Klickschweiß)
- Brutschubse (Mutter, die den Kinderwagen mit ihrem Nachwuchs in Menschenmengen vorsätzlich/aggressiv als Rempelwaffe einsetzt)
Ich bin hin- und hergerissen, wie ich angesichts der jüngsten Musk’schen Eskapaden mit diesem Twitteraccount verfahren soll. Löschte ich ihn, gingen aktuell gut 16.400 Tweets mit famosen Wortkreationen verloren (da ich so gut wie keine Replys dort abgebe, entspricht die Zahl der Tweets annähernd den geposteten Begriffen). Würde ich ihn verlassen und anderswo neu aufsetzen wollen, wäre die Frage: »Wo?« Denn meine neue Haupt-Social-Media-Plattform Mastodon hat einen wesentlichen Nachteil gegenüber Twitter: Ich kann beim Erspähen eines (für mich) neuen Wortes nicht per Volltextsuche prüfen, ob es tatsächlich neu ist und erstmals an meinem Fundort Verwendung fand – eine für meinen Anspruch an »Wortgeburten« essenzielle Funktion. 😕
Ich jedenfalls hoffe, es wird weiterhin jeden Tag schöne neue Wortkreationen geben. Gerne mehr von denen, die aus Bedarf und/oder mit heiterer oder milde spöttischer Gesinnung entstehen und weniger von denen, die framen, lobbyieren, diskriminieren, ausgrenzen, herabsetzen oder beleidigen. Denn die Wortschatzkiste wird nie voll sein, und die Kostbarkeiten, die sie birgt, können alle bereichern.
Eines der für mich schönsten Wörter ist „Puppenküchenkappes“, rheinisch für Rosenkohl.
Sehr schön!
Ist das vom Sinn her eher ein Wort im Sinne von Rosenkohlfreunde oder was für Rosenkohlverächter?
Für beide, nehme ich an.
Der Artikel hat mir gefallen, ich frage mich bei Neologismen auch oft, wie die in die Alltagssprache kommen.
Hier noch zwei herrliche Quellen für Wortneuschöpfungen, mithilfe der französischen resp. englischen Sprache:
https://www.der-postillon.com/2020/06/franzoesische-woerter.html
https://www.der-postillon.com/2020/06/60-eingedeutschte-woerter.html
Wunderbare Listen! Danke!
Beitrag zur Spurensuche: „Mariä Einschulung“ ist mir zum ersten Mal 2012 begegnet, im Gespräch mit einem freundlichen und sehr internetaffinen Berufskatholiken in Süddeutschland.
Oh, danke für den Hinweis!
Ich finde die Redewendungen, Begriffe usw. ja besonders interessant, die sich z.T. über das Rotwelsche aus dem Jiddischen ins Deutsche geschlichen haben (,,Hier zieht es wie Hechtsuppe!“). Dabei stelle ich mir immer vor, wie einige ,,Fahrende“ sich in einer Kneipe unterhalten und der ,,brave Bürger“ am Nebentisch die Ohren spitzt und alles falsch versteht.
Ja, die fremdsprachigen, falsch verstandenen oder in eine deutschere Aussprache »gerutschten« Neologismen wie »Fisimatenten« sind auch ein eigenes spannendes Feld. Es wird mit Sprache nie langweilig!