Kategorie: Von der Tageskarte

Kaum passiert, schon gebloggt

Nölplattformen

Bewertungen im Internet sind eine tolle Sache. Endlich haben Verbraucher eine Stimme! Fast ungefiltert und in Echtzeit kann jeder mit Internetzugang mittels Mundpropaganda (nicht zu verwechseln mit Mund-zu-Mund-Beatmung!) Produkte und Dienstleistungen empfehlen oder verteufeln. Davon profitieren alle! Die Suchenden werden sowohl mit Tipps und guten Erfahrungen auf die richtige Fährte gesetzt als auch durch Warnungen und fundierte Kritik vor Enttäuschungen gewarnt.

Wenn’s denn so wäre. Denn immer wieder finden sich in den Userkommentaren zu Firmen, Produkten oder Dienstleistungen vereinzelt Einträge, die in mir eine der Urfragen der Menschheit neu aufwerfen: Woher kommt der Mensch? Was will er von mir? Und warum schreibt er sowas?

Ich habe selbst schon beste Erfahrungen mit Qype-Rezensionen gemacht (Update: Qype wurde nach einiger Zeit assimiliert vom Konkurrenzportal Yelp). Und ich amüsiere mich über Spaßrezensionen wie beim schon legendären Amazon-Allmachtstaschenmesser. Aber jenseits dessen beginnt die Twilight Zone der Nutzerbewertungen, in der Menschen u.a. mit der Fähigkeit leben, Dinge zu bewerten, die sie gar nicht richtig genutzt haben. Die Bewertungen verfassen, die mit dem getesteten Ding oder seiner bestimmungsgemäßen Nutzung rein gar nichts zu tun haben.

Drei Beispiele. Suche ich z.B. bei Qype nach Bewertungen für Restaurants, die ich selbst oft und gerne besuche, stoße ich u.a. auf Folgendes:

»Wir haben hier nicht übernachtet und auch nicht wirklich richtig gegessen, eigentlich kann ich recht wenig sagen.«
– Bewertung: ★★★✩✩
User kitchenhero zum Mövenpick Hotel Hamburg Sternschanze

»Ich nehme mir Gänsebraten (frühmorgens!), Salzkartoffeln und Rotkohl, schliesslich ist (bald) Weihnachten. Später noch einmal Nachschlag, das ist erlaubt. Noch den ganzen Tag werde ich später daran erinnert, dass derartige Gerichte mit viel Fett (Gänseschmalz) zubereitet werden. Nach einem guten Gänsebraten muss man den ganzen Tag aufstoßen vom vielen Fett und das hat immer so einen öldichten Nachgeschmack.«
– Bewertung: ★★✩✩✩
User Thomas Go… zum Brauhaus Rixdorf, Berlin (inzwischen geschlossen)

»Ich mag es nicht, wenn in einem Restaurant grundsätzlich alle Tische vorreserviert sind.«
– Bewertung: ★✩✩✩✩
User annshee zur Trattoria Libau, Berlin (noch ohne Website)

Da könnte man sich schon fast einen Spaß draus machen, sich einige kausal ähnlich gelagerte Bewertungszitate auszudenken – etwa für Amazon-Produkte – und die Leser raten zu lassen, ob auch echte dabei sind oder nicht …

  1. »Ein Vorteil hat das Gerät, es ist Robust, als ich es vor kurzem vor Wut gegen die Wand gepfeffert habe ist nix kaputt gegangen.«
  2. »Leider konnte ich das eingeschweißte Produkt nicht öffnen, da ich eine Zellophanallergie habe.«
  3. »Das Buch hat sehr viele Seiten und wird leider nicht durch Bilder aufgelockert, damit sich die Augen mal etwas ausruhen können.«
  4. »Das Produkt ist genauso nutzvoll wie Scheiße unterm Schuh. Mehr braucht man dazu nicht mehr sagen …«
  5. »Ich hasse Rezensionen, die gemacht werden, bevor ein Spiel auf den Markt ist. Um so paradoxer ist es, dass ich gerade eben dies gerade tue.«
  6. »Leider kann ich mich den meisten anderen Rezessionen nicht anschließen.«
  7. »Der Schreibstil dieses Buches ist sehr primitiv. Alle Sätze sind sehr kurz gefasst. Nicht empfehlenswert.«
  8. »Meine Nachbarn haben die DVD gekauft und ich muss sagen, die Bässe bei den Explosionen sind viel zu laut eingestellt.«
  9. »Ich konnte zu keiner der in der Handlung vorkommenden Personen eine Beziehung aufbauen.«
  10. »Der Postbote, der das Paket brachte war sehr ungepflegt und hatte mundgeruch.«
  11. »Ich habe die DVD nicht angesehn, werde sie mir auch nicht kaufen, aber möchte trotzdem eine gutgemeinte Warnung aussprechen: Finger weg.«
  12. »Das Cover ist ansprechend, der Klappentext auch. Der Rest, naja.«

(Auflösung: die Zitate 2, 3, 8 und 10 sind frei erfunden.)

