Kategorie: Von der Tageskarte

Kaum passiert, schon gebloggt

Jahresrückblick 2012

Über Weihnachten und Neujahr war die »To-Do-Liste« mal ein paar Tage ausgesetzt, daher schob ich diesen aufwendigeren Blogartikel bewusst etwas vor mir her. Doch da die erste Jahreswoche noch nicht rum ist, erlaube ich mir mal, etwas nachträglich Bilanz zu ziehen.

Zugenommen oder abgenommen?
Zugenommen. Egal. Ich fühl mich super.

Haare länger oder kürzer?
Gleichbleibend kurz, mit Tendenz zum Ultrakurzen.

Kurzsichtiger oder weitsichtiger?
Es mehren sich Anzeichen für eine spürbare Kurzsichtigkeit. Ein Augenarzttermin für Januar 2013 steht ganz oben auf der To-Do-Liste. Bei meiner Eitelkeit wird die Brillenauswahl sicher Wochen dauern …

Mehr Kohle oder weniger?
Weniger. Seit Januar 2012 bin ich mit zwei Partnern selbstständig, zwar mit Festgehalt, aber deutlich reduziert. Da half das Ersparte zunächst sehr, über die Runden zu kommen. Aber es geht bergauf.

Mehr ausgegeben oder weniger?
Weniger für »Zeug« wie DVDs, CDs, Technik-Gadgets, Klamotten. Mindestens genausoviel wie letztes Jahr für Essen (und Trinken), wenn nicht sogar mehr. Aber ist ja für ’nen guten Zweck …

Mehr bewegt oder weniger?
As bewegt as it gets. Gekündigt (November 2011), eine eigene Agentur gegründet. Jede Menge neue Leute kennengelernt, beruflich wie privat. Erfahrungen mit der Selbstständigkeit gesammelt. Verantwortung übernommen. Sich was getraut. Gereift. Selbstbewusster geworden. Fühlt sich gut an.

Der hirnrissigste Plan?
Einen »Plan« gab’s nicht. Trotzdem sollte man Zimmerkamine nicht unbeaufsichtigt lassen. Nicht eine Minute.

Die gefährlichste Unternehmung?
Siehe »Der hirnrissigste Plan«.

Der beste Sex?
… ist immer der, bei dem man hinterher eine Weile braucht, um rauszufinden, wo man jetzt gerade ist und was man eben kurz vorher gemacht hat.

Die teuerste Anschaffung?
Ersetze ich mal durch »Die kostspieligste Investition« – mein Anteil an der finanziellen Einlage zur eigenen GmbH.

Das leckerste Essen?

Weitere besuchenswerte Restaurants 2012:

Eigentlich schmeckt’s meistens. Besonders, wenn die Freunde auch noch alle gut kochen können.

Das beeindruckendste Buch?
Friedrich Torberg, »Die Tante Jolesch« (ein Tipp von der Kaltmamsell). Großer Spaß.
Insgesamt aber wieder viel zu wenig gelesen, meistens »häppchenlesbare« Bücher, die ich abends kurz vorm Schlafengehen nochmal zur Hand nehmen kann, etwa Max Goldts »Die Chefin verzichtet«, Gedichtbände, Bücher mit kurzen Episoden eines Autors ( 1 | 2 ) oder Anthologien.

Der ergreifendste Film?
Ich hinke ja aufgrund meiner Saalquatscherphobie dem Kinoprogramm stets leicht hinterher und schaue Filme lieber im DVD-Heimkino. Trotzdem wagte ich auch ein paar Mal den Ausflug in den Kinosaal. Auf jeden Fall war 2012 für mich das Jahr, in dem gute Serien mich mindestens ebenso sehr fesselten wie Filme.

