Autor: ProstetnikVogonJeltz

Kusshand

Es ist schon spät, etwa 1 Uhr 30, als ich an der Hamburger Bushaltestelle »Mundsburg« den Nachtbus besteige, der mich fast bis vor meine Haustür bringt. Für einen Wochentag ist der Bus recht voll, mehrheitlich junge Leute belegen die Sitzplätze, so dass ich mich gegenüber dem Hinterausgang in die »Kinderwagennische« stelle, wo auch ein schwarzer Mensch mit seinem Fahrrad steht. Er unterhält sich in einer mir unverständlichen Sprache erheitert über mich hinweg mit einem Bekannten, der am Fenster auf der nächsten Sitzbank hinter mir sitzt. Ich sehe, was wohl der Anlass der Heiterkeit sein mag, denn der blonde junge Mann neben ihm ist entweder sehr müde oder erheblich alkoholisiert und hat in seligem Schlummer seinen Kopf auf die Schulter des Gesprächspartners gebettet. Die Brems- und Lenkmanöver des Busses lassen ihn leicht hin- und herpendeln, aber er hält wacker seine unbewusste Kuschelposition.

Als sich offenbar die Zielhaltestelle des Fahrradmannes und seines Bekannten nähert, versucht dieser, den Schlafenden freudlich aufzuwecken, um an ihm vorbei auszusteigen – erst zaghaft, dann etwas vehementer, aber der schläft selig weiter. Dem Sitzenden bleibt nichts anderes übrig, als über den weggetretenen Nachtschwärmer hinwegzusteigen, was ihm mit einem großen, fast katzenartig-elegant anmutenden Schritt auch fast berührungsfrei gelingt. Der junge Schläfer bleibt erstaunlich gerade sitzen, obwohl seine menschliche Stütze nun auf dem Sitz neben ihm fehlt.

Der Bus fährt weiter. Nach drei weiteren Haltestellen, kurz bevor er den zentralen Umsteigebahnhof in Barmbek erreicht, machen sich einige andere junge Leute in der Umgebung des Schläfers Gedanken, ob man den Tiefschläfer nicht doch wecken sollte, damit er nicht möglicherweise hier einen wichtigen Anschluss verpasst. Ein gewagtes Unterfangen, es helfen weder Knuffe, noch sanfte Wangenpatscher und ein mildes Schütteln mit Ansprechen. Erst als sich einer der Bemühten ein Herz fasst und versucht, den jungen Mann von seinem Platz aufzurichten, wacht dieser auf. Oder versucht es zumindest.

»Alter, hör zu: wir sind gleich in Barmbek! Musst du hier raus?«
Der Angesprochene schaut sein Gegenüber aus kaum geöffneten Augen komplett desorientiert an.
»Wohnst du hier? Musst du umsteigen in Barmbek? Komm, sag mal!«
Der junge Mann rutscht unbeholfen von seinem Sitz in den Stand im Mittelgang, sein unbekannter Helfer und zwei von dessen Freunden stützen ihn. Er torkelt. Der Bus hält und die Türen öffnen sich. Die meisten Fahrgäste steigen nun aus. Die jungen Männer gehen Richtung Tür und geleiten den Weggetretenen mit auf den Bussteig. Der Fahrer, der das Ganze anscheinend im Rückspiegel beobachtet hat, meldet sich über die Lautsprecheranlage zu Wort.

»Muss der hier raus? Wohnt der hier?«
Auf dem Bussteig weiter beharrliche Versuche einer Kontaktaufnahme.
»Hallo, hörma – musst du hier raus? Wir sind in Barmbek! Oder fährst du weiter bis Poppenbüttel?«
Endlich eine Reaktion. »Baambek, ja …«
»Wohnst du hier? Wo musst du hin? Umsteigen?«
»Ja … Baambek … Poppenbüddl … danke Jungs … Poppenbüddl.«

Und mit diesem Dank verbunden, versucht der immer noch von den drei Mitfahrern Gestützte, diese herzlich zu umarmen.
»Hey, lass ma. Poppenbüttel? Du musst nach Poppenbüttel? Dann musst du wieder einsteigen! Hier!«
»Danke Jungs, ja …« er löst sich aus dem unbeholfenen Zärtlichkeitsgeflecht und geht schwankend wieder in Richtung des geduldig wartenden Busses, allerdings nicht zur immer noch sperrangelweit offenen Hintertür, sondern ordnungsgemäß nach vorne zum Fahrer, steigt tapsig ein, zeigt die hervorgenestelte Fahrkarte vor und dreht sich noch mal zu seinen fremden Helfern um. »Danke, Jungs!«, hebt die Hand und wirft den Zurückgelassenen schwankend drei Kusshände zu. »Jaja, Alter. Keine Ursache!« höre ich noch, als die Türen sich schließen.