Facepalm_Skulptur
Photo: © cesarastudillo | Some rights reserved

Klare Ansage

Durch Zufall bin ich dieser Tage mal wieder auf ein paar sehr gelungene legale Freefonts gestoßen, die ich den Schriftfreunden unter meinen Lesern nicht vorenthalten möchte. Alle vier folgen dem ungebrochen aktuellen Trend zu klaren Fonts mit irgendwie »skandinavischer« Anmutung und damit auch meinen ganz persönlichen Fontvorlieben:

Die im Moskauer Fontstudio Cyreal entstandene Artifica erfreut das Auge nicht nur mit einem klaren, offenen Schriftbild, sondern auch mit ihrer harmonischen Verbindung aus Druck- und Handschriftduktus und zahlreichen originellen Details, wie etwa dem nach rechts tretenden »Füßchen« am Versal-A.

Die Banda von Typedepot in Sofia, Bulgarien, erinnert mit ihren voluminösen Minuskeln und kleinen Ober- und Unterlängen u.A. an Museo oder Neuzeit Grotesk, besitzt aber durch die kleinen organischen Schlenker in ihren An-/Abstrichen ein emotionaleres Gesicht.

Die Collator soll laut ihrem Entwerfer, dem in Kanada lebenden Gestalter Vince Lo, eine formale Brücke zwischen asiatischen und lateinischen Schriftzeichen schlagen, was auch gelingt. Doch auch bei ihr findet man Anklänge an derzeit populäre, kantig-organische Fonts wie Klavika, Neo Sans (Hausschrift Kabel 1) oder den exklusiven Corporate Font der dänischen Supermarktkette Super Brugsen. Besonders angetan hat es mir mal wieder das kleine »g«. I love it.

Die Play des Kopenhagener Schriftenbüros Playtype erinnert etwas an den Schriftzug der Sony PlayStation, vielleicht rührt daher der Name. Was ich an ihr mag, ist der gelungene Einklang von sympathischer Offenheit und rechteckigen Formen, was sie für mich zu einer sehr schönen Alternative zur inzwischen ziemlich ausgelutschten Eurostile macht.

Update: Artifika und Play sind übrigens inzwischen auch bei Google web fonts für die Darstellung auf Webseiten verfügbar.

Fontsample_07-2011

Man sieht: auch in (Ost)europa tut sich was in Sachen Typedesign.

Bücherfragebogen [♂] – 20

20 Das beste Buch, das du während der Schulzeit als Lektüre gelesen hast
Die Paarung der Wörter »Lektüre« und »Schulzeit« ruft bei mir oft wenig erbauliche Erinnerungen hervor. Das Lesenmüssen von als öde oder unergiebig empfundenen Texten – und die meist folgenden Klausuren darüber – ließ mich so manche Unterrichtsstunde verfluchen.

Ich gähnte bei Siegfried Lenz (»Das Feuerschiff«), Max Frisch (»Homo Faber«) und Bertolt Brecht (»Der gute Mensch von Sezuan«). Erweckend hingegend fand ich viele Kurzgeschichten, etwa von Heinrich Böll (»Es wird etwas geschehen«), Friedrich Dürrenmatt (»Der Tunnel«), Marie Luise Kaschnitz (»Das dicke Kind«) oder die Lektüren im Englischkurs, beispielsweise von Nevil Shute (»On the Beach«), Bram Stoker (»Dracula«) und Aldous Huxley (»Brave New World«).

