Autor: Thomas

Gedanken zur DateNSAmmlung

Wenn es etwas gibt, was das Internet bei mir bewirkt hat, seit ich es (seit 1997) nutze, dann, dass es mich zu einem politisch sehr viel interessierteren Menschen gemacht hat. In prä-online-Zeiten gab es nur die Printmedien und das Fernsehen, um sich politisch zu informieren. Eine oder mehrere Zeitungen oder Magazine regelmäßig, womöglich täglich zu lesen, brauchte viel Zeit, kostete einiges an Geld und das Verfolgen tiefergehender Rundfunk- oder Fernsehnachrichten erforderte die Anpassung an den Programmplan der TV-Sender oder das mühsame Aufzeichnen und spätere Schauen. Zumindest mein Informationsgrad blieb daher lange relativ oberflächlich.

Inzwischen, da ich online Nachrichten und Seiten abonnieren kann, mich selektiv zu einzelnen Themen informieren (lassen) kann, wuchs auch mein politisches Bewusstsein. Ich versuche, Zusammenhänge zu begreifen, Themen tiefer zu recherchieren, kann mir leichter eine möglichst fundierte Meinung bilden und anschließend durch die Teilnahme an (konstruktiven) Diskussionen oder Demonstrationen, durch das Teilen und Weiterverbreiten von Links oder durch das Zeichnen von Petitionen Einfluss auf die politische Meinungsbildung und Entwicklung nehmen. Einfach, weil es mir durch das Internet leichter gemacht wird, dies zu tun. Das ist eine tolle Sache.

Das politische Thema, das natürlich auch mich in den letzten Wochen am meisten beschäftigt hat, ist die Abhörtätigkeit der NSA und anderer westlicher Geheimdienste, inklusive des britischen GCHQ und des deutschen BND. Ich verwende bewusst nicht die Begriffe PRISM und TEMPORA, da sich ja inzwischen herausgestellt hat, dass diese nur kleine Module darstellen in dem viel größeren Konstrukt, das dahinterliegt und der Öffentlichkeit bislang kaum bekannt ist.

Ich finde es gut, dass dieses Thema öffentlich geworden ist und auch in den On- und Offline-Medien sehr fundiert erörtert und kommentiert wird. Ich finde es gut, dass (hoffentlich immer mehr) Menschen darüber diskutieren und diesen Aktionen – möglichst über Ländergrenzen hinaus – maßvolle Grenzen setzen wollen. Ich bin der Meinung, bei der Massenerfassung dieser Daten handelt sich um einen Grundrechtsbruch und um die gezielte Umkehrung der Unschuldsvermutung. Und ich finde es beschämend, wie die meisten Politiker dieser und früherer Regierungsparteien darauf reagieren, bin extrem enttäuscht von der Politik insgesamt und den sogenannten »Volksvertretern«, die diesen Titel jeden Tag unangemessener erscheinen lassen, was mir natürlich auch die Entscheidung bei der kommenden Bundestagswahl (und: ja, ich werde wählen gehen!) nicht einfacher macht. Aber das steht auf einem anderen Blatt.

Was Edward Snowden tat, indem er diese Programme öffentlich machte, hat meinen Respekt. Er setzt sich damit als sehr junger Mensch einer Verfolgung und einem Risiko aus, die geeignet sind, sein gesamtes weiteres Leben zu beeinträchtigen oder es sogar zu verlieren. Ich hoffe, dass die Dinge, die er damit in Bewegung gesetzt hat, den Menschen, ihrer Freiheit und ihren Grundrechten zugute kommen werden.

Warum schreibe ich diesen Blogartikel? Sicher nicht, weil noch zu wenig über die Spähprogramme im Internet steht. Ich habe vielmehr das Gefühl, die öffentliche Diskussion sollte über das Statement »wir wollen nicht a) länger und b) in diesem Ausmaß überwacht werden« hinausgehen. Es geht auch um weit mehr als darum, ob wir »etwas zu verbergen haben« oder nicht.


1. Wir sind euphorisch und naiv
Einer unter den Artikeln, die mich in den letzten Tagen am nachdenklichsten gemacht haben, war ein Gastbeitrag des ehemaligen BND-Vizechefs Rudolf G. Adam in der Süddeutschen Zeitung. Dort heißt es:

Das Internet entstand aus dem Bedürfnis des US-Militärs, ein Kommunikationssystem zu entwickeln, das auch unter chaotischen Bedingungen sicher funktioniert. Die erste Naivität besteht nun darin zu glauben, das Militär habe sein Interesse am Internet verloren, seitdem es zur zivilen Nutzung freigegeben worden ist.

