Kategorie: Frisch ausgefüllt

Geworfene oder gefangene Stöckchen

Bücherfragebogen [♂] – 15

15 Das 4. Buch in deinem Regal von links
Für Menschen, die nur ein einzelnes Regalbrett mit Büchern besitzen, ist diese Frage wunderbar leicht zu beantworten. Meine Büchersammlung hingegen ist auf zwei prall gefüllte Regale mit bis zu sieben Einlegeböden verteilt, deshalb ergänze ich sie willkürlich und nehme das 4. Buch von links im größeren der beiden Regale ganz oben: Es ist »Sehr verehrte Damen und Herren … Reden und Ähnliches« von Loriot alias Vicco von Bülow.

Wie soll ich Loriot kommentieren? Ich bin von klein auf seinem Humor erlegen, habe schon im Grundschulalter seine Sketche nachgespielt, mein Zeichentalent mit dem Kopieren seiner Knollennasenmännchen geübt, alle Filme und Fernsehsendungen ’zigfach gesehen, kann die Dialoge mitsprechen und habe zahllose Floskeln und Zitate in meinen Alltagswortschatz übernommen (»Mein Mann hat ja auch immer was. Männer haben immer irgendwas.«).

Loriot ist die Inkarnation des intelligenten, gepflegten, aber immer subversiven deutschen Humors. Er ist ein Meister der Sprache, ein messerscharfer Beobachter, gnadenloser Perfektionist, wahnsinnig komisch und ein unerreichtes Unikat. Ich habe mich schon oft gefragt, ob – und wenn nicht, warum nicht – seine Cartoons, Sketche und Filme in anderen europäischen Ländern in untertitelter oder synchronisierter Form ein Publikum finden würden (oder unbemerkt bereits gefunden haben?). Ein gebürtiger Brite und Wahlschweizer in meinem Bekanntenkreis zumindest konnte sich darüber köstlich amüsieren. Und wie Loriots gezeichnete, gespielte und moderierte Werke sind auch die in diesem Buch enthaltenen Wortbeiträge: brillant.

»Wir blicken zurück auf einhundert Jahre Orchestergeschichte … Musik, so meine ich … oder wie es Thomas Mann einmal formuliert hat: Hundert Jahre sind eine lange Zeit … und Adorno dreißig Jahre später: Jaja, die Musik … Kürzer, präziser ist das nie gesagt worden.«

(aus Loriots Festrede zum 100jährigen Bestehen der Berliner Philharmoniker im Mai 1982)

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Foto: © formschub

Bücherfragebogen [♂] – 23

23 Das Buch in deinem Regal, das die wenigsten Seiten hat
Dieser Rang gebührt dem wunderbar zwischen Homoerotik und Zwölftonmusik balancierenden Comic »On the Road« aus der Eichborn-Minibuchreiche »Walter Moers’ schönste Geschichten«. Auf gerade mal 32 Seiten wird die bebilderte Anekdote eines jungen Anhalters erzählt, der von einem klassikbegeisterten Trucker auf der gemeinsamen Fahrt ziemlich durchgeorgelt wird. Insider-Zitat: »Haben Sie diese Trope gehört?«.

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Foto: © formschub

Bücherfragebogen [♂] – 09

09 Das erste Buch, das du je gelesen hast
Eine nicht ganz einfache Frage, da ich nach der Erinnerung meiner Mutter bereits mit 4 Jahren selbst lesen konnte und von da an unaufhaltsam zum Bücherwurm wurde. Und das ist nun schon sehr lange her. Doch nehme ich die Frage gerne zum Anlass, die schmale Treppe auf den Gehirndachboden meiner Kindheit hochzusteigen und im flackernden Licht der Erinnerung nach dort lagernden Bücherschätzen zu suchen. Es ist dunkel hier oben, aber es ist eine heimelige Dunkelheit, warm und gemütlich, es riecht nach Staub und altem, vergilbtem Papier. Langsam gewöhnen sich meine Gedankenaugen daran. Was ich in den schattigen Winkeln als erstes erkenne, sind Bilder: Illustrationen, Zeichnungen, Figuren, Charaktere. Ich war schon immer sehr visuell veranlagt und konnte mich an optische Eindrücke (und an Gerüche) immer deutlicher erinnern als an Namen und Begriffe.