Eine der typischen Darreichungsformen der Schullektüre waren und sind bis heute die kanariengelben Reclam-Heftchen, die nicht nur aufgrund ihrer handlichen Größe, sondern auch der kleinen Preise wegen sehr schülerkompatibel sind. Aus dieser Verlagsbibliothek stammte auch meine Lieblingslektüre: »Das Fräulein von Scuderi« von Ernst Theodor Amadeus (E. T. A.) Hoffmann. Es geht um ein miss-marple-esques Edelfräulein, hilfreiche Mätressen, rätselhafte Morde, wertvolle Juwelen, mysteriöse Intrigen und eine junge Liebe im Paris des Jahres 1680. Hach! Von Anfang an funkelt Hoffmanns Sprache wie die Schmuckstücke, die das Motiv der geheimnisvollen Mordserie der Erzählung zu sein scheinen:

Die Sonne schien hell durch die Fenstergardinen von hochroter Seide, und so kam es, dass die Brillanten, welche auf dem Tische neben dem offenen Kästchen lagen, in rötlichem Schimmer aufblitzten. Hinblickend verhüllte die Scuderi voll Entsetzen das Gesicht, und befahl der Martiniere, das fürchterliche Geschmeide, an dem das Blut der Ermordeten klebe, augenblicklich fortzuschaffen.

Die Lösung des Rätsels werde ich hier nicht verkünden, nur soviel, dass in der Psychologie in Anlehnung an diese Novelle der Begriff des Cardillac-Syndroms (Spoiler!) entstand, das wohl jedem Künstler bekannt ist, der von Hand geschaffene Unikate kreiert.

Dass E. T. A. Hoffmann ein talentierter Schriftsteller war, ist allgemein bekannt. Dass er sich zudem schon lange vor dem Schreiben auch als Komponist klassischer Musik sowie als Zeichner hervortat, weniger. Auf dem YouTube-Kanal MaiwaldBroadcast z.B. sind einige Stücke eingestellt, die einen kleinen Einblick in Hoffmanns musikalische Begabung verschaffen. Ein Multitalent.

Der komplette Fragebogen im Überblick.

Books_20
Foto: © formschub

Pasta mit Avocadopesto (Remix)

Eine der interessantesten Facetten von Foodblogs ist für mich, mitzuerleben und nachlesen zu können, wie gebloggte Rezepte auf vielerlei Art variiert, verbessert, verändert oder verfeinert werden. Ob es die Wasser-, Mehl- und Hefemengen bei Broten sind, die austariert werden, bis Kruste und Krume perfekt gelingen, ob aufgrund von Allergien oder Aversionen gegen bestimmte Zutaten interessante Alternativen entstehen oder einfach aus Freude am Ausprobieren und Improvisieren sich neue Ingredienzen oder Gewürze »einmischen«. Wer will, kann meist mit den genannten Links die Geschichte der Rezept-Remixe ergründen – oder man benügt sich mit der angeklickten Version und experimentiert selber weiter.

Als ich in Anke Gröners Blog von Tortiglioni mit Avocadopesto las – ein Rezept, das sie ihrerseits bereits variierte – spitzten sich meine Geschmacksknospen. Avocado kannte ich als kalte Salat- und Fingerfoodzutat, aber in einer Nudelsauce genoss ich sie noch nie. Da mich Avocado sehr schnell sättigt, versuche ich mit meiner Variante, das Rezept etwas leichter zu machen. Mit Blick auf das triste Grau vor dem Fenster sage ich bewusst nicht »sommerlich«, aber man kann sich den Sommer auch einfach schönessen …

Zutaten
für 2 Portionen


250 g Pasta (ich wählte kurze gewellte Reginette)
1 Avocado
5 kleine Cherry- oder Rispentomaten*
1/2 Knoblauchzehe* (weniger als in der Rezeptvorlage)
1 Handvoll Pecannusskerne* (weniger herb als Walnüsse)
2 Zweige Thymian
3 EL Zitronensaft*
ein Schuss Oliven-* oder Rapsöl
etwas gehobelter Parmesan*
Salz, Pfeffer

(ein * kennzeichnet die Variationen)

Die Tomaten entkernen und in kleine Würfel schneiden. Knoblauch kleinhacken, Thymianblättchen von den Stielen zupfen und die Avocado in kleinen Stücken aus der Schale lösen (z. B. mit einem Grapefruitlöffel).

Avocado, Knoblauch, Nüsse, Thymian, Zitronensaft, Öl, Salz und Pfeffer im Mixbecher pürieren. Die Tomatenwürfel entweder unterheben oder bis kurz vor dem Anrichten aufheben. Nudeln al dente kochen und abgießen. Portionsweise Nudeln mit Pesto (plus Tomaten) auf Tellern anrichten und mit einigen Parmesanspänen bestreuen.

