Gestern Abend war ich mit dem Mann im Omnipollos, einem unserer gern besuchten Craft-Beer-Pubs in Hamburg. Da der Pub recht klein ist, Wochenende und Samstag war und wir zu einem ähnlichen Zeitpunkt dort schon mal aufgrund größeren Andrangs nicht mehr untergekommen waren, reservierten wir vorher sicherheitshalber online einen Tisch. Um noch etwas Bewegung zu praktizieren, hatten wir uns vorgenommen, nur die erste Hälfte des Weges mit der U-Bahn zu fahren und den Rest durchs winterliche Hamburg zu Fuß zurückzulegen. Kurz vor dem Aufbruch begann es wieder heftig zu schneien, was der kleinen Stadtwanderung eine zusätzliche besondere Atmosphäre verlieh: es war bereits dunkel, aufgrund des Schneefalls waren merklich weniger Autos und Fußgänger unterwegs, in den Lichtkegeln der Laternen und Scheinwerfer stoben die Flocken und das gemütliche Knirschen unter den Sohlen bei jedem Schritt, in Verbindung mit den schneegedämpften Stadtgeräuschen machten aus dem ansonsten profanen Fußweg einen richtig schönen Winterstreifzug.
Als wir in dem Pub ankamen, erwies sich unsere Tischreservierung als überflüssig, es waren kaum andere Gäste da, so dass wir freie Auswahl bei unseren Sitzplätzen hatten. Die Wände und Möbel im Schankraum sind fast komplett in Pink gehalten, was die Netzhaut zwar anfangs etwas irritiert, aber in Verbindung mit der schummrigen Beleuchtung dann bald eine gemütliche Stimmung erzeugt. Auch die im Hintergrund spielende Musik war sowohl ungewöhnlich als auch der besonderen Stimmung förderlich – sehr jazzy und groovig, zwei der Stücke musste ich gleich mal shazamen: »Cat’s Groove« (Kaelin Ellis feat. Tony Rosenberg) und »Jimmy’s Groove« (Delvon Lamarr Organ Trio) – mir bislang komplett unbekannte, aber sehr coole Songs.
Wir saßen also da in dieser wenig besuchten, funky beschallten Bar, tranken unser Bier, unterhielten uns angenehm, draußen fiel Schnee und ich wollte diese Stimmung irgendwie in einem Foto einfangen, wusste aber, dass jede korrekt belichtete Aufnahme, egal mit welchem Motiv oder gleich aus welcher Perspektive, dem nicht würde gerecht werden können. Da kam ich darauf, zu versuchen, ob ich mit der Smartphonekamera vielleicht eine »Lomographie« hinbekommen würde – ein langzeitbelichteter Zufallsschnappschuss, bei dem man nicht durch den »Sucher« schaut, sondern einfach aus dem Stegreif in die Szene hineinknipst und sich vom Ergebnis überraschen lässt. Et voilà.
An meiner Sammlung analoger Fotos, die ich bis etwa 2005 im Alltag, auf Reisen und im Urlaub geschossen habe, haben lomographische Schnappschüsse einen ziemlich großen Anteil. Diese Art des Knipsens war gegen Mitte der 1990er Jahre ein ziemlicher Hype und als fotografisch interessierter Grafikdesigner kam auch ich nicht umhin, mir bald die spezielle, dafür prädestinierte Kamera zuzulegen: eine Lomo LC-A. Die zwei Besonderheiten der kleinen, sehr robusten mechanischen Kamera (anfangs noch aus original russischer Produktion) waren, dass sie erstens einen recht tiefentoleranten Fokusbereich hatte, man also das Motiv nicht extra scharfstellen musste und zweitens einen Belichtungssensor, der die Verschlusszeit noch während der Aufnahme regelte – auch bei schwankender Lichtstärke wurde immer so viel Belichtungszeit »gesammelt«, dass auf jeden Fall etwas auf dem späteren Foto erkennbar war. Fotografiert wurde »aus der Hüfte« – man hielt die Kamera einfach mit der Hand spontan in Richtung des anvisierten Motivs und drückte ab, ruhig gehalten oder auch bewegt. Und anders als heute, bei der (von mir sehr geschätzten und ausgiebig praktizierten) Digitalfotografie, konnten die experimentellen Resultate dieser Art zu fotografieren natürlich erst Tage oder Wochen später, nach der Filmentwicklung sowie Anfertigung der papierenen Fotoabzüge begutachtet werden.
Trotz dieses riskanten Ansatzes – denn es gab natürlich auch viel »Ausschuss« in Form missratener oder uninteressanter Bilder – war die große Stärke der gelungenen lomografischen Schnappschüsse aus meiner Sicht immer, dass sie perfekt die Stimmung in einem bestimmten Moment einfangen konnten. Bei schummrigem Licht erhielt man verwischte oder unscharfe Fotos, die Bildmotive waren meist abgeschnitten oder standen sonderbar schräg bzw. in gewagten Perspektiven im Format, die Gestik und Mimik der abgelichteten Personen waren meist total zufällig, zumal sie ja oft gar nicht merkten, dass sie fotografiert wurden, weil die Kamera »undercover«, am spontan gereckten Arm, statt gezielt mit Blick durch den Sucher auf sie gerichtet, zum Einsatz kam. Bei einer Urlaubsreise etwa, 1997 mit einer Gruppe von sechs Freunden in die Toskana, verfuhren wir uns auf der Anreise zum gemieteten Ferienhaus derart, dass wir erst nachts um eins am Ziel ankamen und uns die Vermieterin, im Nachthemd und mit einer Laterne in der Hand, auf dem Schotterweg der Zufahrt zum Haus entgegenkam, um uns das letzte Stück des Weges zu leuchten. Erschöpft und aufgekratzt saß unsere Clique danach noch bis in die Nacht bei reichlich Rotwein in der Küche der Unterkunft und die schrägen, verschwommenen Fotos dieser gleichermaßen angeheiterten wie ausgelaugten Gesellschaft, die ich in jener Nacht schoss, sind für mich in ihrer Unvollkommenheit bis heute die bestmögliche Essenz dieses besonderen Moments. Kein korrekt belichtetes, gerade ausgerichtetes oder scharf fokussiertes Foto hätte das genauso perfekt einzufangen vermocht.
Ich habe eben mal etwas in meinem Fotoarchiv gekramt und neun beispielhafte Papierabzüge aus meiner »lomografischen Periode« ohne Nachbearbeitung abfotografiert. Und ich glaube, ich kriege gerade Lust, diese nostalgische und herrlich unperfekte Art des Fotografierens – wenn auch mit der digitalen Smartphonekamera – künftig öfter mal wieder zu praktizieren.