Kategorie: Das Auge isst mit

Reflexionen zu Werbung, Typographie und Design

Schnörkellos. Fast.

Als kulturell interessierter Mensch nehme ich mir gelegentlich in Ticketbüros die aktuellen Flyer und Prospekte der lokalen Musik-, Theater- und Bühnenensembles mit. Als Metropolenbewohner (Hamburg/Berlin) muss man ja wissen, was im Kessel der Großstadt gerade Heißes so kocht. Heute nach dem Frühstück blätterte ich im neuen Saisonprogramm des Rundfunkchores Berlin, das von außen noch nicht ahnen ließ, welch angenehm frisches Design mich auf den Innenseiten erwartete.

Schlicht weiß, mit glänzend goldener Heißfolienprägung kommt die Titelseite recht unspektakulär daher, wenn da nicht ein paar kleine Schnörkel an einigen Buchstaben hingen, die an die tropfenförmigen Formen an Bass- und Violinschlüssel bei der Notenschrift erinnern. Und gleich auf der nächsten Seite löst diese zarte Andeutung des Besonderen ihr Designversprechen ein:

In einem sehr variablen, aber dennoch aufgeräumt wirkenden Seitenraster, das aus einander überlappenden Rechtecken besteht, werden mit feinem Sinn für Farben und Seitenkomposition tolle und abwechslungsreiche Layouts gebildet. Die Seiten sind gut gegliedert und nicht überfüllt, die einfühlsame und zurückhaltende Typografie lädt zum Lesen ein, und gelungene, teils gewagt beschnittene Fotos von Interpreten, Publikum und Ensemble bilden zusammen mit großzügigen Schmuckbildern einen hochwertigen, modernen und frischen Look, der sofort Lust auf einen Besuch der Vorstellungen macht.

Besonders gefällt mir an dem Gestaltungskonzept das wiederkehrende Stilmittel eines Rasters aus unregelmäßigen rechteckigen Punkten (siehe Abbildung unten), deren Struktur sehr ansprechend und dezent Takt und Textur komplexer Musikarrangements visualisiert und den Rhythmus der Seitenlayouts im Kleinen nochmals unterstreicht.

Im PDF des Programmhefts kann man die wunderschöne Auszeichnungsschrift Archer des Schriftbüros Hoefler & Frere-Jones identifizieren; offenbar einst exklusiv für die Zeitschrift Martha Stewart Living der US-amerikanischen Heimdeko-Ikone entwickelt, doch die Exklusivlizenz ist inzwischen ausgelaufen, so dass der Font nun für jeden erhältlich ist. Sein Grundduktus erinnert an klassische geometrische Egyptienne-Schriften wie Rockwell oder Memphis, wird aber aufs Schönste bereichert durch die erwähnten kleinen »Schlenker« an einigen wenigen Zahlen und Buchstaben (siehe Abbildung unten) und macht diesen Type für meinen Geschmack zu einer perfekten Vermittlerin zwischen Kopf und Bauch, Klassik und Gegenwart.

Für längere Texte kommt die TheSans von Lucasfonts (Lucas de Groot) zum Einsatz.
Für die Gestaltung und Umsetzung verantwortlich zeichnet laut Impressum die Berliner Werbeagentur Heymann Brandt de Gelmini. Das Corporate Design wurde allerdings bereits 2010 mit dem – inzwischen freiberuflich tätigen – Creative Director Robert Körtge entwickelt.

RCB_2-3_Inhalt

RCB_46-47_Mahler

RCB_50-51_Requiem

RCB_Font_Archer
Abbildungen: © Rundfunkchor Berlin

Klare Ansage

Durch Zufall bin ich dieser Tage mal wieder auf ein paar sehr gelungene legale Freefonts gestoßen, die ich den Schriftfreunden unter meinen Lesern nicht vorenthalten möchte. Alle vier folgen dem ungebrochen aktuellen Trend zu klaren Fonts mit irgendwie »skandinavischer« Anmutung und damit auch meinen ganz persönlichen Fontvorlieben:

Die im Moskauer Fontstudio Cyreal entstandene Artifica erfreut das Auge nicht nur mit einem klaren, offenen Schriftbild, sondern auch mit ihrer harmonischen Verbindung aus Druck- und Handschriftduktus und zahlreichen originellen Details, wie etwa dem nach rechts tretenden »Füßchen« am Versal-A.