Meine Top 3

Gutes Popcornkino

  • Planet der Affen Prevolution
  • Source Code
  • The Thing
  • Men In Black 3
  • Prometheus

Serienfavoriten

  • Breaking Bad
  • Six Feet Under
  • Walking Dead
  • Rome
  • Fringe

Die beste CD?
»50 Words for Snow« von Kate Bush, »Be Strong« von The 2 Bears, »Thousand Mile Stare« von Chicane, »Mein Herz Brennt« mit klassisch ganz famos aufbereiteten Liedern von Rammstein (sic!), »SSSS« – eine »Reunion« der Depeche-Mode Urväter Vince Clarke und Martin Gore.
Für mich neu entdeckte Künstler anhand von Einzeltiteln waren u.a. Androcell (»Neurosomatic Circuit«), Bon Iver (»Holocene«, »Flume«), FC Kahuna (»Machine Says Yes«), GusGus (»Hateful«, »Changes Come«), Index ID (»Windschatten«), Joey Fehrenbach (»Behold«), Koan (»Winged Knights«), Pomplamousse (»Bust Your Knee Caps«, »Nature Boy«), Saru (»Decompression«), Skizzy Mars (»Colours«, »Houdini«), Stempf (»Kraftfutter«), Trentemøller (»Marble Shade«, »Kink«, »Prana«, »Physical Fraction«) und Xploding Plastics (»Kissed By A Kisser«). Die verlinke ich jetzt aber nicht alle einzeln …

Das schönste Konzert?
Das Highlight 2012 war die »Parsifal«-Inszenierung von Stefan Herheim bei den Bayreuther Festspielen. Alle drei Aufzüge sind bei YouTube in voller Länge in HD verfügbar ( 1 | 2 | 3 ).

Dazu kamen die Kartengeschenke von Weihnachten 2011, die ich im letzten Jahr einlösen durfte: »Cardillac«) in der Semperoper, »Lear« in der Hamburgischen Staatsoper, zwei Konzerte in der Berliner Philharmonie (Edward Elgar: »The Dream of Gerontius« und Dmitri Schostakowitsch: »Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1«/»Symphonie Nr. 8«). Auch sehr schön: Benjamin Brittens »War Requiem« in der Marienkirche zu Lübeck und ein spätabendliches Orgelkonzert bei Kerzenlicht am 23. Dezember in der Dresdner Frauenkirche.

Die meiste Zeit verbracht mit …?
… dem Mann, guten Freunden (wie letztes Jahr) und den beiden Mitgründern der eigenen Agentur.
… dem guten Gefühl, dass mir mein Job wieder mehr Spaß macht.

Die schönste Zeit verbracht mit …?
… dem Mann und guten Freunden (wie letztes Jahr) und den beiden Mitgründern der eigenen Agentur.

Vorherrschendes Gefühl 2012?
So soll es sein, so kann es weitergehen.

2012 zum ersten Mal getan?
Eine Firma (mit)gegründet.

2012 nach langer Zeit wieder getan?
Operiert worden.

Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen?
Die Zeit von der Diagnose bis zur Operation des (letztlich gutartigen) Tumors in meinem linken Oberschenkel. Die elende Bürokratie und die immer noch laufende Klage im Rahmen meines (mit abwegigen Argumenten abgelehnten) Antrags auf Gründungszuschuss bei der Hamburger Agentur für Arbeit. Alle Begegnungen mit Menschen, deren Ignoranz, Arroganz, Egoismus, Aggression oder Trägheit mich unnötig Kraft und Lebenszeit kosten.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Ich musste eigentlich niemanden besonders nachdrücklich überzeugen, das ging fast wie von selbst.

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Offenbar die Weihnachtsgeschenke »Magischer Unterwasser-Kristallpalast« von Playmobil für meine Nichte (4) und das fernsteuerbare Playmobil Motormodul 4856 für meinen Neffen (9), wenn es danach geht, wie schnell sie das Geschenkapapier von den Kartons abfetzten und schrien »DAS HAB ICH MIR SCHON IMMER GEWÜNSCHT!«

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Die Diagnose »gutartig« (obwohl ich nicht weiß, wen ich hier als Schenkenden nennen soll).

Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
»Ich habe das Gefühl, du hast in meinen Kopf geschaut und das umgesetzt, was ich mir unausgesprochen gedacht habe.« (ein Kunde, nicht ganz wörtlich, angesichts der präsentierten Designentwürfe)
»Dann feiern Sie das heute mal richtig.« (Chefarztsekretärin nach dem telefonisch durchgegebenen negativen Befund)

Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
Kein Satz. Blicke.

2012 war mit einem Wort …?
Wendepunkt.

