Autor: ProstetnikVogonJeltz

Post von der Bahn

Rund sechs Wochen ist es her, dass ich hier im Blog von einem aus meiner Sicht bedenklichen Wortwechsel berichtete, der auf einer Bahnreise zwischen einem schwarzen Fahrgast und einem Zugbegleiter erfolgte. Die Resonanz bei den Leserzahlen und Kommentaren war – für meine Verhältnisse – enorm: über 6.000 Besucher lasen den Blogbeitrag und hinterließen fast 50 Kommentare, 243mal wurde der Beitrag bei Twitter verlinkt. Das »Netzrauschen« war immerhin so groß, dass noch am selben Abend der Twitteraccount der Bahn (@DB_Bahn) von sich aus Kontakt mit mir aufnahm und um eine detaillierte Schilderung des Geschehens bat. Da ich mir alle Orte, Zeiten und Namen notiert hatte, kam ich dieser Bitte gerne nach.

Rund zwei Wochen später wurde ich von einem freundlichen Mitarbeiter aus dem Callcenter »Zentraler Kundendialog, Vorstandsangelegenheiten« kontaktiert und über die weiteren Schritte der Bahn in dieser Sache unterrichtet. Ich betonte in diesem Gespräch auch, dass mir keinesfalls daran gelegen sei, dem betreffenden Zugbegleiter persönlich zu schaden, sondern auf den Vorfall als solchen hinzuweisen, um derartige Verfehlungen, auch durch andere Mitarbeiter, künftig zu vermeiden.

Inzwischen wurde der Sachverhalt untersucht und seitens der Bahn, wie ich finde, angemessen darauf reagiert. Nach einem erneuten Anruf aus dem Callcenter zum Abschluss der Angelegenheit erhielt ich nun vor zwei Wochen die nachfolgende E-Mail. Ich veröffentliche sie erst jetzt, da ich zuvor um die Genehmigung bitten wollte, den Wortlaut hier im Blog zu veröffentlichen:

Sehr geehrter Herr Pfeiffer,

vielen Dank für Ihre Nachricht und die freundlichen Telefonate.

Für Ihre ausführliche Schilderung zu Ihren Erlebnissen im IC 2327 am 29. September danke ich Ihnen sehr.

Das Geschehene können wir leider nicht mehr rückgängig machen. Das Verhalten unseres Mitarbeiters bedauere ich sehr und bitte im Namen der Deutschen Bahn AG, das Verhalten unseres Zugbegleiters ausdrücklich zu entschuldigen.

Mit dem Mitarbeiter wurde ein ernstes Gespräch geführt. Er hat dabei sein Bedauern über das eigene Verhalten und die ungebührliche Wortwahl zum Ausdruck gebracht. Der Mitarbeiter erläuterte, dass er zu keinem Zeitpunkt den betreffenden Fahrgast zu beleidigen oder zu diskriminieren beabsichtigte. Vielmehr verfolgte er laut eigener Aussage die Absicht, den Fahrgast durch einen lockeren Spruch aufzuheitern. Die Außenwirkung seiner Aussagen sei ihm während der Fahrt nicht bewusst geworden.

Wir haben den Mitarbeiter im Zuge des Gesprächs eindringlich darauf hingewiesen, dass sein Verhalten nicht zu akzeptieren sei. Dabei wurde ihm vor Augen geführt, dass wir von unseren Mitarbeitern ein stets zuvorkommendes und respektvolles Verhalten gegenüber unseren Fahrgästen erwarten.

Sehr geehrter Herr Pfeiffer, Ihnen wünschen wir zukünftig angenehmes Reisen in unseren Zügen.

Mit freundlichen Grüßen

i.A. ████████████
Deutsche Bahn AG
Zentraler Kundendialog
Vorstandsangelegenheiten

Auch ich betrachte den Vorfall damit als abgeschlossen und hoffe, dass ich damit ein bisschen dazu beitragen konnte, für Bahnkunden aller Nationen, Religionen und Hautfarben ihre Reisen, von wo auch immer wohin auch immer, etwas angenehmer zu machen.

Der Rest von Hamburg: Barmbek-Nord

Der geschätzte Herr Buddenbohm setzt gerade eine Bloglawine in Gang, in der – zuerst nur Hamburger, aber allmählich die halbe Republik – aus ihrem Stadtteilnähkästchen plaudern. Das inspiriert. Voilà:

Als ich Anfang 1995 von Hildesheim nach Hamburg zog, musste alles ruckzuck gehen. Ich hatte nach meinem Studium gerade mal auf eine einzige Stellenanzeige geantwortet und sofort ein Vorstellungsgespräch, dann wenige Tage darauf die Zusage bekommen. Nur wenige Wochen später sollte ich in der großen Stadt meinen Job als »Junior-AD« in einer kleinen Werbeagentur beginnen. Wohnungen waren knapp und teuer zu dieser Zeit, und so blieb mir nichts anderes übrig, als die erstbeste bezahlbare zu nehmen. In Wandsbek, in einem Hochhaus mit 64 Ein-Zimmer-Appartments am Eichtalpark, die 36-Quadratmeter-Wohnung kostete 960 Mark warm, teurer als die 100 Quadratmeter der elterlichen Wohnung, aus der ich damals auszog. Aber hey, es war Hamburg!