Da ist was dran. Die Euphorie über die Möglichkeiten und Chancen, die das Netz bietet, können durchaus dazu beigetragen haben, dass wir Netznutzer die Wurzeln des World Wide Web vergessen haben und es (ausschließlich) als eine Infrastruktur gesehen haben, die »dem Volk« zugute kommt. Doch dem ist nicht so. Das muss man akzeptieren – und es dämpft bei mir das »unbeschwerte« Gefühl, das ich bisher online hatte, maßgeblich. Doch gerade deshalb empfinde ich die Diskussion über Abhörmaßnahmen als um so wichtiger.

Der Artikel führt weiterhin aus, dass natürlich auch »nicht-westliche« Geheimdienste das Internet abhören und mit Sicherheit nicht damit aufhören werden, selbst wenn die Proteste der Menschen in Europa und Amerika zu Beschränkungen der Geheimdienstaktivitäten führen. Auch das muss man akzeptieren – ganz eindämmen kann und sollte man diese Maßnahmen in absehbarer Zeit klugerweise nicht. Idealistische Forderungen, alle Geheimdienste sollten einfach mit sämtlichen Überwachungsmaßnahmen aufhören, halte ich für weltfremd und wenig zielführend.

2. Wir sind arglos und vergesslich
Das Zweite, was ich durch die Enthüllungen Snowdens über die NSA gelernt habe: obwohl seine Enthüllungen wichtig und weitreichend sind, erzählt er uns im Grunde genommen, nicht nur Neues. In den letzten Tagen kam auch ein alter SPIEGEL-Artikel aus dem Jahre 1989 (!) wieder ans Tageslicht. Darin wird ausführlich berichtet, wie umfassend schon damals in der Vor-Internet-Ära die weltweite Telekommunikation durch die NSA überwacht und abgehört wurde – inklusive Schilderung der Empörung unter Politikern und Bürgern. Doch offenbar geriet diese erste Enthüllung inzwischen wieder komplett in Vergessenheit.

Warum folgte diesem Bericht damals kein Sturm der Entrüstung, keine Diskussionen, keine Demonstrationen? Vielleicht unter anderem auch, weil es das Internet noch nicht gab und sich sowohl der Bericht nicht dynamisch genug »herumsprechen« konnte als auch die heutigen Vernetzungsmöglichkeiten zur Verabredung und Organisation von z.B. Demonstrationen noch gar nicht gegeben waren. Und vielleicht auch, weil es »nur« um Telekommunikation ging. Zwar tauschte man auch 1989 schon viele und wichtige Nachrichten per Fax und Telefon aus, aber beide Technologien waren weitaus weniger umfassend und tiefgreifend mit nahezu allen Momenten des Alltags verwoben, wie es heute das Internet ist. »Ist ja nur Telefon«, dachte damals vielleicht mancher und ging nach draußen, um seine Überweisungen bei der Bank abzugeben und danach einen Urlaub im Reisebüro zu buchen.

3. Wir sind vertrauensselig und optimistisch
Ganze Scharen von Sprechern, Politikern und »Experten«, die derzeit die Wogen glätten und die Diskussion beschwichtigen oder herunterspielen wollen, versichern, es geschähe alles in gesunder Verhältnismäßigkeit, sei völlig legal, die Daten würden nicht missbraucht, alles sei sicher gespeichert, würde nach einer gewissen Zeit wieder gelöscht, etc. Mal angenommen, man nähme selbst die damit verbundenen Grundrechtsbrüche in Kauf, und gleichfalls angenommen, man könnte darauf vertrauen, dass diese Beteuerungen für den Moment der Wahrheit entsprechen und »die da oben« die gesammelten Daten schon anständig und gewissenhaft verwalten und verwenden würden – wer garantiert uns denn, dass das so bleibt? Ich werfe nur einen mulmigen Blick zu unserem Nachbarn und EU-Mitglied (!) Ungarn, wo sich »demokratisch legitimiert« eine massive Unterdrückung oppositioneller Kräfte abspielt. Was passiert mit den längerfristig gespeicherten Daten, wenn in fünf, zehn, zwanzig Jahren in einem heute freiheitlichen Land politische Umwälzungen eine andere Regierung ans Ruder bringen, der die Rechte ihrer Bürger (noch) weniger wert sind? Davor habe ich Angst. Ich will jetzt schon etwas dagegen getan wissen, dass weder heute noch in Zukunft jemand meine (Meta-)Daten missbrauchen kann.