Die Banda von Typedepot in Sofia, Bulgarien, erinnert mit ihren voluminösen Minuskeln und kleinen Ober- und Unterlängen u.A. an Museo oder Neuzeit Grotesk, besitzt aber durch die kleinen organischen Schlenker in ihren An-/Abstrichen ein emotionaleres Gesicht.

Die Collator soll laut ihrem Entwerfer, dem in Kanada lebenden Gestalter Vince Lo, eine formale Brücke zwischen asiatischen und lateinischen Schriftzeichen schlagen, was auch gelingt. Doch auch bei ihr findet man Anklänge an derzeit populäre, kantig-organische Fonts wie Klavika, Neo Sans (Hausschrift Kabel 1) oder den exklusiven Corporate Font der dänischen Supermarktkette Super Brugsen. Besonders angetan hat es mir mal wieder das kleine »g«. I love it.

Die Play des Kopenhagener Schriftenbüros Playtype erinnert etwas an den Schriftzug der Sony PlayStation, vielleicht rührt daher der Name. Was ich an ihr mag, ist der gelungene Einklang von sympathischer Offenheit und rechteckigen Formen, was sie für mich zu einer sehr schönen Alternative zur inzwischen ziemlich ausgelutschten Eurostile macht.

Update: Artifika und Play sind übrigens inzwischen auch bei Google web fonts für die Darstellung auf Webseiten verfügbar.

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Man sieht: auch in (Ost)europa tut sich was in Sachen Typedesign.

Habt keine Angst

Es ist ein seltsamer Ort, an dem die Menschen auf den Zeichnungen von John Kenn leben. Dort gibt es keine Farben, außer ein fahles Gelb und ein dämmriges, an Schwarz erinnerndes Grau. Ab und zu sieht man auch Erwachsene, aber meist sind es Kinder. Seltsam unbeteiligte Kinder – obwohl ihnen auf Schritt und Tritt unheimliche Gestalten begegnen: Geister, Monster, Trolle, Dämonen, Kobolde, Vampire. Manchmal scheint es, als gehörten die gruseligen Begleiter mit zur Familie.

Ich stelle sie mir still vor, diese Welt, es ist üblich, flüsternd zu sprechen. Der Himmel ist dauernd mit Wolken verhangen, ständig verspricht die Sonne, bald durch den diesigen Schleier zu brechen, doch gehalten hat sie dieses Versprechen noch nie. Auch bleibt der Ort nicht von Grausamkeiten verschont, es gibt Bluttaten, Ängste und Gefahren, doch ereignen sie sich heimlich, vom Betrachter unbemerkt, er kommt als Zeuge stets entweder zu spät oder zu früh.

Gefunden habe ich den Eingang zu der faszinierenden Welt John Kenns, dessen Zeichnungen mich an Borislav Sajtinac, Gahan Wilson und Maurice Sendak erinnern, beim Stöbern in meinem Lieblingstumblr für weirde Bildwelten, 2headedsnake. Ihr solltet warten, bis es dunkel ist, ehe Ihr dort vorbeisurft. Es lohnt sich.

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Illustration: © John Kenn

Rückwärtsgang

Bei der Recherche nach einer schicken Retro-Illustration für den Muttertagsblogeintrag (s.u.) stieß ich zufällig auf die Website von Plan59, dem »Museum (and Gift Shop) of Mid Century Illustration«. Hunderte Illustrationen und Anzeigen aus den 50er Jahren wurden dort mit viel Aufwand zusammengetragen, in bester Qualität eingescannt und archiviert. Viele davon sind zudem als Kunstdrucke online bestellbar. Wer wie ich ein Faible für die Designästhetik dieses Jahrzehnts hat (auch wenn die Inhalte aus heutiger Sicht manchmal fragwürdig erscheinen), findet dort ohne Weiteres Augenfutter für mehrere Stunden.

