Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Speicherkapazität meines Gehirns scheint dafür reserviert zu sein, sich komplett unnütze Dinge zu merken. Oft haben diese Erinnerungen etwas mit Sprache zu tun. So kann ich mich noch heute, nach Jahrzehnten, an Werbeslogans erinnern, die selbst im Internet bisweilen nicht (mehr) auffindbar sind, aber ich weiß, dass es sie gab. So memoriere ich zum Beispiel einen Slogan für den Kinderjoghurt »Fruchtzwerge«, der entweder vor oder nach dem Klassiker »So wertvoll wie ein kleines Steak« kurz auf Sendung war und offensichtlich den besonders erwähnenswerten Calciumgehalt der Milchspeise thematisieren sollte: »Weil Müttern gefällt, was Kinderknochen kräftig hält«. Eine Brotfirma, ich weiß nicht mehr welche, warb für kurze Zeit im Fernsehen mit einem Spruch, der bei den einkaufenden Hausfrauen (Männer kauften damals anscheinend nur als Junggesellen Brot) eventuelle Frischezweifel am eingeschweißten Industriegebäck zerstreuen sollte: »Bevor ich’s kauf, drück’ ich drauf«. Möglicherweise war dieser Slogan auch nur deshalb so kurz in Gebrauch, weil die Wegwerfrate zerdrückter, aber ungekaufter Brotpackungen in den Supermärkten daraufhin sprunghaft anstieg. Ist aber nur eine Vermutung. Und natürlich erinnere ich mich an Dutzende uralter Werbesprüche, die bei meiner Generation quasi zum Allgemeinwissen gehören »Das ist schon einen Asbach Uralt wert«, »Da weiß man, was man hat«, »Wäscht nicht nur sauber, sondern rein«, »Darauf einen Dujardin«, »Alles, was ein Bier braucht«, »Come in and find out«, »Quadratisch. Praktisch. Gut.«, »Alles Müller – oder was?« und und und …
Manche Produkte gibt’s inzwischen gar nicht mehr auf dem Markt (»Hallo, Janine D.!«), bei vielen der beworbenen Artikel gehörte ich weder zur Zielgruppe noch habe ich sie jemals gekauft (»Wer wird denn gleich in die Luft gehen?«) und trotzdem haben die Werbebotschaften einen festen Platz in meinem Kopf. Ziemlich effizientes Marketing, würde ich sagen.
Ein anderer Teil des Sprachspeichers in meinem Gehirn hingegen ist belegt mit auswendigen Sprachsouvenirs aus Filmen, Serien, Hörspielen, Lesungen oder Sketchen von und mit Prominenten. Auch hier teilen sich die erinnerten Textschnipsel in solche, die fast jeder kennt, wie etwa »Palim, palim!« (Dieter Hallervorden), »Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein!« (Loriot), »Was? Nein! Doch! Oooh …!« (Louis de Funès) und solche, an die sich womöglich außer mir nur wenige erinnern, wie »Deklinieren lernt man nicht in Diskotheken!« (Max Goldt), »Haaalooo! Ist da die Irrenanstalt?« – »Hihihi, kann schon sein …!« (aus dem Film »Im Himmel ist die Hölle los«) oder »Wissen Sie, wohin Sie gähän? Und zu wäm Sie gähän? Bleibän Sie hiiier! Noch könnän Sie zurüück … ich flähä Sie aaan!« (aus dem EUROPA-Schallplattenhörspiel »Dracula«). Millionen Neuronen, blockiert mit irgendwann mal gehörtem Zeug. Es ist unfassbar.
Die dritte Kategorie, die einen nennenswerten Anteil meiner grauen Zellen blockiert, sind Sätze, Wörter oder Unterhaltungsfragmente aus Alltagssituationen. (Mir) fremde Menschen sagen irgendwas, auf der Straße, im Zug oder im Fernsehen und mein Hirn hat nichts Besseres zu tun als zu denken »Oh, das merke ich mir mal, ab in den Langzeitspeicher damit!«. Es folgen ein paar Beispiele – und gleich das erste davon ist übrigens der Impuls für diesen Blogartikel gewesen.