4. Wir sind technikgläubig und überheblich
Die Mengen an (Meta-)Daten, die aktuell gesammelt sind, sprengen schon jetzt jedes Vorstellungsvermögen. Selbst Begriffe wie Yottabyte oder eine Gegenüberstellung der gesammelten Stasi-Daten mit der NSA-Datenbank helfen nur bedingt, diese Dimensionen zu erfassen. Das kann kein noch so großes Heer von Menschen mehr persönlich auswerten. Im o.g. Artikel der SZ schätzt Rudolf G. Adam, dass einer der maximal darauf angesetzten 50.000 Auswerter der NSA pro Tag nicht mehr als 50 Kommunikationsabläufe sichten und operativ bewerten kann. Selbst die damit erzielten 2,5 Mio. Vorgänge pro Tag decken nur 0,1% der täglich erfassten 2 Milliarden Kommunikationsabläufe ab. Den Rest müssen Maschinen erledigen.
Wenn Maschinen weltweit menschliche Kommunikation entschlüsseln, sind hochleistungsfähige Computer und Algorithmen im Spiel. Doch auch sie werden von Menschen programmiert und können nur vorgegebenen Schemata folgen. Was ist mit (automatisierten) Übersetzungen und damit einhergehenden Übersetzungsfehlern? Ironie? Sarkasmus? Humor? Bewusste Wortspiele? Kommunikationsmuster außerhalb der programmierten Schemata, die täglich millionenfach durchs Internet strömen und damit Fehlerquellen, die geeignet sind, Menschen ungerechtfertigt in Verdacht zu bringen. Eine gigantische Kafka-Maschine. Wie riskant es ist, sich Algorithmen auszuliefern, erzählt der Programmierer Lukas F. Hartmann, der durch einen Programmierfehler bei einem privaten Genom-Analyseservice eine falsche Krankheitsdiagnose erhielt.
Daneben existieren in der Statistik generell und unabhängig von Softwarefehlern die Begriffe der sogenannten »falsch positiven« und »falsch negativen« Befunde, eine Art Fehlergrundrauschen, das bei allen massenhaften Auswertungs- und Analyseverfahren von vornherein einkalkuliert wird und in der analogen Welt quasi unvermeidlich ist. Es wird also zwangsläufig bei der automatisierten Auswertung von Datenmengen sowohl zu unbegründeten Verdächtigungen führen als auch zu unentdeckten »echten« Fällen. Wer schützt die Bürger gegenüber den so mächtigen Geheimdienstinstanzen vor solchen Kollateralschäden? Ein Blick nach Guantanamo bekräftigt die Berechtigung dieser Frage.

5. Wir vernachlässigen den Faktor Mensch
Ebenso riskant, wie es ist, Maschinen menschliche Kommunikation auswerten und private bis intime Daten verwalten zu lassen, ist es, dies von Menschen erledigen zu lassen – erst recht, wenn diese Auswertung von den Geheimdiensten auch noch an privatwirtschaftliche Unternehmen outgesourced wird.
Wenn Whistleblower ihre Position und ihren Zugriff auf geheime Daten ausnutzen, um die Öffentlichkeit zu informieren, wird dies von vielen respektiert und begrüßt. Doch diese aus Sicht ihres Arbeitgebers »abtrünnigen« Angestellten stellen nur das eine Ende der Skala dar. Was ist mit korrupten, machtgierigen, kriminell veranlagten, geldgeilen oder anderweitig illoyalen Mitarbeitern, die ebenso in Versuchung kommen könnten, die ihnen anvertrauten Daten, Erkenntnisse und Befugnisse anders zu nutzen, als es »erlaubt« oder vorgesehen ist? Menschen sind fehl- und verführbar. Und je mehr Menschen immer mehr Daten sammeln und verwalten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass diese in falsche Hände oder Kanäle geraten. Auch das macht mir Angst.


Das sind die fünf für mich wichtigsten Gründe, warum ich mich dafür einsetzen werde, dass die Recht- und Verhältnismäßigkeit solcher Datensammlungen (wieder)hergestellt wird. Es gibt noch ’zig andere Argumente, etwa der schleichende Druck zur Selbstzensur, wie ihn Pia Ziefle in ihrem Blog beschreibt. Bestimmt kennt jeder, der sich dieser Tage deshalb unwohl fühlt, noch eine Menge andere. Und selbst wenn nicht: denkt nach, informiert Euch – und entscheidet, ob und was Ihr dagegen tun könnt und wollt, wie zum Beispiel im Rahmen der Beteiligungsmöglichkeiten auf der Website der Digitalen Gesellschaft.

Ironischerweise beißt sich hier das Internet selbst in den Schwanz – wenn es dabei mithilft, die Überwachung einzudämmen, zu der es selbst die Verlockung und die Möglichkeiten bietet.
Ich bin trotzdem froh, dass es das Netz gibt.

