So richtig wurde ich durch die französische Schauspielerin Isabelle Huppert eigentlich erst durch einen »cinephilen« Freund aufmerksam. Sicher, ihren Namen kannte ich schon vorher und auch ein Gesicht verband ich damit. Aber dass ich mir gezielt Filme anschaute, in denen sie mitspielt, das geschah erst danach. Nicht jeder Eintrag in ihrer Filmographie ist ein Glanzstück, aber es gibt schon eine ganze Menge sehr interessanter, dramatischer, amüsanter oder bizarrer Werke. So hat mir etwa der ebenso beklemmende wie originelle Film »Elle« ausgesprochen gut gefallen, ich mochte auch die Tragikomödie »Ein Chanson für Dich«, die überdrehte Drogenposse »Eine Frau mit berauschenden Talenten« (Kopfnuss mal wieder an den deutschen Übersetzer, Originaltitel »La Daronne« [dt.: »die Alte«]), den nicht immer ganz schlüssigen, aber fesselnden Psychothriller »Greta« oder das Mutter-Tochter-Drama »I’m Not a F**king Princess«. In all diesen Filmen stiehlt Huppert ihren Schauspielkollegen in fast jeder Szene die Show und hat nie ein Problem damit, sich in der Haut ihrer Figuren bis an die Schmerzgrenze zu bewegen – in puncto Grausamkeit, Verletzlichkeit, Exzentrik oder Monstrosität. Allen obengenannten Filmen ist allerdings gemein, dass sie erst nach 2010 entstanden – ich nähere mich dem Werk der Darstellerin, die immerhin seit 1971 vor der Kamera und auf der Bühne steht, daher quasi »rückwärts«. Das hängt auch damit zusammen, dass etliche ihrer älteren Filme leider bei Streaming-Anbietern nicht oder nicht mehr angeboten werden. Gerne würde ich etwa »Heaven’s Gate« (1980) einmal sehen, »Malina« (1991) oder »Marie Curie – Forscherin mit Leidenschaft« (1997). Aber Fehlanzeige. Und auch die letzte verbliebene Videothek hier im Viertel hat solche älteren, wenig publikumswirksamen Filme leider nicht im Sortiment. Gebraucht sind ältere Filme zwar auf DVD erhältlich aber als Raritäten auch gerne etwas teurer und auf Verdacht sind mir solche Ausgaben immer etwas zu riskant.
Ab und zu jedoch springt das gute alte Fernsehen in die Bresche und wiederholt Frühwerke der Schauspielerin. In der arte-Mediathek gab es etwa vor kurzem das düstere Krimi-Melodram »Rückkehr zur Geliebten« (1979) zu sehen (dazu ein Posting bei Mastodon) und gerade gestern schaute ich dann, ebenfalls auf arte, »Die Spitzenklöpplerin« (1977), ein Drama über die erste Liebe einer schüchternen jungen Frau (Huppert war damals 24, spielt aber eine erst 18-Jährige), die an der Beendigung der Beziehung durch ihren Partner zerbricht. Kein Happy-End also. In beiden Filmen spielt sie übrigens sehr viel stillere, introvertiertere und verletzlichere Charaktere als in den später entstandenen, die ich kenne. Ich fand beide Filme sehenswert und interessant, aber gleichzeitig musste ich innerlich, selbst bei dramatischen Szenen, bisweilen schmunzeln, weil sie mir stellenweise als »typische« französische Dramen aus den 1960er bis 1980er Jahren vorkamen, deren Stilmittel und Versatzstücke sich als überspitzte Klischees sehr schön, vielleicht in einem fiktiven Kurzfilm, komprimieren ließen: Tristesse, Beziehungsprobleme, Seitensprünge, Hassliebe, Zigarettenrauchen, Paris, Melancholie, Abschiede, Gewalt, Intrigen, Psychoterror, Leidenschaft, Wechselbäder der Gefühle. Ich möchte das nachfolgend einmal beispielhaft ausprobieren:
Wir befinden uns in Paris. Der Himmel ist wolkenverhangen. Es scheint kühl zu sein, unzweifelhaft Herbst, die Menschen in der Stadt tragen warme Jacken und Mäntel und gehen mit eingezogenen Köpfen durch die Straßen. Durch das transparente Spiegelbild der Straßenlebens in der Glasscheibe eines Cafés fokussiert sich die Kamera auf eine gutaussehende, zeitlos elegant gekleidete Frau mittleren Alters, die allein vor eine Tasse Kaffee und einem Aschenbecher an einem fensternahen Tisch sitzt, raucht und nach draußen schaut. Sie blickt nach oben zum Himmel, runzelt die Stirn, schaut auf ihre Armbanduhr, winkt nach der Bedienung und zahlt. Dann schlüpft sie in ihren Mantel, nimmt ihre Handtasche und steht auf, um das Café zu verlassen. Sie tritt hinaus auf die Straße, es beginnt leicht zu regnen. Sie geht schnellen Schrittes zu einem benachbarten Zeitungskiosk und kauft sich die aktuelle Ausgabe des »Figaro«, währenddessen verstärkt sich der leichte Regen zu einem Wolkenbruch. Sie hält sich die Zeitung schützend über den Kopf und eilt zwischen den vereinzelt fahrenden Autos auf die andere Straßenseite, wo sie im überdachten Hauseingang eines kleineren Hotels Unterstand findet. Dieses Hotel scheint auch ihr Ziel zu sein, sie schaut nochmals auf ihre Uhr und blickt suchend nach links und rechts. Ein Taxi hält vor dem Eingang und ein Mann, leicht graumeliertes Haar, steigt aus, zahlt, erblickt die Frau im Hauseingang und geht auf sie zu. Sie begrüßen sich mit zwei »bises«, haken einander ein und betreten das Hotel. Die Kamera schwenkt an der Fassade des Gebäudes empor zu den oberen Stockwerken.
