Vielleicht merkt man es den Texten in diesem Blog bisweilen an – ich bin jemand, der viel nachdenkt. Es ist nicht so, dass ich grübelte, mir den Kopf über irgendwas zermarterte oder irgendwo dumpf vor mich hinstarrend sinnierte. Es ist eher so, dass ich im Alltag irgendein Detail bemerke und dieser kleine Kiesel gerät bei mir im Kopf ins Rollen und stößt dabei andere kleine und größere Steine an, die dann mit ihm zusammen den Gedankenhang herunterkullern. So brachte mich etwa kürzlich ein Zettel an der Eingangstür zu »meinem« Wohnhaus zum Nachdenken über Freundschaft, Nachbarschaft und Geselligkeit.
Auf dem Zettel stellten sich zwei neue Anwohner mit Vornamen vor, die in der näheren Nachbarschaft eine WG begründet haben und nun anregen wollten, den Kontakt unter den Anwohnern »unseres Viertels« zu intensivieren. Sie hätten zwei WhatsApp-Gruppen gegründet und wer wollte, könnte sich unter den genannten Mobilnummern anmelden und fortan von gegenseitigem Austausch, Nachbarschaftshilfe und gelegentlichen Treffen profitieren. Ich überlegte, ob das was für mich wäre und falls ja, ob ich den Zettel abfotografieren sollte, doch dann unterließ ich es zunächst und inzwischen wurde er von unbekannter Hand entfernt.
So richtig bedauert habe ich das nicht, denn ich mag eigentlich keine WhatsApp-Gruppen. Zumindest keine mit einer unbestimmten Anzahl mir (noch) fremder Personen, die womöglich ständig irgendwelche Push-Alarme auf meinem Mobilgerät auslösen, mich zwingen, dem Nachrichteneingang Aufmerksamkeit und Zeit zu schenken, um dann festzustellen, dass mich der Gegenstand ihrer Mitteilungen nicht betrifft, nicht interessiert oder beides.
Wenn ich in Filmen oder Serien wie z.B. »Tales Of The City« (nach Armistead Maupin) eine Nachbarschaft erlebe, in der die Türen aller stets offen stehen, jeder mit seinen Problemen und Anliegen zu jeder Zeit freien Zugang bei allen hat, die Leute einander fortwährend (und meist unangemeldet!) besuchen, zum Kaffee oder zum Klönen, sich gegenseitig aus ihrem Privatleben berichten – so es denn in einer solchen Konstellation noch privat sein kann – oder dazu Ratschläge erteilen, dann kann ich dieses Bild von Nachbarschaft als Setting für die erzählte Geschichte durchaus annehmen und sogar genießen. Für mich selbst jedoch wäre es ein Gräuel.
Ich habe kein Problem damit, z.B. meine Hausmitbewohner zu grüßen, wenn ich ihnen begegne, für Nachbarn Pakete anzunehmen oder im Treppenhaus oder vor dem Haus einen kurzen Plausch mit einzelnen zu halten. Ich habe sogar auf Anfrage schon für neue Nachbarn ein WLAN-Gastnetz aufgespannt, um ihnen zu helfen, die Homeofficezeit bis zur Freischaltung ihres eigenen Neuanschlusses zu überbrücken. Ginge es jedoch darum, einem Nachbarn oder einer Nachbarin während meiner Abwesenheit einen Wohnungsschlüssel zu überlassen, damit er/sie die Pflanzen gießen oder den Briefkasten leeren kann, bekäme ich bereits ein störendes Gefühl. Die Vorstellung, dass jemand in meiner Wohnung herumläuft, den/die ich nur oberflächlich kenne, löst in mir Unbehagen aus. Bei uns im Haus herrscht eine ziemliche Fluktuation; die Mieterin mir gegenüber im ersten Stock und ich, wir sind die langjährigsten Mieter überhaupt (ich seit 1999) und die meisten meiner Nachbarn kenne ich entweder gar nicht oder nur vom Sehen – etwa, wenn sie ihre Pakete bei mir abholen. Am liebsten wäre mir, ich könnte auf irgendeiner Plattform die Bewohner des Hauses gesammelt gelistet sehen und freundlich aber unverbindlich 1:1-Kontakt zu ihnen (und sie zu mir) aufnehmen, falls mal »irgendwas ist«. Ansonsten muss ich mich mit meinen Nachbarn nicht »verbrüdern«, nur weil sie zufällig im selben Haus oder im selben Viertel wohnen wie ich.
Vielleicht tue ich mit dieser Haltung auch einigen Unrecht oder würde etwas verpassen, wenn ich sie nicht kennenlernte. Womöglich hätten wir einige ähnliche Interessen oder Ansichten, eventuell entstünde aus einem Kontakt ja sogar eine Freundschaft fürs Leben. Doch der Weg zu dieser Möglichkeit, insbesondere, wenn er durch eine WhatsApp-Gruppe führt oder die Notwendigkeit mit sich bringt, erstmal die komplette Nachbarschaft kennenlernen zu müssen, um dann zu sehen, ob sich ein oder zwei Nette darunter befinden, ist irgendwie nicht mein Ding.