Pasta_Avocado
Foto: © formschub

Lachsburger Royal

Heute war mir nach einem Luxusburger. Die Kombination der Zutaten ist frei improvisiert, das Ergebnis war ausgesprochen schmackhaft. Es heißt ja, man sollte sich jeden Tag mindestens einmal etwas Gutes gönnen. Für heute: check!

Zutaten
für eine Portion:

1 großes dunkles Brötchen, z.B. Roggen oder Vollkorn
2 EL Frischkäse
1 Handvoll Rucola
1 ca. 4 mm dicke Scheibe aus einer Fenchelknolle
2 Scheiben Tomate
2 hauchdünne Scheiben Biozitrone mit Schale
200 g Lachsfilet (1 Stück)
1 Scheibe milder Käse (z.B. Edamer)
1 TL Wasabipaste und 1-2 EL Mayonnaise, verrührt
Meersalz
1/2 TL Rosa Pfeffer, gemörsert
Olivenöl

Das Brötchen aufschneiden, antoasten und mit Frischkäse bestreichen. Den Rucola und die Tomatenscheiben darauflegen. In einer schweren Pfanne das Olivenöl erhitzen und die Fenchelscheibe goldbraun anbraten, herausnehmen, ganz leicht salzen und auf die Tomatenscheiben legen. Das Lachsfilet in die Pfanne legen und von beiden Seiten bei mutiger Hitze je ca. 3 Minuten braten, idealerweise bleibt es im Inneren leicht glasig. Mit Rosa Pfeffer und Meersalz bestreuen und auf das Brötchen betten. Nun kommt die Käsescheibe auf das heiße Lachsfilet und wird mit den Zitronenscheiben und der Wasabimayonnaise getoppt. Zum Schluss die obere Brötchenhälfte darauflegen. Sofort servieren.

Lachsburger
Fotos: © formschub

Loriot ist überall

Neulich, im Bordrestaurant eines ICE von Hamburg nach Berlin.

Bedienung (an einen gegenüber sitzenden Herrn): »Was darf ich Ihnen bringen?«
Herr: »Ich hätte gerne einen Weißwein.«
Bedienung (zuckt bedauernd die Schultern): »Da hab’ ich aber nur noch den Riesling …«
Herr: »Wieso? Ist der nicht gut?«
Bedienung: »Och … wenn man Riesling mag …«
Herr: »Dann nehme ich den.«

Riesling
Photo: © happeningfish | Some rights reserved

Alleluja

Seit Wochen habe ich nicht beim Follow Friday mitgemacht. Vermutlich halten mich einige bei Twitter schon für eigenbrötlerisch. Der Grund ist aber, dass ich mich gerade absolut nicht entscheiden will, wen ich empfehlen sollte, ohne den Rest meiner Timeline zu »entwerten«. Ich genieße derzeit das bunte Rauschen Eurer Vielfalt als Ganzes. Und daher lautet mein #ff heute: Ihr alle.

Damit dieser Eintrag bei Twitterausfällen und Accountlöschungen jetzt oder später nicht optisch zerfällt, habe ich alle Avatare in ihrer aktuellen Version lokal gespeichert. Wer damit nicht einverstanden ist, möge sich gerne bei mir melden, dann ersetze ich seinen/ihren Avatar permanent durch das Standard »Twitter-Ei«.

Ein Tag im Leben der Edith K.

Vielleicht kennt sie ja tatsächlich jemand (noch) nicht, die kleinen, fiesen Kurzgeschichten des britischen Autors Roald Dahl (1916–1990), die hierzulande schon vor Jahrzehnten u.a. in den beiden Buchbänden »Küsschen, Küsschen« und »…und noch ein Küsschen« erschienen? Allen gemeinsam war ein unvorhersehbares, oft sehr schwarzhumoriges Ende. Als ich 1984–86 die Oberstufe des Gymnasiums besuchte, waren die bösen Miniaturen Dahls gerade sehr en vogue – und eines Tages kam auch mir ein Einfall für eine solche Geschichte. Ich habe das damals auf der elterlichen Schreibmaschine verfasste Manuskript sorgfältig aufbewahrt und nun mit dem gebührenden zeitlichen Abstand hier und da ein wenig nachbearbeitet. Bis heute gefällt mir die zugrundeliegende Idee sehr, auch wenn ihr leider keine ähnlichen folgten. Von einem Buch à la Dahl bin ich also weit, weit entfernt. Aber dafür hab ich ja schließlich mein Blog.