Jahresrueckblick_2012
Foto: © formschub

Beinkrebs

Wenn man mal einen Moment lang darüber nachdenkt, wie viel Raum Gewohnheiten und Routinen im täglichen Leben einnehmen, ist man überrascht. Kaffeekochen, Zähneputzen, Anziehen, Bettenmachen – wohl jeder Mensch hat bei diesen Tätigkeiten eine individuelle, fast unveränderliche Art, sie durchzuführen. Die Handgriffe, ihre Reihenfolge, die Bewegungsmuster. Routinen erleichtern den Alltag, weil man nicht darüber nachdenken muss, was dort gerade getan wird, oftmals so sehr, dass gleichzeitig etwas anderes erledigt werden kann, das mehr Aufmerksamkeit erfordert: Zeitung lesen etwa, oder Telefonieren. Denn der Ablauf im Hintergrund ist immer gleich. Meistens jedenfalls.

Eine meiner Routinen ist das Abtrocknen nach dem Duschen. Der Griff zum Handtuch, das immer an derselben Stelle neben der Duschkabine hängt. Zuerst die Haare durchrubbeln, dann von oben nach unten abfrottieren, nebenbei den Tag schon mal vorwegnehmen: Was liegt an? Muss eingekauft werden? Stehen Verabredungen an?

An einem Morgen diesen Jahres, Anfang August, wurde diese Routine unterbrochen. Etwas war anders. Eine kleine Stelle am linken Bein oberhalb des Knies, die unter dem Handtuch nicht nachgab, wie sonst, sondern mit einem leichten Druckschmerz dagegen hielt. »Verspannungen« dachte ich, und ging zum Tagesablauf über, ich hatte Urlaub, Zeit und Muße. Kein Grund für beunruhigende Gedanken. Die Gewohnheit, gesund zu sein. Mal eine Erkältung, gelegentlich Kopfschmerzen, selten Rückenbeschwerden. Der Körper benimmt sich.

Doch die Stelle blieb. Unverändert, nicht stärker, nicht schwächer, stemmte sich der gefühlt »mentosgroße« Fremdkörper Berührungen entgegen. »Das wird schon nichts Schlimmes sein«, sagte mein Mann, »ich hab noch nie was von Beinkrebs gehört.« Ich lachte, recht hat er. Weiter mit Urlaub.

Drei Wochen später saß ich bei meinem Hausarzt im Wartezimmer, inzwischen war das vorsichtige morgendliche Betasten schon fast eine neue Routine. Die Untersuchung ging schnell, die Diagnose – gestellt von einem jungen Arzt in Vertretung, auch Hausärzte machen mal Urlaub – klang eindeutig: höchstwahrscheinlich ein Lipom, eine harmlose Fettgeschwulst, ein rein kosmetisches Problem, haben viele, keine Sorge, kann drinbleiben, solang’s nicht stört. Vielen Dank, auf Wiedersehen.

Ich bin ein paar Tage erleichtert, dann google ich »Lipom«. Die Beschreibung passt, nur von Druckschmerz ist nicht die Rede. Ein Kollege, mit einer Ärztin verheiratet, empfiehlt mir einen Internisten. Ich vereinbare einen Termin, lege mich dort auf die Ultraschallliege, das Gel auf meinem Bein ist so kalt wie das graue Septemberwetter draußen. Der Arzt dreht den Monitor in meine Richtung. Im monochromen Pixelbrei erscheint ein Ei. »Das ist es.«, sagt der Internist, »Ungewöhnlich scharf begrenzt. Ich denke, es ist das Beste, ich überweise Sie mal zur Kernspintomographie. Mit Ultraschall kann ich das nicht klar diagnostizieren.« Trotz des Reizwortes »Kernspintomographie« bin ich nicht beunruhigt, mir sind Ärzte, die Fragen haben, lieber als selbstgerechte Halbgötter in Weiß. Ich bekomme eine Praxisempfehlung zum Doktorvater des Internisten, einem niedergelassenen Radiologen.