Der Bus fährt weiter, Richtung Poppenbüttel. Unser Protagonist hat inzwischen einen freien Sitzplatz gefunden und ist bereits wieder eingeschlafen, als ich an der nächsten Haltestelle aussteige.

Manchmal liebe ich diese Stadt ganz besonders.

Neue Würste braucht das Land!

Heute schlage ich mal einen Bogen zu meinem allerersten Blogeintrag aus dem Oktober 2006. Das Foto des Artikels zeigt die Auslage eines preisgekrönten britischen Metzgers in Oxford, der sich auf »Sausages« spezialisiert hat. Ich habe inzwischen häufiger meinen Urlaub in Großbritannien verbracht und abgesehen davon, dass ich seither ohnehin das Vorurteil nicht bestätigen kann, die Briten könnten nicht kochen, hat mich die »Wurstkultur« der Inselbewohner von Anfang an begeistert. Einige der mundwässernden (mouthwatering) Kreationen britischer Fleischer hatte ich ebenfalls in einem früheren Blogartikel schon einmal aufgezählt. Man kann sie – landestypisch – zum Frühstück in der Pfanne braten oder auch auf den Grill werfen – eine delikater als die andere.

Um so unverständlicher ist es, dass diese fleischigen Köstlichkeiten noch nicht ihren Weg nach Deutschland gefunden haben. Es gibt ’zig Sorten Brot, Wein, Pasta, in jüngster Zeit feiern Bier und Kaffee einen ungekannten Boom der Varianz und Geschmacksvielfalt, aber auf den Grills und in den Pfannen begnügt man sich nach wie vor mit Bratwurst, Krakauer, Thüringer und Käsegrillern. Auch in den »gentrifizierten« Vierteln bisher (nach meinen Beobachtungen): Fehlanzeige.

Deshalb habe ich kürzlich die Initiative ergriffen. Keine zwei Gehminuten von meiner Wohnung in Hamburg-Barmbek Nord führt die famose Fleischerei Göpp, über die ich ebenfalls hier im Blog schon einmal berichtete, einen gut besuchten Eckladen. Herr Göpp hat nicht nur italienische Salsiccia im Sortiment, sondern überraschte kürzlich auch mit einer leckeren Bratwurstvariante namens »Barmbek Booster«. Das nahm ich zum Anlass, ihn mit einer E-Mail zu weiteren Wurstexperimenten zu motivieren. Und Herr Göpp antwortete bald darauf:

Wir (…) sind vor einigen Tagen in die Produktion gegangen und haben Rindsbratwürste mit karamellisierten Apfel- und Zwiebelstückchen hergestellt. Nun sind wir auf Ihre Meinung gespannt!

Ich habe gleich am folgenden Tag einige der neuen Würste gekauft und am Abend mit Rosenkohl-Rote-Bete-Ofengemüse und dänischem süßen Gewürzsenf serviert (sorry for zze blurry Handyfoto). Und: Chapeau! Die eingebetteten Zwiebel- und Apfelstückchen passen perfekt zur feinen, von einer leichten Anis/Fenchelnote getragenen Würzung der Rindsbratwürste. Ich bin sehr angetan!

Natürlich möchte ich mit diesem Blogbeitrag ein bisschen (unbezahlte) Werbung für meinen Stammfleischer und seine neue Kreation machen, vielleicht hat ja der eine oder andere Hamburger Lust, sie auch einmal zu probieren – am besten vorher kurz anrufen, ob die Würste gerade vorrätig sind. Und wer weiß, vielleicht führt ja eine gewisse Nachfrage zu weiteren schmackhaften, von britischer Wurstkultur inspirierten Experimenten.