Der rote Wagen fuhr schnell. Am Horizont verschwanden eben die Spitzen der Wolkenkratzer der Stadt, die er hinter sich zurückgelassen hatte. Wie die Wirbelschleppe eines Jets schlossen sich die morgendlichen Nebelschwaden hinter ihm über dem feuchten Asphalt. Auf der Straße war zu dieser Zeit niemand sonst unterwegs. Plötzlich wurde die weite, hier und dort von Gräsern, Büschen und einigen Waldstücken bewachsene Ebene von einem hoch aufragenden, stählernen Gitterzaun unterbrochen. Das riesige Areal dahinter schien das Ziel des Fahrers zu sein, denn der Wagen bog wie auf Schienen fahrend in eine breite, von zwei Betonpfeilern flankierte Einfahrt ein und hielt vor einer massiven Schranke. Der Schemen hinter der Scheibe des Pförtnerhäuschens winkte der Person im Fahrzeug wie einem guten Bekannten zu, dann hob sich die Barriere.

Der Zufahrtsweg hinter der Schranke führte auf einen massiven, einer kubistischen Festung gleichenden Gebäudekomplex zu, in dessen Mauern nur wenige Fenster eingelassen waren. Das Licht des blauen Neonschriftzuges auf dem Dach spiegelte sich in den Karossen der Autos auf dem riesigen Parkplatz wider, wo nun auch der eingefahrene Wagen zum Stehen kam: »MEGATOY«. Der Motor verstummte. Aus dem Fahrzeug stieg eine ältere Frau, die nun mit entschlossenen Schritten auf den verglasten Eingang des Gebäudes zuhielt, während sie suchend in ihrer Handtasche wühlte. Dort angekommen, zog sie ein weißes Plastikkärtchen hervor und schob es in einen kaum sichtbaren Schlitz in der Wand. Die Glastür glitt zur Seite.

Die Türen an den Wänden des endlos langen Korridors im Inneren der Konzernzentrale erschienen alle gleich groß, gleich weiß und gleich langweilig. Trotzdem blieb die Frau vor einer gezielt stehen und tippte eine Zahlenkombination in ein weiteres Sicherheitsschloss ein. Der Öffnungsmechanismus summte und sie betrat ihr Büro. Kaum hatte sie ihren Mantel abgelegt, da ertönte aus der Sprechanlage auf ihrem Schreibtisch eine verzerrte Stimme: »Frau Kott, guten Morgen. Bitte kommen Sie gleich einmal rüber zu mir und bringen sie den Führungsplan mit …« Seufzend entnahm sie einem großen dunkelgrünen Blechschrank eine Mappe und verließ den Raum durch eine zweite Tür in den benachbarten Raum.

Das leuchtend weiße Haar, das die Glatze des Direktors einrahmte, der in einem kastanienbraunen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch saß, passte irgendwie nicht zu der dunklen Einrichtung seines Büros. Seine bebrillten blauen Augen musterten die eintretende Sekretärin. »Gut, dass Sie da sind. Bitte setzen Sie sich.« Sie nahm Platz, wobei ihr üppiger Haardutt eine seltsame Hüpfbewegung machte. »Herr Barten ist heute morgen nicht zur Arbeit erschienen.«, begann er und bemerkte nicht, wie sie eine Augenbraue hob. »Er hat sich krankgemeldet und kann somit die für heute angesetzte Führung durch die Produktion nicht leiten. Wir erwarten nämlich gegen zehn Uhr eine Gruppe japanischer Ingenieure, die allzu gern einen möglichst tiefen Einblick in die Abläufe der größten Spielwarenfirma unseres Landes bekommen würden …« Er lachte. »Ich möchte daher Sie mit der Vertretung von Herrn Barten betrauen. Wären Sie damit einverstanden?« Sie nickte. »Selbstverständlich dürfen unsere werten Besucher nur die auf dem Plan verzeichneten Abteilungen besichtigen. Wie Sie wissen, sind ja die Sektoren Planung, Entwurf und Design der Öffentlichkeit und Besuchern aus Konkurrenzgründen nicht zugänglich. Sie werden also bitte nur die Produktion und die Endkontrolle vorführen, okay?« Wieder Nicken. »Achten Sie bitte auf eine besonders freundliche Behandlung. Servieren Sie ihnen gerne Tee, einen Imbiss, irgendwas. Unsere Gäste kommen nämlich aus der Elektronikbranche und wären hervorragend geeignet, für unsere neue Turnpuppe das ,Gehirn’ in Auftrag zu nehmen. Selbstverständlich verstehen alle Englisch, und im Zweifelsfalle ist auch noch ein Dolmetscher dabei. Alle anderen Aufgaben können warten.« Das Telefon läutete. »Sie können jetzt gehen und alles vorbereiten. Ich rufe Sie, falls ich Sie noch einmal brauche.«