Keine Woche später liege ich bis zur Hüfte in einer engen Röhre und höre über einen schlechten Kopfhörer NDR Info Radio, während der Apparat, in den ich 20 Minuten lang schubweise hinein- und hinausgefahren werde, ohrenbetäubende Klickgeräusche macht, die dumpf das Radioprogramm zerhacken. Der Radiologe ist ein freundlicher Mann, er nimmt sich Zeit und zeigt mir die erstaunlich scharfen Aufnahmen meines Unterleibs, kein Vergleich mehr zu dem schwammigen Monitorbild beim Ultraschalltermin. »Sie haben Glück.« sagt er. »Mit dieser Art von Tumoren kenne ich mich aus. Darüber habe ich meine Doktorarbeit geschrieben.« Wieder bin ich erstaunt, dass mich das nun erstmals ausgesprochene Wort nicht beunruhigt, vielleicht, weil ich mich auch hier in guten Händen fühle. Es muss nichts Bösartiges sein, sagt der Arzt und erklärt mir ausführlich, was ich da im Bein habe. Ein sogenannter Stammzellentumor oder Weichteiltumor, er entsteht oft an Stellen, wo das Gewebe (etwa durch eine starke Prellung) vorangehend schon einmal traumatisiert wurde. Und es besteht immer die Möglichkeit einer »Entartung«. Doch vor einer Behandlung müsse geklärt werden, ob die Stelle im Bein die einzige im ganzen Körper sei. Ein erneuter Termin wird vereinbart, diesmal eine Thorax-Computertomographie. Nun werde ich doch etwas nachdenklicher. Ich lenke mich ab durch Arbeit und Verabredungen mit Freunden, vermeide es, die gehörten Fachbegriffe zu googeln, verdränge den Gedanken »Was, wenn …« und merke, dass die sorgenvollen Blicke derer, denen ich von meinen Arztbesuchen berichte, ihre (zweifellos aufrichtige) Anteilnahme und ihre aufmunternden Worte mehr an mir nagen als mir nützen. Ich beginne zu erahnen, dass zu viel Mitgefühl Menschen, die (ernsthaft) krank sind, auch Kraft rauben kann, statt ihnen welche zu geben.

Am Nachmittag vor der Computertomographie räume ich im Büro einen Sessel beiseite, als mir wie aus heiterem Himmel ein einzelner kupferfarbener Euro-Cent vor die Füße fällt. Ich stecke ihn in ein separates Fach meines Portemonnaies und denke noch: vielleicht ein Glückspfennig.
Die Untersuchung kurz darauf ist ohne Befund. Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie kleine Zeichen.

Nun ist klar: die Therapie geschieht operativ. Die scharfe Abgrenzung des Tumors zum benachbarten Muskelgewebe erleichtert dessen Entfernung, gleichwohl werde ich zweimal hintereinander ins Krankenhaus müssen: zuerst für eine Biopsie, um anhand der Gewebeprobe zu klären, ob der Tumor gut- oder bösartig ist und danach zur eigentlichen Entfernung. Auch der Radiologe gibt mir wieder eine Empfehlung, er verweist mich an einen von zwei Spezialisten für diese Art von Tumoren in Hamburg. Trotz der weiterhin vorhandenen Ungewissheit darüber, was da in meinem Bein wohnt, kehrt meine seltsam beruhigte Verfassung zurück. Ich bin inzwischen fast dankbar dafür.

Nach der ambulanten Biopsie darf ich schon abends mit einem 5 cm langen Schnitt wieder nach Hause. Die Gewebetypisierung, erklärte mir der etwas zerstreute, aber sehr »professorale«, mich an den Reklamearzt Dr. Best erinnernde Chirurg, sei aufgrund der anzusetzenden Zellkulturen, recht zeitaufwendig: mit etwa zwei Wochen Wartezeit müsse ich rechnen. Ich rechne und warte. Endlich kommt der Anruf aus dem Sekretariat der Klinik: der Tumor ist gutartig. »Dann feiern Sie das heute mal richtig.« sagt die Sekretärin und wir vereinbaren den endgültigen OP-Termin.

Eine runde Woche später werde ich erneut in den OP gefahren. Ich erinnere mich noch, dass ich dabei mit der Anästhesistin scherzte: »Achten Sie aber darauf, dass mir der Herr Doktor ’ne schön dezente Narbe macht.« Nach zwei Stunden erwache ich mit einem Drainageschlauch im Bein. Der Schnitt, wie ich beim ersten Verbandswechsel sehe, ist nun gut doppelt so lang. Egal. Bei einem bösartigen Tumor hätte ich durch das unabdingbare Ausräumen umgebenden Muskelgewebes eine richtige »Grube« im Bein gehabt. Was ist dagegen eine spannenlange Narbe? Ich habe kaum Schmerzen. Drei Tage später darf ich die Klinik verlassen.

