09 Das erste Buch, das du je gelesen hast
Eine nicht ganz einfache Frage, da ich nach der Erinnerung meiner Mutter bereits mit 4 Jahren selbst lesen konnte und von da an unaufhaltsam zum Bücherwurm wurde. Und das ist nun schon sehr lange her. Doch nehme ich die Frage gerne zum Anlass, die schmale Treppe auf den Gehirndachboden meiner Kindheit hochzusteigen und im flackernden Licht der Erinnerung nach dort lagernden Bücherschätzen zu suchen. Es ist dunkel hier oben, aber es ist eine heimelige Dunkelheit, warm und gemütlich, es riecht nach Staub und altem, vergilbtem Papier. Langsam gewöhnen sich meine Gedankenaugen daran. Was ich in den schattigen Winkeln als erstes erkenne, sind Bilder: Illustrationen, Zeichnungen, Figuren, Charaktere. Ich war schon immer sehr visuell veranlagt und konnte mich an optische Eindrücke (und an Gerüche) immer deutlicher erinnern als an Namen und Begriffe.
Hasen. Ich sehe Hasen, die Kleidung tragen und aufrecht gehen – wie Menschen. Ein Bilderbuch, das bis zum Jahr 2000 aufgelegt wurde und im Bücherregal meines Kinderzimmers stand, war »Ich bin der kleine Hase« mit Illustrationen von Richard Scarry. An die Geschichte erinnere ich mich nicht mehr, es ging um Jahreszeiten und der kleine Hase fiel, glaube ich, irgendwann in einen tiefen Winterschlaf (machen Hasen das eigentlich? Egal.) Wie es sich anfühlt, eine ganze Jahreszeit zu verschlafen, würde ich auch noch heute gerne noch wissen.
Das zweite Hasenbuch, das ich besaß, war das aus heutiger Sicht pädagogisch eher bedenkliche Werk »Die Häschenschule«. Die Hasenlehrer waren streng und zogen unartigen Hasenschülern zur Strafe die Ohren noch länger. Sogar einen der Verse aus dem Kontext der Züchtigungen weiß ich noch auswendig: »In den Karzer muss er nun. Ei, da kann er Buße tun!«. Der Untertitel »Ein lustiges Bilderbuch« wirkt in diesem Kontext schon fast bizarr. Meine Kerze flackert. Mich fröstelt kurz.
Hier! In der Truhe! Eine ganze Bücherserie, deren fantasievolle Geschichten komplett in Schulschreibschrift abgedruckt waren – tatsächlich aber ein Werbeprodukt: die Abenteuer von Lurchi und seinen Freunden, herausgegeben von der Schuhmarke Salamander. Wer neben der gelbschwarzen Amphibie die Freunde waren, das habe ich inzwischen vergessen. Eine Kröte, ein Igel, ein Frosch? Doch ich weiß: einmal gewann einer der Helden einen sportlichen Wettlauf, weil ihn ein Schwarm Wespen verfolgte. Zufälligerweise las ich beim Graben nach Weblinks, dass Lurchi wieder zum Leben erweckt werden soll. Vermutlich gezeichnet in zeitgemäßem Stil und ausgestattet mit Handy und iPod. Ich werde nicht nachschauen, will es nicht wissen.
Der Lichtschein meiner Kerze erfasst etwas Rotes. Es ist der Umschlag eines ebenfalls erzieherisch motivierten Buches meiner Kinderbibliothek – aus der Reihe »Carlsen Wunderbuch«: »Der Junge, der nicht essen wollte«, verfasst und bebildert von der Illustratorin Elisabeth Brozowska. Die im typischen Stil der späten Sechziger Jahre geschaffenen Bilder in diesem Buch sind mir bis heute klar im Gedächtnis geblieben und ich halte sie auch heute noch für genial. Der kleine Junge, der sich dem Essen verweigert, nimmt keineswegs ab, sondern schrumpft zum Winzling zusammen. Von der Putzfrau versehentlich aufgefegt und in die Mülltonne befördert, beginnt für ihn eine abenteuerliche Reise – natürlich eine mit Happy End. Das Buch ist damals offenbar in vielen Sprachen erschienen und der kanadische Illustrator Denis Goulet hat bei flickr ein Bilderset mit Scans der famosen Motive aus der französischsprachigen Ausgabe gepostet.
Jetzt höre ich Stimmen von unten, außerhalb des Speichers, den ich gerade erkunde. Es ist die Gegenwart, die mich zurückruft. Ich gehe die Stiege hinunter, lösche mein Licht und schließe die kleine, quietschende Tür sorgsam hinter mir ab. Den Schlüssel und die Kerze stecke ich gut verwahrt in die Tasche, denn ich werde sicher bald nachschauen, was dort oben noch alles liegt.
Der komplette Fragebogen im Überblick.
Image: © Elisabeth Brozowska | Scan courtesy of Denis Goulet