Schnitt. Wir befinden uns nun in einem Zimmer des Hotels. Die Frau steht rauchend am Fenster, Regentropfen rinnen an der Scheibe herab, durch den Regen sieht man von oben auf die Silhouette der Stadt. Der Mann sitzt auf einem Sessel und starrt von sich hin, beide Hände am Kinn. Die Frau zieht an ihrer Zigarette und bläst den Rauch gegen die Fensterscheibe.
Frau: (zum Mann, aber ohne sich zu ihm umzudrehen) Hast Du es ihr gesagt?
Mann: Wann hätte ich das tun sollen? Du weißt, dass ich in Marseille war.
Frau: Diesmal war es Marseille, davor war es Lyon, wieder davor war es Nizza. Du bist ein Feigling.
Mann: Aber immerhin ein Feigling, den Du liebst. Sonst wärst Du nicht hier.
Frau: Dinge ändern sich, François. Ich ändere mich. Und ich lasse mich nicht länger von Dir zum Narren halten.
Mann: Mein Gott, Francine! Du weißt, dass es zwischen mir und ihr längst aus ist. Unsere Ehe ist längst nur noch eine tote Hülle.
(Er steht aus dem Sessel auf, tritt zu ihr ans Fenster und berührt ihr rotes Kleid an ihrer Schulter)
Du weißt, dass ich Dich liebe. Und nur Dich. Genügt Dir das nicht?
Frau: (drückt energisch ihre Zigarette im Achenbecher auf der Fensterbank aus und dreht sich zu ihm um) Ich kann das nicht mehr. Wir müssen uns trennen.
Mann: (eindringlich) Francine …
Frau: Ich hätte das schon längst beenden sollen. Das alles hier. Es führt zu nichts. (Sie dreht sich wieder um und schaut zum Fenster hinaus)
Mann: (packt sie an den Schultern und dreht sie zu sich herum) Geh nicht!
Frau: Küss mich!
Beide schauen sich einige Sekunden lang intensiv in die Augen, dann umarmen und küssen sie sich leidenschaftlich. Als der Kuss endet, richtet die Frau ihr Haar und geht zu einem Stuhl, auf dem ihr Mantel und ihre Handtasche liegen. Sie nimmt beides in die Hand.
Frau: Ich werde jetzt gehen. Adieu. Und ruf mich nicht wieder an.
Mann: Francine!
Frau: Es hat keinen Sinn mehr. François. Ich dachte, es wäre Liebe zwischen uns. Aber ich habe mich geirrt. So schön es auch war. Manchmal muss man auch loslassen können. (Sie dreht sich um und geht Richtung Tür)
Mann: Ich kann ohne Dich nicht leben.
Frau: Du wirst es lernen müssen. Ich werde es lernen müssen. Es werden andere kommen und bald wirst du mich vergessen haben. (Sie öffnet, die Tür, blickt noch einmal zurück zu ihm, geht hinaus und zieht sie hinter sich zu)
Mann: (nun allein im Raum, verzweifelt Richtung Tür schreiend) FRANCINE!
Die Frau tritt unten aus dem Hotel hinaus auf die Straße. Es regnet weiterhin. Sie winkt ein Taxi zu sich heran, steigt ein und man sieht von außen, wie sie dem Fahrer stumm ihr Fahrtziel nennt. Schnitt in das Taxi. Die Frau öffnet ihre Handtasche und holt ein Foto heraus: ein unbeschwerter Urlaubsschnappschuss von ihr und François. Sie zerreißt das Foto, öffnet das Fenster, wirft die wenigen Schnipsel aus dem Fenster und schließt es wieder. Dann nimmt sie ein silbernes Etui aus der Tasche und zündet sich daraus eine Zigarette an. Sie schaut aus dem Taxi auf die draußen vorbeigleitende Stadt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Schnitt auf den Rinnstein am Straßenrand. In einer Regenpfütze schwimmen die Fotoschnipsel, der Teil mit den beiden Gesichtern der Liebenden dreht sich langsam im trüben Wasser, tropfen drücken ihn allmählich unter die Oberfläche.
Schnitt. Die Frau steht allein in ihrer Wohnung am Fenster, es ist Abend, die blaue Stunde. Sie raucht und hat ein Glas Rotwein in der Hand. Auf einem Tisch im Zimmer steht in einer Vase ein großer Strauß Rosen, noch mit Zellophan umhüllt, ein ungeöffneter Briefumschlag klebt auf der Folie. Sie leert ihr Glas »auf ex« aus, geht zum Telefon und wählt eine Nummer, die sie offenbar auswendig kann. Das Rufzeichen ertönt. Jemand nimmt ab und man hört die Stimme eines Mannes.
Stimme: Hallo? …
Frau: —
Stimme: Francine …? Francine, bist Du es?
Frau: —
Stimme: Ich liebe Dich! Ich brauche Dich! Sag etwas! Irgendwas …
(Die Frau legt auf)
– FIN –