Inzwischen sind die Fäden gezogen, die Wunde verheilt gut und ich bin dankbar. Dankbar, dass dieser »Kelch« an mir vorübergegangen ist. Dankbar, dass ich in der Hand guter Ärzte war. Dankbar, dass ich von Menschen umgeben war, die mit halfen und bei mir waren. Dankbar, dass mich dieses Erlebnis nachdenklicher gemacht hat. Vielleicht ist es doch kein so abwegiger Gedanke, mit Mitte 40 über ein Testament oder eine Patientenverfügung nachzudenken. Und froh darüber, rechtzeitig zum Arzt gegangen zu sein, trotz des Gedankens »Aber was, wenn es doch ,Beinkrebs‘ ist?«. Angst ist niemals gut. Sie lähmt, hemmt und schadet.

Ach, und eins noch, bevor ich wieder zur Routine übergehe:
Fröhliche Weihnachten – und bleibt gesund!

Fotos: © formschub

Ich, Du, Er, Sie, Es …

Der 1. Dezember jeden Jahres ist Welt-Aids-Tag. Viele Menschen sind von dieser schrecklichen Infektion betroffen. Und ebenfalls viele Menschen beteiligen sich daran, die Forschung, Prävention und Behandlung zu unterstützen – mit Spenden, in ihrem alltäglichen Job, durch ehrenamtliche Mitarbeit oder als Aufklärer und Botschafter.

Aber dieser Tag ist auch immer wieder ein Tag, an dem im Internet und in anderen Medien dumme, hasserfüllte, ignorante, unbedachte oder unwitzige Bemerkungen über homosexuelle und/oder HIV-infizierte Menschen aufflammen. Es ist leicht, sich über vermeintliche Minderheiten lustig zu machen oder sie zu verspotten, wenn man selbst der Meinung ist, nicht dazuzugehören. Mal angenommen, ich definiere eine Minderheit als etwa 10% der Bevölkerung.

Google, was meinst Du dazu? Hier die Antworten:

  • Jeder zehnte Deutsche hat hohe Schulden
  • Jeder zehnte Deutsche leidet an Inkontinenz
  • Jeder zehnte Deutsche liest E-Books
  • Jeder zehnte Deutsche ist behindert
  • Jeder zehnte Deutsche ist tätowiert
  • Jeder zehnte Deutsche hat schon mal sein Mobiltelefon verloren
  • Jeder zehnte Deutsche hat Angst, ausgelacht zu werden
  • Jeder zehnte Deutsche verzichtet beim Essen auf Fleisch
  • Jeder zehnte Deutsche hat eine Osteoporose
  • Jeder zehnte Deutsche hat jüdische Vorfahren
  • Jeder zehnte Deutsche ist mit seinem Sexleben unzufrieden
  • Jeder zehnte Deutsche hat eine private Krankenversicherung
  • Jeder zehnte Deutsche ist ein Zähneknirscher
  • Jeder zehnte Deutsche bestellt mindestens einmal pro Jahr bei einem Teleshoppingsender
  • Jeder zehnte Deutsche leidet unter einer sozialen Phobie
  • Jeder zehnte Deutsche hat Diabetes
  • Jeder zehnte Deutsche arbeitet schwarz
  • Jeder zehnte Deutsche leidet an einer Schlafstörung
  • Jeder zehnte Deutsche wird 100 Jahre alt
  • Jeder zehnte Deutsche verstirbt an den Folgen eines Schlaganfalles
  • Jeder zehnte Deutsche hat eine Allergie
  • Jeder zehnte Deutsche ist schon einmal aufgrund von Nachbarschaftsstreit umgezogen
  • Jeder zehnte Deutsche hat Potenzprobleme
  • Jeder zehnte Deutsche hat Probleme mit seinen Gelenken
  • Jeder zehnte Deutsche hat bereits schon eine oder mehrere Schönheits-OPs hinter sich

Jetzt möge mal jeder in die Liste schauen, ob er oder sie sich dort wiederfindet. Und falls ja, dann seid Ihr tatsächlich auch eine Minderheit. Wir alle sind Minderheiten. Das kann sehr schön sein, wenn man sich gegenseitig unterstützt, hilft und miteinander solidarisiert. Denkt mal drüber nach.