Hasen. Ich sehe Hasen, die Kleidung tragen und aufrecht gehen – wie Menschen. Ein Bilderbuch, das bis zum Jahr 2000 aufgelegt wurde und im Bücherregal meines Kinderzimmers stand, war »Ich bin der kleine Hase« mit Illustrationen von Richard Scarry. An die Geschichte erinnere ich mich nicht mehr, es ging um Jahreszeiten und der kleine Hase fiel, glaube ich, irgendwann in einen tiefen Winterschlaf (machen Hasen das eigentlich? Egal.) Wie es sich anfühlt, eine ganze Jahreszeit zu verschlafen, würde ich auch noch heute gerne noch wissen.

Das zweite Hasenbuch, das ich besaß, war das aus heutiger Sicht pädagogisch eher bedenkliche Werk »Die Häschenschule«. Die Hasenlehrer waren streng und zogen unartigen Hasenschülern zur Strafe die Ohren noch länger. Sogar einen der Verse aus dem Kontext der Züchtigungen weiß ich noch auswendig: »In den Karzer muss er nun. Ei, da kann er Buße tun!«. Der Untertitel »Ein lustiges Bilderbuch« wirkt in diesem Kontext schon fast bizarr. Meine Kerze flackert. Mich fröstelt kurz.

Hier! In der Truhe! Eine ganze Bücherserie, deren fantasievolle Geschichten komplett in Schulschreibschrift abgedruckt waren – tatsächlich aber ein Werbeprodukt: die Abenteuer von Lurchi und seinen Freunden, herausgegeben von der Schuhmarke Salamander. Wer neben der gelbschwarzen Amphibie die Freunde waren, das habe ich inzwischen vergessen. Eine Kröte, ein Igel, ein Frosch? Doch ich weiß: einmal gewann einer der Helden einen sportlichen Wettlauf, weil ihn ein Schwarm Wespen verfolgte. Zufälligerweise las ich beim Graben nach Weblinks, dass Lurchi wieder zum Leben erweckt werden soll. Vermutlich gezeichnet in zeitgemäßem Stil und ausgestattet mit Handy und iPod. Ich werde nicht nachschauen, will es nicht wissen.

Der Lichtschein meiner Kerze erfasst etwas Rotes. Es ist der Umschlag eines ebenfalls erzieherisch motivierten Buches meiner Kinderbibliothek – aus der Reihe »Carlsen Wunderbuch«: »Der Junge, der nicht essen wollte«, verfasst und bebildert von der Illustratorin Elisabeth Brozowska. Die im typischen Stil der späten Sechziger Jahre geschaffenen Bilder in diesem Buch sind mir bis heute klar im Gedächtnis geblieben und ich halte sie auch heute noch für genial. Der kleine Junge, der sich dem Essen verweigert, nimmt keineswegs ab, sondern schrumpft zum Winzling zusammen. Von der Putzfrau versehentlich aufgefegt und in die Mülltonne befördert, beginnt für ihn eine abenteuerliche Reise – natürlich eine mit Happy End. Das Buch ist damals offenbar in vielen Sprachen erschienen und der kanadische Illustrator Denis Goulet hat bei flickr ein Bilderset mit Scans der famosen Motive aus der französischsprachigen Ausgabe gepostet.

Jetzt höre ich Stimmen von unten, außerhalb des Speichers, den ich gerade erkunde. Es ist die Gegenwart, die mich zurückruft. Ich gehe die Stiege hinunter, lösche mein Licht und schließe die kleine, quietschende Tür sorgsam hinter mir ab. Den Schlüssel und die Kerze stecke ich gut verwahrt in die Tasche, denn ich werde sicher bald nachschauen, was dort oben noch alles liegt.