Viereinhalb Jahre lang kam ich mit dem begrenzten Platz aus, den meine erste Unterkunft mir bot, dann hatte ich genug von dem fensterlosen altrosa gekachelten Bad, der knapp 2 Quadratmeter kleinen Küche, dem Einbauschrank im Flur und dem nur meterbreiten Bett in der Wohnzimmernische. Glücklicherweise entspannte sich gerade der Wohnungsmarkt wieder und ich machte mich mit den inzwischen erworbenen Kenntnissen über die Hamburger Stadtteile auf die Suche.

Winterhude hätte mir gefallen, oder Uhlenhorst, Altbau, 50 bis 60 Quadratmeter, mit Dielenboden und einem schönen, großen Duschbad. Ich durchkämmte die Wohnungsangebote und besichtigte die angepriesenen Objekte: Wohnungen, bei denen »Altbau« eher den Zustand als die Kategorie bezeichnete, Bäder mit brotscheibenkleinen Waschbecken (Borgweg), Wohnzimmer mit in Armlänge vor dem Fenster verlaufenden Hochbahntrassen (Mundsburg), eine coole, aber leider renovierungsbedürftige Loftwohnung (Hasselbrook), im Billig-Baumarktschick totrenovierte Räume (Eilbek) und Neubauwohnungen mit wellenschlagendem Teppichboden (Schnelsen). Ein paar Schmuckstücke waren schon dabei, aber ich merkte auch, dass je nach Stadtteil bis zu 30% »Prestigezuschlag« auf die Kaltmiete anfielen, wenn die Wohnung in einem besser beleumundeten oder besonders begehrten Stadtviertel lag.

Und dann besichtigte ich eine Wohnung in Barmbek-Nord, einem mir bis dahin völlig unbekannten Stadtteil, nicht weit von der Fuhlsbütteler Straße entfernt. Hier haben die Straßen Vogelnamen, es gibt die Habicht-, Drossel, Schwalben-, Star- und Wachtelstraße. Die besichtigte Wohnung war frisch renoviert, hatte honiggoldene, quietschende Dielen, eine nagelneue Einbauküche, einen kleinen gemauerten Balkon – und als ich das neu gekachelte, helle Bad mit Badewanne und Duschkabine betrat, war es um mich geschehen. Ich hatte mich verliebt! Wo die Wohnung lag, war auf einmal nicht mehr so wichtig. Und ich bekam den Zuschlag!

Seit 13 Jahren bin ich nun Nord-Barmbeker und habe den Stadtteil und seine Bewohner schnell kennen und schätzen gelernt. Obwohl ich »Werber« bin, mag ich Menschen am liebsten, von denen noch etwas übrigbleibt, wenn man ihr Geld, ihren Besitz, ihren Job und ihren Status von ihnen subtrahiert. Mich befremden graulanghaarige, solariumgegerbte Männer mit Zigarren in röhrenden Sportwagen und riesensonnenbebrillte Frauen, die für 5.000 Euro Kleidung und Accessoires am Körper tragen, aber so dünn sind, dass man ihnen Geld für ein Brötchen zustecken möchte. Ich schätze Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Authentizität und bin der Meinung, das habe ich hier gefunden.

Die Nord-Barmbeker verstellen sich nicht. Schon kurz nach meinem Einzug, als ich beim Metzger Göpp an der Ecke fürs spontane Wohnungs-Einweihungs-Brunch eine Aufschnittplatte ordern wollte, schnell, nichts Großes, bloß keine Umstände, ein Klumpen Mett und etwas Wurst und Käse, wies mich Frau Göpp energisch zurecht: »Also, entweder wir machen das hier richtig, oder gar nicht!«. Von da an hatte ich Barmbek ins Herz geschlossen.