Update: Kurz nach Veröffentlichung dieses Blogartikels erreichte mich der Link zu einem YouTube-Video des Comiczeichners manniac, das kurzweilig illustriert ebenfalls sehr viele der von mir resümierten Gedanken zusammenfasst. Anschauen und teilen empfohlen!


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Leserbegehren

Da ich in letzter Zeit recht selten blogge (vielleicht ändert sich das ja auch bald mal wieder), freue ich mich natürlich um so mehr, wenn auf meine spärlichen Einträge trotzdem in merklicher Anzahl nette und konstruktive Kommentare eintrudeln. Zum jüngsten Eintrag »Vielleicht« gaben gleich zwei Leserinnen die Anregung, ich möge doch einen flattr-Button einbinden, damit neben Twitter-Sharing und Facebook-Liking noch eine weitere Option zur Wertschätzung der hiesigen Veröffentlichungen zur Verfügung stünde. Also – so sei es fürderhin.

Und ich verspreche: ich bringe die Einnahmen entweder meinerseits per Flattr-Klick wieder unter die Leute oder gebe sie für Sachen aus, über die ich wieder was bloggen kann. Denn Ihr sollt ja schließlich auch was davon haben.

Update: Der flattr-Button wurde inzwischen wieder entfernt. Einige interessante Informationen zur Entwicklung und Kritik des Dienstes, u.a. aufgrund der Einführung vergleichsweise hoher Gebühren, kann man auf der Seite www.seo-analyse.com nachlesen.

Vielleicht

Vielleicht haben sich die meisten Menschen ja über die Jahre daran gewöhnt, dass unser Staat nicht so gut funktioniert, wie er es könnte. Dass die gesellschaftliche Realität und die Politik oft nebeneinander herleben. Dass Politiker auf nahezu keine Frage, die ihnen gestellt wird, klar und verständlich antworten. Dass Opportunismus und Positionslosigkeit fest zur Kernkompetenz gehören. Dass unliebsame Mehrheitsinteressen abgewiegelt oder übergangen werden. Dass Abgeordnete Gesetze nur noch überfliegen, ehe sie darüber abstimmen. Dass die Paragraphen statt von Ministern von Lobbyisten vorformuliert werden. Dass zwar gewählt wird, aber kaum ein Wahlversprechen gehalten wird. Dass oft genug bei bedeutsamen Themen die Sitzreihen des Parlaments leer bleiben. Dass mehr verschwiegen als informiert wird. Dass der Nachlass der Gegenwart für die junge Generation immer düsterer wird. Dass so vieles bröckelt, abstumpft, dümpelt, verblasst und verkrustet. Dass wir Unzulänglichkeiten hinnehmen wie bei einem in die Jahre gekommenen Auto, das nur noch anspringt, wenn man vorher den Schlüssel zweimal hin- und herdreht und das an der Ampel ausgeht, wenn man nicht den Fuß ein bisschen auf dem Gaspedal lässt.

Wie bei dem alten Stuhl im Schlafzimmer mit den darübergeworfenen Klamotten, der eigentlich nach dem Umzug durch eine Garderobe ersetzt werden sollte, dann aber zum Dauerprovisorium gerann. Oder wie bei dem alten Ehepaar, dem irgendwann der Unterschied zwischen Vertrautheit und Tristesse abhandengekommen ist und das bei Unstimmigkeiten schon längst nicht mehr nach Worten sucht, sondern sie mit müdem Schweigen zudeckt.

Was soll man auch machen? Die Werbewochen sind vorbei. Die Zeiten ändern sich nun mal, was soll man alten Idealen nachjagen? Eigentlich funktioniert doch das Meiste, wenn man nicht so genau hinsieht. Geht doch. Der Zweck heiligt die Mittel. Anderen geht es noch schlechter, was soll man jammern. Es könnte schlimmer sein. Man muss sich auch mal zusammenreißen. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Der Lack ist nun mal ab.

Vielleicht.


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Hinter Net

Ich bin übrigens der Meinung, dass Frau Merkel ein gewisses Maß an Kritik bezüglich ihrer »Neuland«-Äußerung durchaus verdient hat. Politiker selbst müssen natürlich nicht mit jeder neuen Technologie Schritt halten oder diese selbst beherrschen können. Aber sie sollten fähig sein, zu bemerken, dass eine neue Technologie präsent ist, sich rasant entwickelt und umwälzende Auswirkungen auf alle Lebensbereiche der sich ihnen anvertrauenden* Bürger hat.

Infolge dieser Feststellung sollten sie nicht zögern, kontinuierlich kundige Experten aller netzpolitisch relevanten Disziplinen zu konsultieren, für die diese Technologie eben kein Neuland mehr ist, sich mit ihnen zusammensetzen und auf ihre Empfehlungen hören, wie diese Technologie gefördert, demokratisch geregelt und ihre Chancen und Risiken verfassungsgemäß in eine kluge Gesetzgebung integriert werden können.