Foto: © formschub

Post von der Bahn

Rund sechs Wochen ist es her, dass ich hier im Blog von einem aus meiner Sicht bedenklichen Wortwechsel berichtete, der auf einer Bahnreise zwischen einem schwarzen Fahrgast und einem Zugbegleiter erfolgte. Die Resonanz bei den Leserzahlen und Kommentaren war – für meine Verhältnisse – enorm: über 6.000 Besucher lasen den Blogbeitrag und hinterließen fast 50 Kommentare, 243mal wurde der Beitrag bei Twitter verlinkt. Das »Netzrauschen« war immerhin so groß, dass noch am selben Abend der Twitteraccount der Bahn (@DB_Bahn) von sich aus Kontakt mit mir aufnahm und um eine detaillierte Schilderung des Geschehens bat. Da ich mir alle Orte, Zeiten und Namen notiert hatte, kam ich dieser Bitte gerne nach.

Rund zwei Wochen später wurde ich von einem freundlichen Mitarbeiter aus dem Callcenter »Zentraler Kundendialog, Vorstandsangelegenheiten« kontaktiert und über die weiteren Schritte der Bahn in dieser Sache unterrichtet. Ich betonte in diesem Gespräch auch, dass mir keinesfalls daran gelegen sei, dem betreffenden Zugbegleiter persönlich zu schaden, sondern auf den Vorfall als solchen hinzuweisen, um derartige Verfehlungen, auch durch andere Mitarbeiter, künftig zu vermeiden.

Inzwischen wurde der Sachverhalt untersucht und seitens der Bahn, wie ich finde, angemessen darauf reagiert. Nach einem erneuten Anruf aus dem Callcenter zum Abschluss der Angelegenheit erhielt ich nun vor zwei Wochen die nachfolgende E-Mail. Ich veröffentliche sie erst jetzt, da ich zuvor um die Genehmigung bitten wollte, den Wortlaut hier im Blog zu veröffentlichen:

Sehr geehrter Herr Pfeiffer,

vielen Dank für Ihre Nachricht und die freundlichen Telefonate.

Für Ihre ausführliche Schilderung zu Ihren Erlebnissen im IC 2327 am 29. September danke ich Ihnen sehr.

Das Geschehene können wir leider nicht mehr rückgängig machen. Das Verhalten unseres Mitarbeiters bedauere ich sehr und bitte im Namen der Deutschen Bahn AG, das Verhalten unseres Zugbegleiters ausdrücklich zu entschuldigen.

Mit dem Mitarbeiter wurde ein ernstes Gespräch geführt. Er hat dabei sein Bedauern über das eigene Verhalten und die ungebührliche Wortwahl zum Ausdruck gebracht. Der Mitarbeiter erläuterte, dass er zu keinem Zeitpunkt den betreffenden Fahrgast zu beleidigen oder zu diskriminieren beabsichtigte. Vielmehr verfolgte er laut eigener Aussage die Absicht, den Fahrgast durch einen lockeren Spruch aufzuheitern. Die Außenwirkung seiner Aussagen sei ihm während der Fahrt nicht bewusst geworden.

Wir haben den Mitarbeiter im Zuge des Gesprächs eindringlich darauf hingewiesen, dass sein Verhalten nicht zu akzeptieren sei. Dabei wurde ihm vor Augen geführt, dass wir von unseren Mitarbeitern ein stets zuvorkommendes und respektvolles Verhalten gegenüber unseren Fahrgästen erwarten.

Sehr geehrter Herr Pfeiffer, Ihnen wünschen wir zukünftig angenehmes Reisen in unseren Zügen.

Mit freundlichen Grüßen

i.A. ████████████
Deutsche Bahn AG
Zentraler Kundendialog
Vorstandsangelegenheiten

Auch ich betrachte den Vorfall damit als abgeschlossen und hoffe, dass ich damit ein bisschen dazu beitragen konnte, für Bahnkunden aller Nationen, Religionen und Hautfarben ihre Reisen, von wo auch immer wohin auch immer, etwas angenehmer zu machen.