Das liegt wohl auch mit daran, dass ich mich eher als »Eigenbrötler« bezeichnen würde. Schon als Kind hatte ich nur 2–3 richtig gute Freunde. Ich konnte tagelang alleine in meinem Zimmer sein, lesen, Lego spielen, malen oder basteln, so dass meine Mutter oft besorgt anmerkte, ich solle doch mal »an die frische Luft« gehen und nicht so ein »Stubenhocker« sein. Auch während der Schulzeit bis in die Oberstufe blieb mein Freundeskreis eher überschaubar. Bei »Feten« war ich immer derjenige, dessen mitgebrachte Mixtapes spätestens nach zwei Songs wieder aus der Anlage flogen, weil ich derjenige mit dem komischen Musikgeschmack war (Kraftwerk, Visage, Human League, Yazoo, Depeche Mode) und nichts zur Beschallung mit den mehrheitsfähigen Acts in meinem Jahrgang (Neil Young, Police, Madness, Fischer-Z, Marillion) beitragen konnte. Im Nachhinein rechne ich es mir hoch an, standhaft geblieben zu sein und nicht zu Musik »abgehottet« zu haben, die mich nicht tangiert. Ich erinnere mich noch an einen Aufenthalt in einem Schullandheim an der Ostsee, ich war etwa in der 11. Klasse, bei dem ich lange Strandspaziergänge mit dem Walkman™ und »meiner« Musik in den Ohren der inkompatiblen Geselligkeit in der Unterkunft vorzog. Allein und ein wenig melancholisch vielleicht, aber glücklicher als zwanghaft eingepasst. Vielleicht auch ein Grund, warum ich Klassentreffen schon immer abgewinnen konnte und bis auf eine Ausnahme (die mich in meiner Skepsis bestätigte) nie daran teilnahm. Irgendwann antwortete ich mal auf die Frage, warum ich nicht mit zum Klassentreffen käme, ich hätte doch mit den Leuten schließlich meine Schulzeit verbracht, dass ich mich ja auch nicht mit der an meiner Geburt beteiligten Hebamme treffe, nur weil sie mir einst auf die Welt geholfen hat.
Die geselligste Zeit (ich kann heute nicht mehr wirklich nachvollziehen, wie ich das bewältigt habe), waren tatsächlich die Jahre nach dem Schulabschluss. Während der Pflicht-Bundeswehrzeit und des nachfolgenden Studiums gab es kaum einen Abend oder ein Wochenende, an dem ich nicht mit neugewonnenen Freunden und Kommilitonen unterwegs war oder etwas unternommen habe, in Clubs, zu Hause, im Kino, auf Partys und Motto-Feten, in gemeinsamen Urlauben oder sonstwo beim »Abhängen«. Vielleicht war die Grundkonstellation der mich umgebenden Leute während dieser Zeit zufällig günstiger, vielleicht fiel es mir mit dem Heranwachsen leichter, passende Freunde zu erkennen und auszuwählen, vielleicht war es auch beim Studium der Umstand, dass sich dort durch die Wahl des Studiengangs eine Gruppe mit sehr ähnlichen Interessen, Neigungen und Talenten zusammenfand.
Was ich aber gelernt habe, ist, dass ich für mich Freundschaften (auch einstmals engere) nachträglich in zwei große Gruppen einteilen kann: Die erste Gruppe sind Weggefährten, denen ich in einer bestimmten Phase meines Lebens an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Gruppe begegnet bin, etwa während des Studiums. Daraus ergaben sich wunderbare Freundschaften, doch nachdem die besagte Phase beendet war, die Freunde wegzogen, man sich seltener sah, telefonierte oder schrieb, wurde spürbar, dass die Grundlage mancher Freundschaft offenbar allein diese temporäre Gruppenzugehörigkeit gewesen war. Nun, da sich die Freunde separate neue Lebensmittelpunkte oder Wohnorte gesucht hatten, wurde die Schnittmenge der Dinge, die zuvor für ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit gesorgt hatten, so klein, dass die Freundschaft schließlich einschlief. Inzwischen bedaure ich dies auch nicht mehr. Es gibt »Lebensabschnittsfreundschaften«, die wunderschön, tief und bereichernd gewesen sein können, aber deren Schicksal es zu sein scheint, auf bestimmte Zeitabschnitte begrenzt zu bleiben. Traf ich solche einstigen Freunde gelegentlich wieder, waren die Begegnungen und Unterhaltungen oft seltsam stockend und ungelenk und ich merkte, dass ich diese Wiedersehen eigentlich lieber beenden und mich lieber der Erinnerungen an diese Freundschaften erfreuen wollte, anstatt ein Revival des Unwiederbringlichen zu erzwingen. Dazu fällt mir immer der populäre Kalenderspruch »Don’t cry because it’s over. Smile because it happened.« ein – wahlweise Konfuzius, Gabriel García Márquez oder Dr. Seuss zugeordnet.