Aber genau das ist im letzten Jahrzehnt verschlafen, ausgesessen, prokrastiniert, abgewiegelt oder aktionistisch bis inkompetent in völlig falsche, höchst bedenkliche Richtungen zwangsgeregelt worden. Dass die »Digital Natives« in der Minderheit sind, rechtfertigt nicht, sie und ihre Bedürfnisse, Erfahrungen und die konstruktiven Vorschläge netzpolitischer Organisationen und Verbände zu ignorieren oder kleinzureden. Die »Neuland«-Metapher ist keine Entschuldigung oder Erklärung für das, was passiert oder nicht passiert ist oder dafür, dass für weite Teile der Bevölkerung das Netz nach wie vor nur aus Online-Shopping und E-Mails schreiben besteht. Sie ist eine Ausrede.

* Update: Mit »anvertrauen« meine ich nicht eine devote Selbstauslieferung der Menschen an die Regierung, sondern den Vertrauensvorschuss der Wähler, welchen sie ihren politischen Vertretern durch ihr Wahlvotum geben – und dafür erwarten dürfen, dass entsprechend gehandelt wird.


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Du bist viele

In den letzten Tagen und Wochen begegneten mir Meldungen, Ereignisse und Gedanken auf Websites, bei Twitter, Facebook, in Offline-Medien, in Nachrichtenmeldungen, in meinem persönlichen Umfeld, die in mir ein Gefühl auslösten. Sollte ich es benennen, würde ich sagen: »Ich glaube, es passiert gerade was.« Vielleicht sind die Zusammenhänge, die ich zu sehen glaube, totaler Blödsinn oder längst irgendwo anders formulierte »olle Kamellen«, aber ich möchte sie zumindest einmal hier aufschreiben, auch, um mal etwas Ordnung hineinzubekommen.

Was waren das für Dinge, die dieses Gefühl in mir auslösten? Das hört sich auf den ersten Blick ziemlich abenteuerlich an, denn sie scheinen keinerlei Zusammenhang zu haben: klassische Parteipolitik, die Holzmedien und ihre Krise, Musikverlage, e-Books, Downloads, der Arabische Frühling, die aktuellen Demonstrationen in der Türkei, Shitstorms, Facebook-Partys, das Hochwasser in weiten Teilen Deutschlands, Germany’s Next Topmodel und andere Castingshows, subversive Social-Media-Postings chinesischer Internetnutzer zum Jahrestag der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens, Umweltschutz, Ökostrom und Nachhaltigkeit, die sogenannte »Mass Customization«, die Netz-Initiative #aufschrei sowie einiges andere mehr. All diese Ereignisse kreisen um ein Thema bzw. deuten für mich auf einen Trend hin, für den ich das Wort »Schwarmaktivismus« gesucht und gefunden habe. Dieser Trend hat unmittelbar mit dem Internet zu tun, bewegt sich aber für mein Empfinden zunehmend ins Offline-Leben hinaus. Aber der Reihe nach.

Der finale Auslöser meines Gedankengangs war ein Zitat in dem Videoclip eines Vortrags einer TEDx-Konferenz, auf das ich im Blog von Isabel Bogdan aufmerksam wurde. Der Vortragende, ein Guerilla-Gardening-Aktivist aus Los Angeles, sagte darin:

»… ich weigere mich, Teil dieser vorgefertigten Realität zu sein, die von anderen Menschen hergesteⅡt wurde …«
(Video, Minute 4:49)

Seine Schlussfolgerung daraus war: ich tue selbst etwas, direkt vor meiner Haustür, werde nicht Mitglied einer Partei, warte nicht ab, bis andere für mich die Initiative ergreifen und kümmere mich nicht primär darum, wieviel ich mit meinem Tun bewege, sondern dass ich überhaupt etwas bewege, in einem kleinen, begrenzten Bereich (Selbstversorgung mit pflanzlichen Nahrungsmitteln) und unabhängig von Inititativen, Programmen und Vereinen, die sich Größeres auf die Fahnen geschrieben haben. Bis dahin eigentlich nichts bahnbrechend Neues. Aber ich interpretiere sein Zitat noch ein wenig darüber hinaus.