Der Rest von Hamburg: Barmbek-Nord

Der geschätzte Herr Buddenbohm setzt gerade eine Bloglawine in Gang, in der – zuerst nur Hamburger, aber allmählich die halbe Republik – aus ihrem Stadtteilnähkästchen plaudern. Das inspiriert. Voilà:

Als ich Anfang 1995 von Hildesheim nach Hamburg zog, musste alles ruckzuck gehen. Ich hatte nach meinem Studium gerade mal auf eine einzige Stellenanzeige geantwortet und sofort ein Vorstellungsgespräch, dann wenige Tage darauf die Zusage bekommen. Nur wenige Wochen später sollte ich in der großen Stadt meinen Job als »Junior-AD« in einer kleinen Werbeagentur beginnen. Wohnungen waren knapp und teuer zu dieser Zeit, und so blieb mir nichts anderes übrig, als die erstbeste bezahlbare zu nehmen. In Wandsbek, in einem Hochhaus mit 64 Ein-Zimmer-Appartments am Eichtalpark, die 36-Quadratmeter-Wohnung kostete 960 Mark warm, teurer als die 100 Quadratmeter der elterlichen Wohnung, aus der ich damals auszog. Aber hey, es war Hamburg!

Viereinhalb Jahre lang kam ich mit dem begrenzten Platz aus, den meine erste Unterkunft mir bot, dann hatte ich genug von dem fensterlosen altrosa gekachelten Bad, der knapp 2 Quadratmeter kleinen Küche, dem Einbauschrank im Flur und dem nur meterbreiten Bett in der Wohnzimmernische. Glücklicherweise entspannte sich gerade der Wohnungsmarkt wieder und ich machte mich mit den inzwischen erworbenen Kenntnissen über die Hamburger Stadtteile auf die Suche.

Winterhude hätte mir gefallen, oder Uhlenhorst, Altbau, 50 bis 60 Quadratmeter, mit Dielenboden und einem schönen, großen Duschbad. Ich durchkämmte die Wohnungsangebote und besichtigte die angepriesenen Objekte: Wohnungen, bei denen »Altbau« eher den Zustand als die Kategorie bezeichnete, Bäder mit brotscheibenkleinen Waschbecken (Borgweg), Wohnzimmer mit in Armlänge vor dem Fenster verlaufenden Hochbahntrassen (Mundsburg), eine coole, aber leider renovierungsbedürftige Loftwohnung (Hasselbrook), im Billig-Baumarktschick totrenovierte Räume (Eilbek) und Neubauwohnungen mit wellenschlagendem Teppichboden (Schnelsen). Ein paar Schmuckstücke waren schon dabei, aber ich merkte auch, dass je nach Stadtteil bis zu 30% »Prestigezuschlag« auf die Kaltmiete anfielen, wenn die Wohnung in einem besser beleumundeten oder besonders begehrten Stadtviertel lag.

Und dann besichtigte ich eine Wohnung in Barmbek-Nord, einem mir bis dahin völlig unbekannten Stadtteil, nicht weit von der Fuhlsbütteler Straße entfernt. Hier haben die Straßen Vogelnamen, es gibt die Habicht-, Drossel, Schwalben-, Star- und Wachtelstraße. Die besichtigte Wohnung war frisch renoviert, hatte honiggoldene, quietschende Dielen, eine nagelneue Einbauküche, einen kleinen gemauerten Balkon – und als ich das neu gekachelte, helle Bad mit Badewanne und Duschkabine betrat, war es um mich geschehen. Ich hatte mich verliebt! Wo die Wohnung lag, war auf einmal nicht mehr so wichtig. Und ich bekam den Zuschlag!

Seit 13 Jahren bin ich nun Nord-Barmbeker und habe den Stadtteil und seine Bewohner schnell kennen und schätzen gelernt. Obwohl ich »Werber« bin, mag ich Menschen am liebsten, von denen noch etwas übrigbleibt, wenn man ihr Geld, ihren Besitz, ihren Job und ihren Status von ihnen subtrahiert. Mich befremden graulanghaarige, solariumgegerbte Männer mit Zigarren in röhrenden Sportwagen und riesensonnenbebrillte Frauen, die für 5.000 Euro Kleidung und Accessoires am Körper tragen, aber so dünn sind, dass man ihnen Geld für ein Brötchen zustecken möchte. Ich schätze Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Authentizität und bin der Meinung, das habe ich hier gefunden.

Die Nord-Barmbeker verstellen sich nicht. Schon kurz nach meinem Einzug, als ich beim Metzger Göpp an der Ecke fürs spontane Wohnungs-Einweihungs-Brunch eine Aufschnittplatte ordern wollte, schnell, nichts Großes, bloß keine Umstände, ein Klumpen Mett und etwas Wurst und Käse, wies mich Frau Göpp energisch zurecht: »Also, entweder wir machen das hier richtig, oder gar nicht!«. Von da an hatte ich Barmbek ins Herz geschlossen.