Plan59
Thumbnail generated from www.plan59.com

Innen toll, außen oll

Über mein Faible für schöne und hochwertige (Lebensmittel-)Verpackungen habe ich schon den einen oder anderen Blogbeitrag verfasst. Um so mehr ärgert es mich, wenn Hersteller solcher Produkte den Lapsus begehen, für ihre Verpackungen Designer zu engagieren, die zwar originelle Ideen, aber kein typographisches Feingefühl haben.

Gleich zwei Edelspirituosen aus dem wunderbaren Delikatessenladen mutterland in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs sprangen mir diesbezüglich besonders ins Auge. Der bayerische (!) Gin »The Duke« z.B., ein unglaublich dichtes, aromatisches Wacholderdestillat mit Anklängen an Lavendel und Zitrusfrüchte, viel zu schade, um damit Longdrinks zu mixen, reißt in der Unterzeile »Munich Dry« auf seinem Etikett die schwungvollen Buchstaben der gewählten Schreibschrift »Bickham Script« brutal auseinander. Das tut weh.

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Nicht minder schmerzt es die Gestalterseele, was die Feinbrennerei Simon’s – nicht nur auf dem Etikett ihres delikaten alten Apfelbrands »Wolfsschluchtwasser« – mit dem eigenen Firmennamen veranstaltet. Dass sich Unternehmen entschließen, ihrem Namen ein Apostroph vor einem Genitiv-s zu spendieren (wie bei Kaiser’s Supermärkten oder Joey’s Pizza Service) sei ihnen unbenommen. Aber dass dieses Satzzeichen in der wunderschönen Handschrift »Cezanne« dann auch noch falsch gesetzt als französischer Accent Grave und ohne jeden feintypographischen Ausgleich zentimeterweit entfernt vom dazugehörigen Wort in der Luft hängt, ist für mich ein gestalterisches Armutszeugnis.

Typolapsus_02

Wäre ich als Grafik-Designer auf der Suche nach einem Präsent für Freunde oder Bekannte, die im gleichen beruflichen Umfeld arbeiten, wären solche Fehlgriffe für mich ein Grund, ein anderes Produkt zu verschenken – da mag der Inhalt noch so sehr schmecken.

Falls unter den werten Lesern jemand noch andere Beispiele zur Hand hat, die solche Designschlaglöcher auf hochwertig verpackten Produkten enthüllen, freue ich mich auf jeden Hinweis in den Kommentaren. Bilddateien bitte nur beifügen, falls Ihr die Rechte an den Fotos besitzt, ansonsten bevorzuge ich Links zu den Quellen.

Fotos oben: © formschub

Coole Werbung

Am vergangenen Montag feierte sich die Hamburger Werbeszene in der Neuen Flora bei Bier, Eis und Canapés im Rahmen der »Nacht der Löwen«, der Bühnenverleihung der Cannes Lions 2010. Und natürlich gab’s auch die unter Werbern legendäre »Cannes-Rolle« zu sehen.

Nach 90 Minuten Werbung ohne Unterbrechung durch Spielfilmschnipsel fühle ich mich zwar jedesmal wie weichgespült und erinnere mich schon wenige Momente nach dem Fallen des Vorhangs nur noch bruchstückhaft an alles Gesehene, aber ein mit Bronze prämierter Spot der Agentur Ogilvy Paris für Perrier ist »klebengeblieben«. Effekte, Kamera, Musik, Tempo, Schnitt, Casting – alles perfekt. Passt zwar nicht mehr so ganz in die Jahreszeit, aber seht selbst.