Bevor es das Internet gab, war der Austausch zwischen »Sendern« und »Empfängern« sowie innerhalb der »Empfänger« stark begrenzt. Politische Meldungen entnahm man dem Fernsehen, dem Radio, der Tagespresse oder engagierte sich selbst politisch aktiv. Der Austausch und die Verbreitung von Nachrichten und Meinungen untereinander vollzog sich durch Telefonieren, Briefe schreiben oder persönliche Gespräche. Um in Kontakt mit den »Sendern« zu treten, konnte man als »Empfänger« so etwas wie »Leserbriefe« schreiben, die nach Belieben veröffentlicht wurden oder man konnte bei Demonstrationen auf die Straße gehen. Das war’s. Dieselben Mechanismen bestimmten weitgehend auch das Kultur- und Alltagsleben. In Zeitungen und Magazinen konnte »man« lesen, welche Modetrends, Popstars oder Gesprächsthemen angesagt waren, die Erscheinungszeiträume folgten einem starren, bestenfalls täglichen Rhythmus. Nischenthemen wurden zwar in Independent-Kanälen behandelt, aber meist auch nur von einem Nischenpublikum konsumiert. Die Aufbereitung der Themen geschah unweigerlich in vorverpackter, gebündelter Form – man musste ein komplettes Magazin kaufen, um nur einen Artikel von persönlichem Interesse zu lesen, ein komplettes Album kaufen, um nur einen Lieblingssong zu besitzen, eine ganze Nachrichtensendung schauen, um einzelne individuell interessante Meldungen wahrzunehmen oder eine Partei wählen, um vielleicht nur einen einzelnen oder wenige persönliche Standpunkte aus dem gesamten Parteiprogramm politisch zu forcieren.

Für die »Sender« war diese Art der Beziehung zu ihren »Empfängern« von großem Vorteil. Sie konnten sich institutionalisieren und solidarisieren. Ob Konzerne, Parteien, Verlage oder Religionsgemeinschaften – die Botschaften und die Bedingungen für deren Abnahme durch die »Empfänger« konnten bequem vorgefertigt im Gesamtpaket gebündelt und verteilt werden, frei nach dem Motto »Alles oder Nichts«. So konnten Einfluss- und Machstrukturen entstehen, mit denen sich die Abnehmer bequem steuern oder zu vielfältigen Kompromissen bewegen ließen, sie konnten ja kaum etwas dagegen tun, das war nun einmal so. In vielen Bereichen, allen voran im Konsum, ist das weiterhin unverändert und wird es wohl auch eine Weile noch bleiben. Tausende Menschen, Erwachsene wie Teenager, kopieren ihren Lebensstil als »Bundle«, wollen aussehen (oder bei Castingshows singen oder tanzen) wie [hier bitte nach Belieben Promi, Popstar, Modestil oder Statusgemeinschaft einfügen], wir alle kaufen Massenprodukte, die vorgefertigt in den Regalen liegen, der Weg zur Individualisierung liegt lediglich in der Kombination unserer Einkäufe, in wenigen, begrenzten Customizing-Optionen wie Ausstattung, Material oder Farbe oder im Do-it-yourself-Verändern der Produkte nach ihrem Kauf. Natürlich erlischt dann sofort die Garantie.

Mit dem Internet begannen diese Machtstrukturen zu zerbrechen, denn die »Empfänger« wurden nun nicht nur bald ebenfalls zu»Sendern«, sondern konnten sich auch untereinander in weitaus größerer Zahl, Frequenz und Intensität miteinander austauschen. Statt größerer Contentpakete zerfielen Botschaften und Medieninhalte in kleinstmögliche Einheiten. Songs statt Alben, Twittermeldungen statt Nachrichtenmagazine, individuelle Standpunkte statt Parteiprogramme. Ständig formieren sich changierende virtuelle Interessengemeinschaften von Fans, Aktivisten, Hobbybetreibern, Zeit und Ort sind egal. Jeder kann bloggen, twittern, posten. Das beunruhigt die gewachsenen Sendermonolithen natürlich, denn plötzlich werden Widerspruch und Kritik in Echtzeit öffentlich, manchmal in beängstigender Zahl und mit aggressiver Energie. Verlage fordern vom Staat Schutzmechanismen für ihre schwindende Relevanz ein, Regierungen überwachen oder manipulieren den Traffic im Netz, Konzerne reagieren mit Ignoranz oder richten mit panischem Feedback und Abmahnungen mehr Schaden als Nutzen für ihre Marken und Kunden an.

Dennoch hatte ich bislang das Gefühl, die Mehrheit der Internetnutzer bediente sich dieser Möglichkeiten des Netzes hauptsächlich auf zwei Arten: entweder totaler Individualismus (»endlich kann ich mich mit meiner Meinung und meinen Themen im Netz selbst verwirklichen«) oder totaler Kollektivismus, wie er bei Shitstorms, Facebookpartys oder der Organisation von Massenprotesten wie z.B. beim Arabischen Frühling bzw. derzeit in der Türkei sichtbar wird. Ich will das gar nicht abwerten, ich finde es toll, dass jedes Nischenthema im Netz seinen Platz findet, ebenso begrüße ich die Macht, die durch die Online-Solidarisierung und -Koordination vieler Einzelner bei Demonstrationen, Petitionen und Diskussionen möglich wird. Dennoch blieb eine dritte, weitaus subtilere – und vielleicht gerade deshalb machtvolle – Einflussmöglichkeit aus meiner Sicht bislang wenig genutzt: der Schwarmaktivismus.