Kürzlich, im ICE von Hamburg nach Berlin
Auf den beiden Sitzplätzen vor mir reisen zwei junge Frauen, geschätzt gerade noch Teenager, eventuell schon in den frühen Zwanzigern. Perfekt geschminkt, frisiert, die fast schon obligatorischen braunerbärdichten falschen Wimpern über den Lidern. Sie unterhalten sich kaum, nach geraumer Zeit trifft offensichtlich ein Anruf auf dem Handy einer der beiden ein. Man muss sich das Gedächtnisprotokokoll des Wortlauts nun vorstellen mit einer sehr genervt klingenden Singsangstimme, das »tt« in »bitte« endet dabei leicht affektiert mit einem Zischlaut:
»Jahaaaa! Was ist deeenn? Ich habe geschlafeeen!«
»…«
»Ist es wichtiiig? Ich sag’ doch: ich hab’ grad’ geschlafeeen!«
»…«
»Orrrr! Könn’ wir das bitt-e nachher besprecheeen?«
Einst im Museum für Kunst und Gewerbe
In diesem Museum gibt es eine interessante Dauerausstellung mit historischen alten Musikinstrumenten. Man kann sich diese entweder still für sich selbst anschauen oder an den gelegentlich veranstalteten Führungen teilnehmen, bei denen man neben einigen interessanten Informationen und Anekdoten rund um die Exponate, die dazugehörigen (musikalischen) Epochen, Komponisten und Musiker auch live dargebotene Hörproben auf einigen der spielbaren Instrumente dargeboten bekommt. Als ich einmal an einer dieser Führungen teilnahm, war die moderierende Person eine Frau mit einer sehr zarten, leisen und »kultiviert« klingenden Stimme. Während ihrer ausgesprochen kundigen und interessanten Ausführungen brachte sie jedoch ab und zu etwas durcheinander oder versprach sich, und immer, wenn das geschah, unterbrach sie ihren melodisch intonierten Vortrag mit einem deutlich lauteren, explosiven »QUATSCH!«, um dann sofort wieder in leiseren Tonfall zurückzufallen, sich zu korrigieren und fortzufahren. Man kann sich das ungefähr so vorstellen (da ich nicht mehr genau weiß, was die Dame wörtlich sagte, habe ich einen sinnverwandten Text bei Wikipedia zugrundegelegt):
»… Die Sinfonie Nr. 38 in D-Dur KV 504 komponierte Wolfgang Amadeus Mozart im Jahr 1786. Das Werk, bei dessen Aufführungen durch zeitgenössische Orchester oft auch ein Cembalo als Generalbass-Instrument eingesetzt wurde, trägt den Beinamen ›Wiener Sinfonie‹ … QUATSCH! … ›Prager Sinfonie‹«.
Vor Jahren, am Berliner S-Bahnhof Treptower Park
Wieder treffe ich (Fernbeziehung) aus Hamburg an der Endstation meiner Reise nach Berlin ein. Ich steige aus der S-Bahn und gehe Richtung Treppenabgang und Ausgang. Am Kopf der Treppe passiere ich ein junges Paar (m/w), beide Punks. Es gab offenbar Streit. Der Typ hält die Frau an den Schultern, schüttelt sie energisch (es wirkt etwas verzweifelt, aber nicht gewalttätig) und schreit ihr ins Gesicht »DU BIST DIT LIEBSTE, WATT ICK HABE!!!«. Es war eine der denkwürdigsten Liebeserklärungen, derer ich jemals Zeuge werden durfte.
Damals in der finnischen Sauna
In der Hamburger Ditmar-Koel-Straße, nahe den Landungsbrücken an der Elbe, haben die vier skandinavischen Seemannskirchen aus Schweden, Finnland, Norwegen und Dänemark ihren Sitz. Die zwei Besonderheiten der finnischen Kirche sind erstens ein kleiner Lebensmittelshop mit finnischen Spezialitäten und zweitens eine Sauna (!) im Untergeschoss, die gegen Eintritt für jedermann/jederfrau zugänglich ist. Bei meinem ersten Besuch dort ist unter den Gästen auch ein »waschechter«, der deutschen Sprache mächtiger Finne, mit dem ich und meine Begleitung in Smalltalk kommen. Er erzählt, die deutsche Redewendung, die ihm am besten gefiele und für die es im Finnischen keine Entsprechung gäbe, sei »Malkukken«. Er spricht dieses Wort so original finnisch aus, dass ich es seither häufiger in gesprochener (und in der o.g. Schreibweise auch schriftlich) in meinen Wortschatz übernommen habe.
Irgendwann mal im Privatfernsehen
Bei mir zu Hause auf dem Sofa. Ich zappe durch die Kanäle und bleibe bei der Reality-Show eines Privatfernsehsenders hängen (RTL?), deren Konzept es entweder zu sein scheint, dass ein nach irgendwelchen Kriterien kombiniertes und sehr auf sein Äußeres bedachtes Paar (m/w) in eine Nobelunterkunft im »sonnigen Süden« verfrachtet wird und dort unter Kamerabeobachtung eine zeitlang lebt, oder die Sendung begleitet zu Unterhaltungszwecken wohlhabende oder neureiche Paare bei der Besichtigung luxuriöser Immobilien. Als Prominente sind (für mich) beide nicht zu erkennen. Sie betreten eine unfassbar geräumige, »lichtdurchflutete« und edel eingerichtete weiß getünchte »Finca« und besichtigen die Räumlichkeiten.
Frau (beim Reinkommen): »Boah. Voll groß!«
Mann: »…«
(Sie gehen weiter ins Wohnzimmer, vor der Fensterfront eine herrliche Aussicht auf eine sonnige Landschaft mit Meer und Palmen.)
Frau: »Boah. Voll hell!«
Mann: »…«
(Das Paar geht hinaus auf die Veranda, im Garten: ein riesiger Swimmingpool.)
Frau: »Boah. Voll schön!«
Mann: »…«
Ich zappe weiter. Aber diese Szene werde ich wohl nie wieder vergessen.
Dächte ich jetzt noch eine Weile nach, fielen mir bestimmt noch haufenweise weitere Filmszenen, Alltagsbelauschungen oder Werbesprüche ein, die sich fest in meine Hirnwindungen eingebrannt haben. Einerseits frage ich mich zwar, warum ich mir sowas merke. Aber andererseits denke ich dann, würde der ganze Kram plötzlich gelöscht und der damit belegte Speicher wieder für andere Sachen freigegeben – ich wüsste, ehrlich gesagt, auf Anhieb gar nicht, was ich da reintun sollte.
Zumindest solange, bis ich mal wieder vorm Geldautomaten stehe und versuche, mich an meine Geheimzahl zu erinnern.