I would really appreciate that.

Für weitergehend Interessierte hier ein Link ins Herz der britischen Sausageszene:
www.sausagefans.co.uk

Sausages served
Foto: © formschub

Isso.

Über manche Themen wird endlos diskutiert. Kontrovers. Leidenschaftlich. Emotional. Abwegig. Beleidigend. Oder voller Hass. Aber dann gibt es mitten in dem Stimmenwirrwarr einzelne Menschen, welche Gedanken äußern, die sich so richtig anfühlen wie die Sonne an einem blauen Sommerhimmel. Und auf einmal bekomme ich eine warme, trotz aller Dispute hoffnungsvolle Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn sich diese Gedanken wie ein gesunder, weiser Virus verbreiteten und die ganze Welt ansteckten. Hier sind drei davon.


Durch Ralf Königs Comics erlebte ich mein Coming-out als Hetero. Seine Comics erlaubten mir, mich auf den Gedanken einzulassen, wie es wäre, einen Mann zu lieben. Sie machten mir Mut, mich zu fragen, wo ich stehe. Auszuprobieren, was mir gefällt. Und aufgrund dieser Erfahrungen laut sagen zu können: Ich liebe Frauen. Nicht weil es die Norm ist. Sondern weil es sich für mich persönlich stimmig anfühlt.

Quelle: Comiczeichner Flix im Tagesspiegel. Der Text über seinen Kollegen wurde verfasst anlässlich der Ehrung Ralf Königs für dessen Lebenswerk auf dem Internationalen Comic-Salon Erlangen 2014.



Foto: © Kristine Speare | Quelle: tumblr (inzwischen gelöscht), das Bild zeigt ihren Vater



Foto: Sarah-Lena Gombert | Quellen: RuhrNachrichten, Twitter

Mein Gott.

Ich war nie sonderlich religiös. Zwar wurde ich evangelisch getauft und auch meine Eltern gehörten dieser Kirchengemeinschaft an, aber der Glaube wurde in unserer Familie nie großartig praktiziert. Ich erinnere mich kaum an Kirchgänge während meiner Kindheit und Jugend, nicht einmal zu Weihnachten. Ganz hinten unten in meiner Erinnerung finde ich Echos an das Aufsagen von Kindernachgebeten (»Ich bin klein, mein Herz ist rein …«), aber das war zu früh, um es mit reflektiertem Glauben zu verbinden.

Mit 16 – zwei Jahre nach dem frühen Tod meines Vaters – nahm ich am Konfirmandenunterricht teil. Mitgenommen aus dieser Zeit habe ich nur die Erinnerung an langweilige Nachmittage in einem Schulklassenraum und an einen dunklen Pastor mit noch dunklerem Bartschatten, dessen Erzählungen zu biblischen Geschichten mich nur mäßig gefesselt oder beeindruckt, geschweige denn an so etwas wie Glauben herangeführt haben. Ich wüsste nicht einmal auswendig, welcher Konfirmationsspruch mir mitgegeben wurde. Gut hingegen erinnere ich mich an die erste eigene Stereoanlage (Tangentialplattenspieler FTW!), die ich mir von meinem Konfirmationsgeld anschaffen konnte und an ein heiteres Missgeschick an der nachmittäglichen Kaffetatfel, in das eine Bekannte meiner Mutter, ihr schwarzer Angorapullover und ein Sahnesiphon involviert waren. Vielleicht hat auch mein Schicksal als Halbwaise ein wenig damit zu tun, dass mich ein Gott, der meinen Vater sterben ließ, auch im Teenageralter nie wirklich für sich gewinnen konnte.

In der Schule lehrte mich dann der Geschichtsunterricht, dass es Kreuzzüge und Religionskriege gab. Ich begriff, dass die Kirche, ebenso wie die Bibel, manche Verhaltensweisen und Menschen als »Sünde« und »Sünder« klassifizierten, dass es Geistliche und einen Gott zu geben schien, die über das Sein und Wirken der Menschen richteten, um sie dafür zu schelten oder zu bestrafen. Auch die Institution Kirche ging mir zunehmend auf die Nerven mit ihren Riten, ihrem in realitätsfernen Dogmen erstarrten Konservativismus und ihrer für mich anmaßenden Einmischung in das Leben und Privatleben der Menschen. Das gefiel mir immer weniger, so dass ich – nicht zuletzt aufgrund meiner schwulen Selbstfindung – Mitte der Neunziger aus der Kirche austrat. Seither bezeichne ich mich als »Agnostiker«.