Der Schwarmaktivist (egal welchen Geschlechts) hat zwar ebenfalls keine Lust mehr, seine Themen und Ideologien im Komplettpaket von politischen oder sonstigen Instanzen zu »abonnieren«, aber er flüchtet sich nicht in einen neuen Kollektivismus, indem er nach Anderen sucht, die exakt dasselbe tun wie er und mit diesen wiederum neue Parteien und Interessengruppen gründet oder an bestimmte Orte reist, um diese Gleichgesinnten zu treffen. Stattdessen reicht es ihm vollauf, zu sehen, dass im Netz an unzähligen Stellen und Orten auf der Welt andere Individuen so denken wie er. Er handelt individuell, vor seiner Haustür, mit kleinen, persönlichen Beiträgen in dem Bewusstsein, dass überall auf der Welt Andere etwas Ähnliches tun. Um dieses Bewusstsein zu entwickeln, benötigt er das Netz. Um entsprechend zu handeln, braucht er es nicht. Gegenseitiger Online-Austausch mit Geistesverwandten hingegen ist erwünscht und wird auch genutzt. So beschließen Menschen, zu Ökostromanbietern zu wechseln, Solarkollektoren auf dem Dach zu installieren, zu vegetarischer Ernährung zu wechseln, Fahrgemeinschaften für Vor-Ort-Hilfe oder Spenden für Flutopfer zu organisieren, Obst auf Verkehrsinseln anzupflanzen, kluge und konstruktive Blogartikel zur Verlags- oder Buchhandelskrise zu veröffentlichen, sich persönlich aufgrund eines Online-Denkanstoßes in ihrem ganz persönlichen Umfeld gegen Sexismus im Alltag zu engagieren oder auf andere Weise »die Welt zu retten«. Vereint durch den Überdruss an Lobbyismus, Parteipolitik und des Wartens müde, dass sich von oben oder von selbst etwas ändert – und angetrieben von der Weigerung, zu resignieren, weil man als Einzelner ohnehin machtlos ist. Der Schwarmaktivist muss sich nicht zwingend mit jemandem verabreden, er kann selbst entscheiden, wie und wann er etwas tut – und was. Motiviert durch das Internet und durch die dort sichtbare Gewissheit, dass da draußen Millionen anderer Menschen ebenso denken und sich überlegen, was sie im Kleinen bewegen können, damit trotzdem, bald und überall auf der Welt das Leben jeden Tag wieder ein kleines bisschen besser wird. Und aufgrund meines Gefühls, dass die Zahl derer, die so handeln, täglich zunimmt, möchte ich gern optimistisch sein und glauben: das wird es.

Bärlauchsteckbrief

Nicht nur auf der schönen Insel Bornholm, wo ich gerade urlaubte, ist derzeit die Bärlauchsaison auf ihrem Höhepunkt. Die Wälder und Bachläufe sind gebietsweise geradezu zugewachsen mit dichten Matten dieser Würzpflanze – der eine mag sie, der andere nicht. Wer Bärlauch schätzt und nicht selbst sammeln will oder kann, bekommt das mittlerweile geradezu »trendige« Kraut auch auf vielen Wochenmärkten zu kaufen, die Preise dafür sind allerdings oftmals genauso saftig wie das Grün der schwertförmigen Blätter.

Billiger ist das Selbersammeln. Doch ist Vorsicht geboten, denn ein anderes Gewächs, das dem Bärlauch ziemlich ähnlich sieht, hat zur selben Zeit ebenfalls Saison – und ist beim Verzehr hochgiftig: das Maiglöckchen. Ich bin zwar kein Botaniker, aber dennoch vermag ich beide Pflanzen anhand dreier charakteristischer Unterscheidungsmerkmale sicher auseinanderzuhalten. Als Hilfestellung für angehende Bärlauchsammler daher hier ein kleiner bebilderter Steckbrief der beiden Gewächse (aus rechtlichen Gründen allerdings ohne Gewähr für die individuelle Anwendung):

Maiglöckchen vs. Bärlauch
Klick aufs Bild für vergrößerte Ansicht | Fotos: © formschub


(1) Die Blätter

Beim Maiglöckchen sind die Blätter (besonders bei jungen Pflanzen) spiralig ineinander gewickelt, was man besonders von oben gut erkennen kann. Einen klar abgegrenzten Stiel haben sie nicht, sie verjüngen sich nach unten hin kontinuierlich.