Hier ist Multikulti, aber gut gemischt: Afrika, Indien, Orient, Asien. In der Nähe der Fuhlsbütteler Straße habe ich in einem Fußwegradius von nur 5 Minuten alles, was ich im Alltag brauche: Apotheken, Metzger, Bäckereien, Supermärkte, Drogeriemärkte, ein Asia-Shop, ein Fischgeschäft, eine Postfiliale, Blumenläden, Handyshops, Fahrrad- und Buchhändler, Videotheken, Optiker, Banken und Discounter. Es gibt indische, italienische, asiatische und griechische Restaurants, Kneipen, Imbisse und Cafés. Einige Läden haben bis 22 Uhr geöffnet. Ich fahre 10 Minuten zur Arbeit, mit dem Fahrrad sind es 15. Ich kann zu Fuß in den Stadtpark gehen, bin im Nu an einem S-/U-Bahnhof, dessen Linien fast die ganze Innenstadt abdecken, zum Flughafen ist es ein Katzensprung, der Nachtbus vom Rathausmarkt hält quasi vor der Haustür.

Was will ich in St. Pauli, in Eimsbüttel, in Eppendorf? Barmbek-Nord ist das, was Helvetica und Arial bei den Schriften sind, es ist der mittelalte Gouda unter den Hamburger Stadtteilen, die Jeans, das Graubrot, der Opel Astra. Ehrlich, gut, robust.

Ich fühl mich wohl hier.


Foto: © Sven Sommerfeld | www.midairpublications.de

Tapetenwechsel

Schon lange hatte ich mir mal wieder ein Blog-Update vorgenommen, aber das ist ja immer mit Arbeit verbunden. Die bisherige WordPress-Version 2.8.4 war längst veraltet, das dafür genutzte Theme »Renegade« wahrscheinlich inkompatibel, ganz zu schweigen von den PlugIns. Auch Horrormeldungen über korrupte Datenbanken und Contentverluste nach WordPress-Updates ließen mich zögern.

Doch gestern war es soweit. Backup, Theme-Recherche, Update auf WordPress 3.4.2, PlugIn-Aktualisierung, Auswahl und Einbindung der Google Webfonts Glegoo und Noticia Text, Theme-Anpassung. Keine Probleme. Direkt unheimlich. Ein paar Handgriffe noch bei Designdetails und Übersetzungen der Textbausteine im Backend, aber sonst – fertig. Und als Bonus ist mein Blog nun außerdem responsive.

Ich freu mich. Meine Leser hoffentlich auch.


Photo: © mag3737 | Some rights reserved

Veronika, ein ganzes Jahr

Wer kennt es nicht, das berühmte Lied der Comedian Harmonists mit den eindeutig zweideutigen Textanspielungen?

Dass der Frühling die Säfte sprießen lässt, ist allgemein bekannt. Der Herbst hingegen bringt sie zum Versiegen, er macht die Tage kürzer, dunkler und die Stimmung trüber, zeigt seine triste Seite abseits des »Rilkescheiß«, wie Bosch treffend schreibt. Was, wenn die Comedian Harmonists auch davon gesungen hätten? Das war der Gedanke, der mich zu dem obigen Tweet inspirierte. Und weil ich das Jahr gerne voll machen wollte, kommen nun auch noch der Sommer und der Winter dazu, ebenfalls besungen von missgelaunten Verächtern dieser Jahreszeiten. Die Melodie kennt Ihr ja …

Veronika, der Lenz ist da,
die Mädchen singen ›tralala‹,
die ganze Welt ist wie verhext,
Veronika, der Spargel wächst.

Veronika, der Sommer naht,
beim Dresscode wird an Stoff gespart,
die ganze Welt ist schweißglasiert,
Veronika, mein Blut geliert.

Veronika, der Herbst ist da,
im Hirn spinnt die Amygdala,
die ganze Welt ist trist und leer,
Veronika, ich will nicht mehr.

Veronika, der Winter dräut,
wie hass’ ich Frost und Weihnachtzeit,
die ganze Welt ist kalt und weiß,
Veronika, mach Glühwein heiß.

Sad_Cereals
Photo: former Flickr user Cali4beach | Some rights reserved

Bücherfragebogen [♂] – 25


25 Ein Buch, bei dem die Hauptperson dich ziemlich gut beschreibt
Auch diese Frage habe ich nur deshalb so lange vor mir hergeschoben, weil ich so intensiv darüber nachgedacht habe.

Ergebnis: Keins. Ich habe noch kein Buch gelesen, in dem eine Hauptperson in mir den Gedanken hervorrief »Ach, schau mal, der/die ist ja wie du.« Eher schon passiert(e) es, dass ich in Büchern auf Protagonisten stieß, die Züge oder Eigenschaften hatten, die ich gerne hätte, aber nicht habe oder die in mir Ambitionen weck(t)en, ihm/ihr nachzueifern, sei es Selbstbewusstsein, Schlagfertigkeit, Mut, Abenteuerlust oder Furchtlosigkeit.