2009 gab es von der Agentur bereits eine Plakat-/Anzeigenserie mit derselben Grundidee, die ebenfalls einen Cannes-Löwen erhielt. Wer ausführlicher in den 2010 prämierten Clips und Kampagnen stöbern möchte, kann das hier tun.

Pimp my Putenbrust

Wohl jeder Blogger, der gern ab und zu übers Kochen und Essen berichtet, kennt die Situation: man hat etwas Gelungenes gekocht oder angerichtet oder sitzt im Restaurant vor einem famos arrangierten Tellergericht und möchte die Welt an seinem Gaumenglück in Wort und Bild teilhaben lassen. Der getextete Part ist meist kein Problem, doch schwieriger gestaltet sich der Teil mit dem Bild. Kaum ein Hobby(koch)blogger ist ausgebildeter Foodfotograf oder hat auf Schritt und Tritt eine hochwertige Kamera dabei.

Hinzu kommen die praktischen Unzulänglichkeiten: in Restaurants mit schwerem Gerät und Blitz das eigene Gedeck zu fotografieren erregt peinliche Aufmerksamkeit und auch zu Hause will man nicht immer erst das Stativ rauskramen, wenn die Gäste im Esszimmer schon nervös mit den Servietten rascheln.

Was also tun? Bleibt das gute alte Handyfoto – schnell aus der Faust geschossen, ohne großen Aufbau und im Nu abgespeichert. Doch das Ergebnis wird dem vermeintlich festgehaltenen Moment kulinarischen Entzückens selten gerecht – karges oder langweiliges Licht und die allzu gleichmäßige Schärfe lassen den in Wirklichkeit frischen Salat welk, das rosige Fleisch trocken oder die luftige Schaumspeise pampig erscheinen. Wer will solch unerquickliche Fotos ins Blog stellen und dann dazu schreiben müssen, dass man sich das alles eigentlich »in echt« viel schöner vorzustellen hat? Oder die mauen Schnappschüsse aufwendig von Hand mit Photoshop hinzutzeln? Sind Handyfotos zum Foodknipsen am Ende doch keine Alternative?

Auf der Suche nach einem Weg aus diesem Dilemma stieß ich kürzlich auf ein Tool, das zumindest für mampfbloggende iPhone-/iPad-Besitzer Abhilfe schaffen kann: Die App TiltShift Generator von Art&Mobile für schlappe 0,79 EUR (Update: die App ist inzwischen leider nicht mehr erhältlich).

Jeder kennt die bonbonbunten Panoramafotos, die mit dem gleichnamigen selektiven »Tilt & Shift«-Unschärfeeffekt wirken wie Szenen aus einer Modellbahnlandschaft. Nicht zuletzt eine laufende Kampagne der Deutschen Telekom hat dafür gesorgt, dass die Puppenoptik derzeit der letzte Schrei in der Werberbildsprache ist. (Noch) nicht so verbreitet ist die Erkenntnis, dass man damit, außer synthetisch Panoramen zu schrumpfen, auch beeindruckend und schnell selbstgeknipste Speiseportraits aufhübschen kann. Nur wenige Reglereinstellungen des intuitiv bedienbaren App-Interfaces zu den Parametern »Sättigung«, »Helligkeit« und »Kontrast« können einem unzulänglich eingefangenen Foodbild neue Frische einhauchen. Mit der selektiven Unschärfe, deren Form (linear oder kreisförmig), Position und Radius beliebig einstellbar sind, werden eine Garnele, ein Salatblatt oder die Schnittfläche eines Filetmedaillons appetitlich in den Fokus gerückt. Und mit der ebenfalls regelbaren Vignettierung rücken uninteressantere Bildbereiche am Rand dezent in mildes Dunkel (alles natürlich in Maßen, denn wir wollen ja die Realität ins Bild zurückholen und nicht ins Elysische abdriften).

Ab damit ins Blog – und weiterhin gutes Gelingen!

Foodpimping
Fotos: © formschub