Bärlauch hat schon im jungen Stadium der Pflanze getrennt voneinander sprießende Blätter, die mit einer Verjüngung unten abschließen und in einen klar abgegrenzten, glatten, hellen Stiel übergehen.

Aufgrund dieses Unterscheidungsmerkmals sollte man beim Sammeln der Pflanzen immer darauf achten, die Blätter möglichst nahe am Boden abzupflücken oder abzuschneiden, damit man nie in die Bredouille kommt, zu Hause nur Blattspitzen oder stiellose Blätter klassifizieren zu müssen. Je mehr Stiel dranbleibt, desto besser. Die Stiele kann man ja vor der späteren Weiterverarbeitung immer noch abschneiden.


(2) Die Blüten

Wer unsicher beim Sammeln ist, tut gut daran, sich an der Fundstelle Pflanzen zu suchen, die bereits einen jungen Blütenstand haben. Sind die Pflanzen voll erblüht, ist die Unterscheidung einfach – fast jeder kennt die charakteristischen, zu mehreren am Stiel nach unten hängenden Maiglöckchenblüten und wird sich hüten, diese nebst Blättern zum Verzehr zu sammeln. Auch Bärlauch in voller Blüte ist leicht zu erkennen: der von mehreren sternförmigen weißen Blüten gebildete, kugelförmige Blütenstand des Bärlauchs hat mit Maiglöckchen nichts mehr gemein. Doch auch vor dem Erblühen gibt es ein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal:

Beim Maiglöckchen kann man auch am jungen Blütenstand bereits erkennen, dass die Pflanze mehrere Blüten an einem Stiel tragen wird – an der Spitze des Stiels sind mehrere kleine kugelige Knospen angelegt, die klar voneinander getrennt sind.

Obwohl auch Bärlauch letztlich mehrere kleine Blüten an einem Stiel trägt, sind diese bis zu ihrer Entfaltung von einer einzigen tropfenförmigen, sehr hellen und leicht durchsichtigen Hülle umgeben. Bärlauch trägt nie mehr als eine dieser Blütenhüllen an einem einzelnen Stiel.


(3) Der Geruch

In der Nähe einer üppig bewachsenen Fundstelle liegt der charakteristische Geruch des Bärlauchs schon der Luft. Nimmt man dann ein paar Blätter in die Hand und zerreibt oder zerrupft sie, wird er unverkennbar: Die Pflanze riecht »lauchig« – ein Aroma irgendwo zwischen Schnittlauch und Knoblauch, nicht so »zwieblig« wie Porree oder Frühlingszwiebeln und nicht so stechend wie Knoblauch. Diesen Geruch haben Maiglöckchen nicht, sie riechen unauffällig nach »zerriebener Pflanze«. Achtung! Nach diesem Reibetest mit dem Ergebnis »Maiglöckchen« sollte man sich entweder sofort die Hände gründlich feucht reinigen oder bis zur nächsten Gelegenheit dazu tunlichst vermeiden, Gesicht, Augen, Schleimhäute und Mund zu berühren!

Wenn alle drei (!) Kennzeichen auf Bärlauch hinweisen, steht einer reichlichen Ernte nichts mehr im Wege. Es empfiehlt sich, alle gesammelten Blätter zu Hause beim gründlichen Waschen und Sortieren noch einmal gründlich in Augenschein zu nehmen. Mit der Zeit und größerer Sammelerfahrung entwickelt man schnell ein verlässliches Gefühl für die feinen Unterschiede zu versehentlich mitgesammelten, nicht essbaren Blättern. Und an Rezepten für Pestos, Saucen und andere Leckereien herrscht im Internet kein Mangel. Bärlauch passt etwa zu Nudeln, Kartoffeln, Fisch, Fleisch und vielen Gemüsen und ist eine tolle Würzzutat für Butter, Quark, Frischkäse und andere pikante Dips oder Brotaufstriche. Guten Appetit!


Update 12. Mai 2013 zum Kommentar von »Balz«:

Der Unterschied zwischen Bärlauch und dem ebenfalls ähnlich aussehenden und sehr giftigen Krokusgewächs der Herbstzeitlose wird auf der Website kräutergustel.de – ebenfalls mit Fotos – anschaulich erklärt. Die Unterscheidungsmerkmale Blätter, Blüten und Geruch sind dieselben, insofern bleibt der Rat: was nicht in allen Punkten der Beschreibung des Bärlauchs entspricht, sollte nicht auf dem Teller landen.