Ich sitze zu Hause auf dem Sofa und bestelle online Weihnachtsgeschenke. Am vergangenen Wochenende war ich in der Stadt und versuchte, ein paar Besorgungen offline zu machen, doch es war wenig erbaulich. Überall Menschen, dicht gedrängt, ungeduldig, ellbogig, genervt, lärmend, lästig. Auch in den Geschäften wurde ich bei den gesuchten Präsenten nicht fündig. Gibtsnich, hamwanich, ausverkauft, zu teuer, zu klein, zu groß, zu anders. Nach zwei Stunden brach ich den Konsumausflug ab.
Wie ich es vor dem Internet geschafft und erduldet habe, Jahr für Jahr in solchem Gewimmel meine Bescherungsbesorgungen zu machen – es ist mir ein Rätsel. Einer GfK-Studie zufolge geben dieses Jahr 92% der Deutschen im Schnitt 241 Euro für Weihnachtsgeschenke aus.
Es sind nicht viele Menschen, die ich beschenken werde und möchte. Meine Großeltern und mein Vater leben nicht mehr, der Kontakt zu Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen oder gar weiter entfernten Verwandten ist spätestens seit Beginn meines Berufslebens, dem damit verbundenen Umzug nach Hamburg und dem Verbleib von Familienfeiern nahezu eingeschlafen. Doch der engste Beziehungskreis aus Partner, Familie und lieben Freunden ist wohl gepflegt, dort macht mir das Schenken Spaß. Kein Zwang, kein Geschenkewettrüsten. So soll es sein.
Während ich nach Geschenkideen google, Produkte vergleiche und meinen virtuellen Warenkorb bestücke, muss ich an ein ganz besonderes Weihnachtsfest denken. Es muss 1978 gewesen sein, da war ich elf Jahre alt und unsere Familie lebte damals in Nigeria. Mein Vater hatte sich in den Siebziger Jahren zwei Mal bewusst – in Übereinkunft mit meiner Mutter – eine Arbeitstelle im Ausland gesucht. Deutsches Know-how war gefragt, es wurde gut bezahlt und man sah etwas von der Welt. Länder wie Algerien (unser erster Auslandswohnsitz) und Nigeria, die heute von Aufruhr, politischer Instabilität oder islamistischen Tendenzen betroffen sind, waren für europäische Familien durchaus bewohnbar, wenn auch in firmeneigenen, aber keineswegs abgeschotteten Wohnanlagen. Ich ging dort mit den Kindern der Arbeitskollegen meines Vaters zur Schule, machte mit den Eltern auf den Märkten und in den Geschäften die täglichen Einkäufe und lernte neue Freunde kennen. Es war Alltag in einem Land, wo manche Urlaub machten.
Aber natürlich war vieles auch anders. Wir hatten zwar eine Ananaspflanze, einen Papayabaum, Bananenpalmen und Zuckerrohr im Garten, aber es gab keine Äpfel – in keinem Laden. Wir hatten keinen Fernseher, zwei Jahre lang. Die Kollegenfamilie, im Haus über uns, hatte einen der ersten Videorecorder, doch das Angebot an (kindertauglichen) Filmen war sehr begrenzt. Wir lasen, spielten draußen, besuchten Freunde, statt fernzusehen. Es war heiß und feucht, oft fiel der Strom und damit die Klimaanlagen in der Wohnung aus, was besonders nachts, bei Temperaturen noch über 25 °C, das Schlafen durchaus erschweren konnte. Draußen gab es Vogelspinnen und Schlangen (selten), riesige Tausendfüßler, gigantische Schmetterlinge und Eidechsen, Gottesanbeterinnen, überdimensionale Kakerlaken und anderthalb Zentimeter große Ameisen. Es gab unglaublich frischen Fisch: Makrelen, Barracudas, Garnelen und Blue Marlin. Aber es gab kein Schweinefleisch, kein Nutella, keine Yps-Hefte. Mortadella und andere Wurst waren manchmal in Dosen erhältlich, Käse nur als Schmelzkäseecken. Was es nicht gab und was haltbar war, konnten wir bei den halbjährlichen Heimflügen in tragbaren Mengen selbst importieren. Auf alles andere hieß es schlicht zu verzichten.
Etwas Schönes, das wir dort hatten, war ein kleines, rot-weißes Motorboot. Es gehörte uns und der erwähnten Kollegenfamilie gemeinsam und am Wochenende fuhren wir damit meist durch die Küstenlagunen und aufs Meer hinaus. Manchmal richtig weit, so dass ich das Land am Horizont kaum noch sah. Nicht immer waren beide Familien vollzählig an Bord, es kam auch vor, dass die Mütter und einige der Kinder am Strand blieben, wo das Boot im seichten Wasser gut anlegen konnte. Oft fuhren auch nur die beiden »Papas« zum Angeln raus aufs Meer und brachten abends von dort stattliche Fische zurück.
Auf einer der Bootstouren, es war kurz vor Weihnachten, aber in Äquatornähe nach wie vor tropisch warm, begegneten wir weit draußen auf dem Meer einem großen, dort ankernden Frachter. An der Reling standen Mitglieder der Besatzung, sie riefen und winkten. Wir näherten uns dem Schiff und die Väter verstanden irgendwann, dass die Funkanlage des unter Schweizer Flagge (sic!) fahrenden Schiffes ausgefallen und somit keine Verbindung zu Lotsen möglich war, die es sicher in den Hafen führen konnten. Man fragte uns, ob wir nicht als Kurier einspringen wollten. Und so fuhr unser kleines Motorboot nach Erhalt der entsprechenden Instruktionen los, Richtung Küste, um dort Meldung zu machen. Als wir später zum Schiff zurückkamen, um das nahende Geleit zu verkünden, warf uns ein Matrose zum Dank aus einer stählernen Luke, nicht weit über dem Wasser, einen großen Plastiksack zu. Darin: eine dicke, mit leuchtendrotem Wachs überzogene Käsekugel – und eine Menge knackig-grüner Äpfel. Käse! Äpfel! Was für ein aufregender Tag! Was für ein besonderer Dank.
Am Weihnachtsabend, kurz darauf, unter unserem tropentauglichen künstlichen Tannenbaum, dort lagen sie dann. Die Äpfel. Ich bekam auch einen Legokasten, aber ich habe schon lange vergessen, was man daraus bauen konnte. Aber an die Äpfel, an die frischen, gelbgrünen Äpfel, an die erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen.
Ich bin nicht traurig, dass ich als Kind ein paar Jahre lang auf einiges vermeintlich Selbstverständliche verzichten musste. Ich bin dankbar, dass ich den Wert solcher Dinge – und auch den von (Weihnachts)geschenken – anders zu schätzen gelernt habe.
Das Boot. Die Äpfel. Und ich.
Fotos: © formschub