Vor kurzem unterhielt ich mich mit einem – gläubigen – Freund über das Thema Gott und Kirche und ich versuchte, zu beschreiben, wie ich Gott sähe, wenn ich von seiner Existenz ausginge. Ich hatte das nie zuvor versucht, gezielt in Worte zu fassen, war aber mit der Beschreibung ziemlich zufrieden. Selbst mein (evangelischer) Gesprächspartner fand meine Sichtweise überraschenderweise plausibel.

Ich bin fasziniert von dem, was man als »Schöpfung« bezeichnen könnte. Vom Universum, dem Werden und Vergehen der Sterne, den unfassbaren Dimensionen des Weltalls, den kosmischen Zusammenhängen und dem filigranen Ineinandergreifen der Naturgesetze. Ich bewundere die Formen-, Arten- und Lebensvielfalt der Natur, die bizarren Gebirge und Canyons, Wolken, Wellen, Kristalle und Dünen in der unbelebten Natur ebenso wie Pflanzen, Pilze, Tiere und Mikroben in der belebten. Die realen Formen gigantischer Spiralnebel und die mathematisch erzeugten Unendlichkeiten filigraner Fraktale lassen mich staunen und den Atem anhalten. Das Leben ist etwas Unglaubliches, allein die Vielfalt und die Abhängigkeiten innerhalb der Biosphäre der Erde übersteigen jedes Fassungsvermögen. Ich müsste lügen, wenn mich nicht auch die Frage beschäftigen würde, wie all das entstanden ist und woraus. Aber gleichzeitig ist das alles in seiner Gesamtheit auch so atemberaubend, dass es mir lächerlich erscheint, wenn der Mensch inmitten all dessen eine Sonderstellung für sich beansprucht.

Der Gott, an den ich glauben könnte, ist ein wohlwollender, aber nicht intervenierender, rein schöpferischer Nerd, der etwas von übergreifender Schönheit erschaffen wollte. Wie ein Künstler, der ein unendlich großes Dominosteinfeld austüftelte, das nach dem Anstoß des ersten Steins auf unabsehbare Zeit immer neue Wege einschlüge, während er/sie/es daneben säße und den Ablauf der Dinge aufmerksam verfolgte.

Zu dieser Schönheit gehören auch Verfall, Tod, Verwesung, Leid und Zerstörung, jedes Lebewesen z.B. trägt Atome verglühter, explodierter Sterne in sich, jede Fäulnis ist der Nährboden neuen Lebens. Diesen Gott anzurufen, um Schutz und Gerechtigkeit zu beanspruchen, ist müßig, denn alles, was geschieht, ist Bestandteil des Ganzen. Beten, gemeinsam oder allein, Kirchenlieder singen und prachtvolle Kirchen bauen, mag uns helfen, trösten, beeindrucken oder erfreuen, aber dieser Gott bliebe davon unbeeindruckt. Von diesem Gott zu verlangen, über Menschen oder Verhaltensweisen zu richten oder sie zu bestrafen, wäre anmaßend, denn ein Kieselstein, eine Alge, ein Baum oder ein Insekt sind ihm genauso wichtig oder gleichgültig inmitten des Ganzen wie ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen und das, was sie tun.

Dieser Gott freut sich über jedes Lebewesen, das sein Dasein genießt, ohne nach einem tieferen Sinn dafür zu fragen. Er ist nicht zuständig für Frieden, Beistand, Trost und Hilfe, das müssen die Menschen selber zu leisten lernen, doch es ist mühsamer als das Anrufen höherer Mächte und Instanzen, vielleicht funktioniert es deshalb nach wie vor nicht sonderlich gut. Ich verabscheue die Bezeichnung »Krone der Schöpfung« für die Menschheit, denn es wäre erstens eine sehr blutige und dunkle Krone und zweitens wird die Schöpfung nie eine tragen, denn sie geht immer weiter, vielleicht endlos, vielleicht irgendwann in einem neuen Urknall kollabierend, wer weiß das schon.