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Image: © Elisabeth Brozowska | Scan courtesy of Denis Goulet

Bücherfragebogen [♂] – 05

05 Ein Buch, das du immer und immer wieder lesen könntest
Alle Kolumnen-Sammelbände von Max Goldt.
Ich »folge« Max Goldt seit etwa 1981, als mein älterer Cousin, der aus einer etwas ländlicheren Gegend stammt, mich bat, für ihn in den Plattenläden meiner damaligen Wohnstadt zunächst die Foyer-des-Arts-Single »Eine Königin mit Rädern untendran« und später das Album »Von Bullerbü nach Babylon« zu besorgen. Beide Vinyltonträger habe ich mir vor Übergabe auf Cassette überspielt (ja, Kinder, so war das damals!) und war durch die ebenso absonderlichen wie wohlformulierten Verse (z. B. »Wissenswertes über Erlangen«), die Goldt als textender und singender Frontmann zu diesem ganz eigenen NDW-Duo beitrug, im Nu entflammt.

Seine ersten beiden Bücher »Mein äußerst schwer erziehbarer schwuler Schwager aus der Schweiz« und »Ungeduscht, geduzt und ausgebuht« sind noch kolumnenlos, nichtsdestotrotz bergen die enthaltenen Gedichte, Kurz- und Liedtexte sowie hörspielähnlichen Dialoge schon typisch goldt’sche Textgenüsse. Aber in den vier »Titanic«-Kolumnenbänden »Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau«, »Die Kugeln in unseren Köpfen«, »Ä« und »,Mind-boggling‘ – Evening Post« übertrifft er sich eins ums andere Mal auf Neue. Ich liebe die Sprache, das Wortspielen, Wortschöpfen und Formulieren, und diese Texte Max Goldts sind für mich ein Lesewhirlpool, in dem ich immer wieder gern ein labendes Sprudelbad nehme.

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Foto: Aus meinem Plattenregal – LP-Cover der Wiederauflage des Max-Goldt-Albums »Die majestätische Ruhe des Anorganischen« aus dem Jahr 1990 (Ausschnitt)

Bücherfragebogen [♂] – 31

31 Das Buch, das du am häufigsten verschenkt hast
Jörg Metes und Tex Rubinowitz: »Die sexuellen Fantasien der Kohlmeisen«.
Ja, ich gestehe: das von mir meistverschenkte Buch ist kein Bestseller, wurde von keinem Literaturpreisträger verfasst, ja, erzählt nicht einmal eine richtige Geschichte. Aber es ist herrlich absurd. Der Inhalt? Listen. Und zwar »Listen, die die Welt erklären«. Seitenweise frei erfundene Nonsens-Rankings, die genau den Lesern gefallen werden, die Hitlisten aller Art hassen. Die Autoren haben zwar beim Verfassen vermutlich die eine oder andere bewusstseinsverändernde Substanz eingenommen, aber wichtig ist, was hinten rauskommt, und das ist famos. Ein Auszug:

Die sieben Bestellungen, bei denen ein Kellner garantiert
nachfragt, ob er das richtig verstanden hat

1. »Für mich bitte den Sauerbraten und zum Trinken einen Martini«
2. »Wirsing und Perrier«
3. »Die Austern und dazu einen Eierlikör«
4. »Gemischten Salat und Möbelpolitur«
5. »Antimaterie und Fanta«
6. »Spaghetti-Eis und 83er Mouton-Rothschild«
7. »Ein Glas Mehl und einen Teller Stroh«
Warum der Krill wieder nicht »Tier des Jahres« geworden ist
1. Zu klein
2. Keine Lobby
3. Seine Rolle als Verbündeter der Achsenmächte im 2.Weltkrieg
4. Kein Fell
5. Die Wale sind dagegen

Also, ich find’s komisch. Und auch von den Beschenkten habe ich bisher nichts Gegenteiliges gehört.

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Foto: © formschub

Bücherfragebogen [♂] – 13

13 Ein Buch, bei dem du nur lachen kannst
Das Buch, bei dessen Lektüre ich mehrfach vor Lachen fast vom Sofa gerutscht bin, ist der wahnwitzige Reisebericht »Wo, bitte, geht’s nach Domodossola? Ein Amerikaner entdeckt Europa« von Bill Bryson, das inzwischen in einer – wie viele Rezensenten sagen – wesentlich schlechteren Übersetzung unter dem Titel »Streifzüge durch das Abendland: Europa für Anfänger und Fortgeschrittene« neu aufgelegt wurde. Ich bin froh, ein Exemplar der ursprünglichen Auflage zu besitzen.
Eine Kostprobe? Bill Bryson besucht während Seiner Europareise auf der Hamburger Reeperbahn einen Sexshop und begutachtet das Produktangebot:

Eine andere Puppe, der man den Namen »Chinese Love Doll 980« gegeben hatte, versprach allen Ernstes eine »lebenslange Freundschaft«. Darunter stand in Fettdruck: EXTRA DICKES GUMMI. Wenn das nicht die Romantik zunichte macht! Offenbar handelte es hierbei um ein Modell für den eher praktischen Typ. Aber auch sie lockte mit Verheißungen wie: TITTEN, DIE HEISS WERDEN und RIECHT WIE EINE RICHTIGE FRAU.
All diese Versprechungen waren in den verschiedensten Sprachen abgedruckt. Interessanterweise hörten sich die deutschen Versionen allesamt derb und vulgär an, während dieselben Worte auf Spanisch sanft und romantisch klangen: ANO TENTADOR, DELICIOSA VAGINA QUE VIBRA TU ORDEN, LABIOS AMOROSOS. Man könnte sich diese Worte beinahe als Bestellung in einem Restaurant vorstellen: »Ich nehme das Ano Tentador, leicht angebraten, und eine Flasche Labios Amorosos ’88.« Auf Deutsch hörte es sich an wie der Morgenappell in einem Gefangenenlager.

Inzwischen habe ich fast alles von Bryson gelesen, durchgehend sehr lesenswert und überaus lustig, aber den hysterischen Witz dieses Werkes erreichte er kein zweites Mal.

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Foto und Retusche: © formschub

Bücherfragebogen [♂] – 06


06 Ein Buch, das du nur einmal lesen kannst
(egal, ob du es hasst oder nicht)

Trifft das nicht auf jedes Buch zu? So wie beim ersten Mal erlebt man ein Buch niemals wieder, selbst, wenn man es danach noch so oft liest: das Eintauchen in die Sprache, das allmähliche Entstehen der ersten Bilder im Kopf, die Formwerdung der Charaktere, das Gewahrwerden der Zusammenhänge, die Anteilnahme an den Gefühlen und Schicksalen der Romangestalten, die Überraschung bei unerwarteten Wendungen der Geschichte oder die verblüffende Aufklärung dunkler Verbrechen. Der Zauber der ersten Begegnung mit einem guten Buch ist unwiederholbar. Insofern habe ich all meine Bücher nur einmal zum ersten Mal gelesen, denn bei jeder erneuten Lektüre haben mich die damit verbundenen Bilder und Gefühle, und sei es verblasst, unweigerlich begleitet.

Und ich verfluche noch heute den Satan, der vor mehr als 25 Jahren auf dem Vorsatzblatt des Agatha-Christie-Krimis, den ich mir aus der Schulbibliothek lieh, unübersehbar den Namen des Mörders notiert hatte.

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Foto: © formschub

Bücherfragebogen [♂] – 07

Von heute an werde ich die Fragen in freier Reihenfolge beantworten, da ich merke, dass einige Antworten schwerer aus den Fingern fließen bzw. mehr Recherche erfordern als andere. Aber weglassen werde ich keine.

07 Ein Buch, das dich an jemanden erinnert
»Lübbes Auswahlband: Die besten englischen Schauergeschichten« (Bastei Lübbe 1981, ISBN 3404101308, vergriffen). Eigentlich ein ziemlich gewöhnliches, billiges Taschenbuch, wenngleich es einige recht gute Gruselgeschichten bekannter englischer Autoren enthält, wie z. B. Oscar Wilde, Agatha Christie, Bram Stoker oder Daphne Du Maurier, deren darin abgedruckte Kurzgeschichte »Die Vögel« durch Hitchcocks geniale Verfilmung weltberühmt wurde. Das Buch erinnert mich an meinen Vater, dem ich es frisch gekauft ausgeliehen hatte, als er zur Krebsbehandlung im Krankenhaus lag. Als ich es wiederbekam, hatte er auf dem Vorblatt handschriftlich meinen Namen in das Buch eingetragen. Dieser Namenszug ist die letzte persönliche und bleibende Erinnerung an ihn, ehe er mit 37 Jahren (ich war 14) an der Krankheit verstarb.

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Foto: © formschub