Die zweite Art der Freundschaften sind für mich diejenigen, die ich als Geistes- oder Seelenverwandtschaften bezeichnen würde, auch, wenn diese Begriffe etwas pathetisch daherkommen. Man erkennt sie am besten daran, dass nichts diesen Freundschaften etwas anhaben kann. Sie können »ruhen«, über manchmal lange Zeiträume mit eingeschränktem Kontakt, seltenen Anrufen oder Treffen, entweder, weil beide Seiten beschäftigt sind, es andere Schwerpunktthemen im Leben gibt oder gar die Kontaktdaten verlorengingen. Doch beim nächsten persönlichen Wiedersehen oder Wiederhören am Telefon springt die Freundschaft wie auf Knopfdruck sofort neu an, es gibt kein Hineinfinden, Herumlavieren, Verstellen. Nach ein paar Minuten spätestens ist es wieder so »wie früher«, aber ohne Nostalgie, sondern absolut gegenwärtig, präsent und schön. Doch solche Freundschaften sind selten.
»Gute« Gesellschaft zeichnet sich für mich inzwischen hauptsächlich dadurch aus, dass sie mir Energie zuführt, statt mir welche zu entziehen. Mich mit Menschen zu treffen oder zu unterhalten, mit denen mich wenig bis nichts verbindet, die mich nicht interessieren, mich vielleicht sogar langweilen, nerven oder abstoßen, ist unfassbar anstrengend und ich bin danach regelrecht erholungsbedürftig. Dasselbe gilt für größere Menschenansammlungen. Egal, ob es ein Tag auf einer stark besuchten Messe ist oder eine Familienfeier, ein Empfang oder eine private Party – die schiere Menge der Anwesenden, die Lautstärke, die Vielfalt der Personen und Stimmen sowie die mentale Beanspruchung zehren spürbar an meinen zwischenmenschlichen Kraftreserven. Selbst wenn ich ein solches Treffen doch irgendwie genossen habe, meinen Spaß hatte und nach schönen Gesprächen und Begegnungen wieder nach Hause komme, so brauche ich oft Stunden, um danach wieder »runterzukommen«. Nicht selten blieb ich nach später Heimkehr dann noch bis weit in die Nacht wach, da mich meine innere Aufgekratztheit und Ermattung aufgrund der geballten sozialen Interaktionen ohnehin nicht schlafen ließen.
Am liebsten treffe ich mich entweder einzeln mit Freunden oder in einer kleinen Gruppe mit maximal 3–5 Leuten. Es gibt genug Gelegenheit, sich mit allen gleichberechtigt zu unterhalten, es gibt kein Stimmengewirr, kein Heischen um Hören und Zuhören, keine Reizüberflutung. Zudem ist es die schönste und angemessenste Form, sich mit Freunden wiederzutreffen, die man seltener sieht – man ist nicht gezwungen, das Aufholen und Anknüpfen nach der Kontaktpause zu vielen anderen Zwängen und Einschränkungen während der Begegnung in einer größeren Gruppe zu unterwerfen. Durch solche Treffen wird mein Interaktionsakku oftmals sogar aufgeladen, ich fühle mich belebter und beschwingter als vorher. Alles super, gerne wieder.
Das Alleranstrengendste aber ist die Gesellschaft von Arschlöchern. Die, die nur reden und nicht zuhören können. Die, die permanent nur von sich erzählen und die nicht interessiert, was ihr Gegenüber macht. Die, die alles besser wissen, zu allem eine Meinung haben und keine andere Sicht der Dinge gelten lassen. Die, die über andere herziehen. Die, die alles dominieren, über alle bestimmen wollen, die unentwegt lenken wollen, was zu geschehen hat. Die, die lügen und verbiegen, die hassen und hetzen. Die, die immer zuerst in der Schlange stehen wollen, die nicht teilen wollen, sich vordrängeln, durchmogeln, dazwischenschummeln. Die, die nach oben buckeln und nach unten treten. Die, die intrigieren, betrügen, verletzen und enttäuschen. Die, die es nicht kümmert, wer unter ihnen steht oder nach ihnen kommt. Es gibt diese Frage, die manchmal im Netz gestellt wird: »Was wäre Deine wichtigste Botschaft an Dein früheres Selbst?« und ich denke, »Verbiege Dich nicht, nur um anderen zu gefallen« und »Halte Dein Leben so weit wie möglich frei von Arschlöchern« würden sich die beiden ersten Plätze teilen.