Damit kann ich leben.


Photo: © ChaoticMind75 on flickr | Some rights reserved

Kiosk Empire #05

Wahnsinn – eigentlich war »Kiosk Empire« nur ein von mir ausgedachter Stellvertreter für meine unter dieser Überschrift gesammelten kuriosen deutsch-englischen Unternehmensnamen. Nun durfte ich mitten in Hamburg entdecken: das gibt’s ja wirklich! Und in Berlin habe ich neulich abends aus der Ferne auch noch was Schönes erspäht …


Gesehen in der Hamburger U-Bahn-Station »Stephansplatz«


(Gesehen in Berlin in der Nähe der S-Bahn-Station »Alt-Tegel«)

Fotos: © formschub

Fünfminutenzeiler

Frühling ist’s, die Zeit der Liebe
Grün knospt wieder an den Zweigen
Jeder fühlt die Säfte steigen
Neustart für pausierte Triebe
und der Himmel ist so blau.

Stoff wird dünner, Ärmel kürzer
die Natur, sie duftet wieder
Bärlauch, Krokus, Veilchen, Flieder …
Frühling, alter Lebenswürzer!
das Jahr wär ohne Dich so grau.


Photo: © former Flickr user Aldaryn Grayraven | Some rights reserved

Teilen

Teilen ist toll. Teilen ist die Hefe im Contentteig des Internets. Ohne Teilen wäre das Internet ein öder, statischer Ort. Aber immer? Alles?

Als ich neulich einen Facebook-Eintrag von Peter Breuer zum Teilen las (leider inzwischen nicht mehr verfügbar), hörte ich sofort die Stimme von Herbert Grönemeyer in meinem Kopf. Die Melodie war die seines Songs »Kaufen«, aber der Songtext war ein anderer …

Teilen

Ich klick auf alles, ich klick auf »share«
Breaking News, Witzchen, Filme und mehr

Ich könnt im Internet ertrinken
mailen, teilen und verlinken
jeden Schwachsinn weiterwinken
oh, wie ist das schön

Oh, ich teile das
Teilen macht so viel Spaß
Was ich seh, sollen alle sehn
Teilen ist wunderschön
Was ich seh, sollen alle sehn
Teilen ist wunderschön
Ich teil, ich teil
Was, ist egal

Scrollt die Timeline dann weiter nach unten
hab ich längst schon was Neues gefunden

Online sein verzückt mich
»Share« klicken beglückt mich
Weil ich so zeigen kann,
hey ich bin vorn

Oh, ich teile das
Teilen macht so viel Spaß
Was ich seh, sollen alle sehn
Teilen ist wunderschön
Was ich seh, sollen alle sehn
Teilen ist wunderschön
Ich teil, ich teil
Was, ist egal

Die totale Contentflut
ich teile alles resolut
und es tut so gut,
oh, wie es durch mich strömt

Oh, ich teile das
Teilen macht so viel Spaß
Was ich seh, sollen alle sehn
Teilen ist wunderschön
Was ich seh, sollen alle sehn
Teilen ist wunderschön
Ich teil, ich teil
Was, ist egal


Graphic: © jurvetson @ flickr | Some rights reserved

Haben Männer, die ein Problem damit haben, dass Männer Männer oder Frauen Frauen lieben, ein Problem mit Frauen?

In den jüngsten öffentlichen Debatten rund um das Coming Out von Thomas Hitzlsperger, Regenbogenlehrpläne, den Winterspielen in Sotschi bzw. den Diskriminierungen Homosexueller in Russland fallen mir – zum wiederholten Male – Dinge auf, die mich fast mehr beschäftigen als der eigentliche Gegenstand der Diskussion. Der Eindruck mag subjektiv sein, aber er stellt meine gesammelte Wahrnehmung dar:

  • Die Diskussion konzentriert sich vorwiegend auf Schwule, also Männer, ebenso die Ressentiments, welche die Diskussion prägen. Lesben tauchen bei der Thematisierung homosexueller Rechte lediglich am Rande auf und es kommt mir so vor, als würden sie auch weniger aggressiv abgelehnt, eher als exotische Randerscheinung gemieden oder – offen auftretend – zwar angestarrt, aber mehr oder weniger toleriert.
  • Oft erheben diejenigen am lautesten ihre Stimme, die am wenigsten Erfahrung oder Einfühlungskompetenz bezüglich der alltäglichen Lebenswelten Homosexueller haben. Altpolitiker (Blüm) oder sonstige Senioren in offiziellen Positionen und Ämtern, allen voran Geistliche. Je konservativer oder katholischer, desto lauter.
  • Frauen scheinen ein geringeres Problem im Umgang mit Homosexuellen beiderlei Geschlechts zu haben als Männer. Sie leiden auch anscheindend weniger unter der paranoiden Vorstellung, von jeder homosexuellen Frau als potenzielle Sexualpartnerin angesehen und »angebaggert« zu werden als die meisten Männer, die gegenüber Schwulen diese Befürchtung weitaus häufiger zeigen.
  • Männer sind in der Debatte generell präsenter, lauter und aggressiver. Es gibt offenbar weniger homophobe Frauen (die Statistik spricht in Deutschland von einem Frauen-/Männer-Verhältnis von etwa 1 zu 1,5) und sie äußern sich offenbar auch gemäßigter.
  • Je »emanzipierter« ein heterosexueller Mann vom patriarchisch-traditionellen Rollenverständnis der Geschlechter ist, desto offener und toleranter ist er gegenüber (männlichen) Homosexuellen eingestellt. Alle Hetero-Männer, die ich kenne, die in ihrer Beziehung, ihrem Beruf und ihrer Familie die Geschlechtergleichberechtigung aktiv leben und umsetzen, belegen dies.

Die plausibelste Begründung meiner Beobachtungen, die mir bisher begegnet ist, fasst ein allerorten im Netz kursierendes Zitat sehr treffend zusammen – das sich vornehmlich an heterosexuelle, homophobe Männer wendet:

»Homophobia: the fear that gay men will treat you the way you treat women.«, wobei ich »treat« lieber durch »look at« ersetzen würde, da vielleicht nicht jeder der angesprochenen Männer seine sexistische Weltsicht »tätlich« auslebt.

Anders gesagt, es scheint, dass eine sexistisch geprägte Einstellung gegenüber anderen Menschen (speziell von Männern gegenüber Frauen) mit einem homophoben Standpunkt korreliert. Unterstützt wird diese Wahrnehmung durch Erkenntnisse aus der Publikation »Homophobie in Nordrhein-Westfalen – Sonderauswertung der Studie ,Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‘« des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter in Nordhrein-Westfalen. Dort heißt es auf Seite 34:

Homophobie korreliert signifikant mit anderen Elementen der »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit«. Das Muster gleicht dem von Gesamtdeutschland weitgehend. Wie auch im übrigen Deutschland korrelieren homophobe Einstellungen besonders eng mit sexistischen (r = .45). Wer homosexuelle Menschen abwertet und ihnen gleiche Rechte verweigert, tut dies signifikant auch eher gegenüber Frauen. Signifikante Verknüpfungen auf niedrigem Niveau finden sich (…) zwischen Homophobie und allen anderen in der GMF-Studie erfassten Vorurteilen (Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, die Befürwortung von Etabliertenvorrechten, der Abwertung von Obdachlosen, Langzeitarbeitslosen und Menschen mit Behinderung).

Homophobie ist also eigentlich gar keine Homosexuellenfeindlichkeit, sondern – mit einem gewissen Vorsprung der Frauenfeindlichkeit – allgemeine Menschenfeindlichkeit. Vielleicht hat sich das ja schon derjenige gedacht, der den Begriff »Homophobie« seinerzeit erfand, denn da steckt es im Wortsinne bereits drin.

Gerne würde ich wissen, ob die Leser dieses Blogbeitrags meine oben geschilderte Wahrnehmung der öffentlichen Diskussion teilen oder das ganz oder teilweise komplett anders sehen. Ich freue mich auf Eure Kommentare.


Photo: © peragro on Flickr | Some rights reserved