Hier ist Multikulti, aber gut gemischt: Afrika, Indien, Orient, Asien. In der Nähe der Fuhlsbütteler Straße habe ich in einem Fußwegradius von nur 5 Minuten alles, was ich im Alltag brauche: Apotheken, Metzger, Bäckereien, Supermärkte, Drogeriemärkte, ein Asia-Shop, ein Fischgeschäft, eine Postfiliale, Blumenläden, Handyshops, Fahrrad- und Buchhändler, Videotheken, Optiker, Banken und Discounter. Es gibt indische, italienische, asiatische und griechische Restaurants, Kneipen, Imbisse und Cafés. Einige Läden haben bis 22 Uhr geöffnet. Ich fahre 10 Minuten zur Arbeit, mit dem Fahrrad sind es 15. Ich kann zu Fuß in den Stadtpark gehen, bin im Nu an einem S-/U-Bahnhof, dessen Linien fast die ganze Innenstadt abdecken, zum Flughafen ist es ein Katzensprung, der Nachtbus vom Rathausmarkt hält quasi vor der Haustür.

Was will ich in St. Pauli, in Eimsbüttel, in Eppendorf? Barmbek-Nord ist das, was Helvetica und Arial bei den Schriften sind, es ist der mittelalte Gouda unter den Hamburger Stadtteilen, die Jeans, das Graubrot, der Opel Astra. Ehrlich, gut, robust.

Ich fühl mich wohl hier.


Foto: © Sven Sommerfeld | www.midairpublications.de

Tapetenwechsel

Schon lange hatte ich mir mal wieder ein Blog-Update vorgenommen, aber das ist ja immer mit Arbeit verbunden. Die bisherige WordPress-Version 2.8.4 war längst veraltet, das dafür genutzte Theme »Renegade« wahrscheinlich inkompatibel, ganz zu schweigen von den PlugIns. Auch Horrormeldungen über korrupte Datenbanken und Contentverluste nach WordPress-Updates ließen mich zögern.

Doch gestern war es soweit. Backup, Theme-Recherche, Update auf WordPress 3.4.2, PlugIn-Aktualisierung, Auswahl und Einbindung der Google Webfonts Glegoo und Noticia Text, Theme-Anpassung. Keine Probleme. Direkt unheimlich. Ein paar Handgriffe noch bei Designdetails und Übersetzungen der Textbausteine im Backend, aber sonst – fertig. Und als Bonus ist mein Blog nun außerdem responsive.

Ich freu mich. Meine Leser hoffentlich auch.


Photo: © mag3737 | Some rights reserved

Veronika, ein ganzes Jahr

Wer kennt es nicht, das berühmte Lied der Comedian Harmonists mit den eindeutig zweideutigen Textanspielungen?

Dass der Frühling die Säfte sprießen lässt, ist allgemein bekannt. Der Herbst hingegen bringt sie zum Versiegen, er macht die Tage kürzer, dunkler und die Stimmung trüber, zeigt seine triste Seite abseits des »Rilkescheiß«, wie Bosch treffend schreibt. Was, wenn die Comedian Harmonists auch davon gesungen hätten? Das war der Gedanke, der mich zu dem obigen Tweet inspirierte. Und weil ich das Jahr gerne voll machen wollte, kommen nun auch noch der Sommer und der Winter dazu, ebenfalls besungen von missgelaunten Verächtern dieser Jahreszeiten. Die Melodie kennt Ihr ja …

Veronika, der Lenz ist da,
die Mädchen singen ›tralala‹,
die ganze Welt ist wie verhext,
Veronika, der Spargel wächst.

Veronika, der Sommer naht,
beim Dresscode wird an Stoff gespart,
die ganze Welt ist schweißglasiert,
Veronika, mein Blut geliert.

Veronika, der Herbst ist da,
im Hirn spinnt die Amygdala,
die ganze Welt ist trist und leer,
Veronika, ich will nicht mehr.

Veronika, der Winter dräut,
wie hass’ ich Frost und Weihnachtzeit,
die ganze Welt ist kalt und weiß,
Veronika, mach Glühwein heiß.

Sad_Cereals
Photo: former Flickr user Cali4beach | Some rights reserved