Am ehesten verspürte ich dieses Gefühl bei der Lektüre von Kinder- und Jugendbüchern, in einem Alter, in dem wohl die Meisten ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Unzulänglichkeiten viel stärker spüren und gewichten als die eigenen Stärken und Talente. Ein weiteres Lesegefühl daneben ist – Ihr kennt das – die Identifikation mit der Hauptfigur, das Gefühl, in sie hineinzuschlüpfen, mit ihr zu fiebern, zu lachen, zu leben – aber nahezu unabhängig von charakterlichen oder physischen Ähnlichkeiten zwischen ihm/ihr und mir als Leser.

Also lautet die Antwort auf Frage 25: Es gibt tolle Bücher mit famosen Charakteren, Helden, Vorbilder, vielleicht Idole – aber mich gibt’s nicht in Büchern. Nur in echt.
Der komplette Fragebogen im Überblick.

Me_Eye_S
Foto: © formschub

Bücherfragebogen [♂] – 17

Bald zwei Jahre knabbere ich nun schon an der Beantwortung der 30 Fragen dieses Stöckchens. Fünf davon sind noch übrig. Wäre doch gelacht, wenn ich so kurz vor Schluss schlappmache! Darum heute

17. Augen zu und irgendein Buch aus dem Regal nehmen
Nicht sooo einfach, weil ich ziemlich genau weiß, welche Bücher wo in meinem Regal stehen, insofern wird der blinde Griff in die Bibliothek kein völliger Zufallstreffer sein, aber egal. Ich lange mal in die Gruselecke, das passt auch zur nahenden düsteren Jahreszeit …

… und greife nach dem Taschenbuch »Stadt ohne Namen« von H. P. Lovecraft, eine Sammlung unheimlicher Geschichten, deren morbide Sprachgewalt mich nach wie vor fesselt. Schon während meines Studiums nutzte ich Textauszüge aus diesen Geschichten als Vorlage für die Übungsblätter im Kalligraphiekurs und bemühte mich, mit Feder und Skriptol die grausigen Schilderungen – wie etwa diese – in möglichst schönen Lettern zu Papier zu bringen:

Aus der unvorstellbaren Schwärze hinter dem verderbten Leuchten dieser kalten Flamme, aus den Meilen des Tartarus, durch die jener ölige Fluß sich unheimlich wälzte, flatterten rhythmisch, unhörbar und unerwartet, bastardähnliche geflügelte Geschöpfe, die kein normales Auge ganz begreifen kann oder deren sich ein gesundes Gehirn jemals ganz erinnern könnte. Sie waren weder Krähen noch Maulwürfe, noch Bussarde, noch Ameisen, noch verweste Menschenleiber, sondern etwas, an das ich mich weder erinnern kann, noch darf. Sie flatterten müde hin, halb mit ihren Schwimmhautfüßen und halb mit ihren häutigen Schwingen, und als sie die Menge der Feiernden erreichten, wurden sie von den kapuzenverhüllten Gestalten ergriffen und bestiegen, dann flog eine nach der anderen in die Weiten des unbeleuchteten Flusses in Höhlen und Gänge der Panik, wo vergiftete Quellen schreckliche und unentdeckbare Wasserfälle speisen.

Das ist noch Grusel alter Schule, zu lesen bei Kerzenschein in stürmischen Gewitternächten, wenn der Wind ums Haus heult und die Dielen im Korridor knarren, obwohl man doch eigentlich allein in der Wohnung sein sollte – aber wer weiß …

Der komplette Fragebogen im Überblick.

Books_17
Fotomontage: © formschub
Einmontiertes Bildmotiv »Fledermäuse«: © USFWS Headquarters | Some rights reserved

Under control(l)

Fast 4.000 Menschen haben in den letzten drei Tagen den Blogbeitrag zu meinem Bahnerlebnis gelesen, es gab zahlreiche Links, Retweets, Kommentare und »Likes«.

Ich begrüße dieses große Echo, nicht, weil mich Zugriffszahlen per se beglücken, sondern, weil ich es für gut halte, wenn Unternehmen generell bewusst(er) wird, dass ihre Fehler und die ihrer Mitarbeiter heutzutage online nahezu in Echtzeit öffentlich werden können. Das ist eine große Chance für die Unternehmen, schnell und effizient zu reagieren, auf Kritik einzugehen, ihr Image, ihren Service oder ihre Produkte zu verbessern und ihren Kunden gegenüber Wertschätzung zu zeigen.

Es geht nicht um Pauschalurteile, digitales Anprangern oder – wie so oft im Internet – wildes Rumpöbeln gegenüber den vermeintlich »bösen« Konzernen. Insofern bin ich recht froh, dass die Zahl derjenigen User, die in ihren Kommentaren aus meiner Sicht emotional etwas übers Ziel hinausgeschossen sind, (bis jetzt) erfreulich gering war. Vielleicht kriegt das Internet diesbezüglich irgendwann ja doch noch die Kurve. Ich würde das begrüßen.

No_riot