Sie erhob sich. Japaner! dachte sie. Die geschäftlichen Repräsentanten dieser fremden Kultur, meist Männer, korrekt in Anzug und Krawatte gekleidet, waren ihr nie geheuer gewesen. Sie hatte zwar mit ihnen noch keine Führung durchgeführt, war aber doch schon einigen bei Verhandlungen begegnet. Immer höflich und zurückhaltend, dabei aber geradezu exzessiv neugierig. Sie vom Fotografieren abzuhalten, würde nicht einfach sein, aber sie musste es einfach auf sich zukommen lassen. Sie verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich. Die Stimme des telefonierenden Direktors verebbte zu einem dumpfen Murmeln.

Der Bus war angekommen. Kaum hatten sich die Türen geöffnet, strömte schon ein Schwarm der schwarzgekleideten Gestalten heraus, die sofort die nähere Umgebung fotografisch assimilierten. Ein Pförtner geleitete die etwa zwanzig- bis dreißigköpfige Gruppe ins Innere des Gebäudes, wo der Tee schon wartete. Sie schob die Gardine wieder zurück und trat von ihrem Fenster zurück. Auf in den Kampf. Schon bevor sie die Besucher sehen konnte, hörte sie auf dem Weg über den Korridor die fremdartigen Sprachfetzen an ihr Ohr dringen.

Die routinierte englische Begrüßung kam ihr wie selbstverständlich über die Lippen: »Willkommen in der Zentrale der Firma Megatoy, meine Herren. Mein Name ist Edith Kott und ich werde Sie auf dieser Führung durch die größte Spielwarenfirma des Landes begleiten. Sollten dabei Fragen auftauchen, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Ich bitte Sie jedoch, das Fotografieren innerhalb der einzelnen Abteilungen zu unterlassen. Bitte folgen Sie mir …« Sie hatte Enttäuschung erwartet, sah jedoch nur freundlich lächelnde Gesichter, deren Besitzer schweigend die Verschlusskappen auf ihre Objektive stülpten.

Ein Blick auf den Führungsplan, den sie bei sich hatte, war unnötig. Die erste Station beherbergte die Kunststoffpressen des Werkes. Ihre letzte Führung lag schon einige Zeit zurück, und obwohl sie den offiziellen Text noch bestens kannte und mit freundlichem Tonfall zum besten gab, erschrak sie doch ein wenig, als sie die Presshalle betraten. Die computergesteuerten Containerwagen, die wie von Geisterhand bewegt durch die fast menschenleere Halle rollten, waren ein gewohnter Anblick. Ungewohnt waren nur die Massen erstaunlich echter, hautfarbener Gliedmaßen, die diese Wagen bis über den Rand füllten und deren Realismus seit der letzten Führung erstaunlich zugenommen hatte. Pausenlos kamen neue, leere Wagen angerollt, während sich die vollen leise summend entfernten. Köpfe, Beine, Hände, Arme und Rümpfe, für die verschiedensten menschenähnlichen Puppen bestimmt, fielen ohne Unterlass aus stampfenden Maschinen. Sie gingen weiter. Jetzt war es zwar weniger menschlich, was die Maschinen ausspieen, aber nicht weniger bizarr. Flügel, Klauen, Flossen und Schwänze, bestimmt für Spielzeuge in Gestalt der unterschiedlichsten möglichen und unmöglichen Tiere, rollten kreuz und quer in der Halle umher.

In der nächsten Abteilung wurden die Teile montiert. Dies erledigten versierte Arbeiterinnen, die in langen Reihen mit blauen Hauben und Kitteln an Bändern saßen, auf denen die Einzelteile vorbeizogen. Von hier aus gelangten viele der hohlen Körper in die Elektronikmontage, wo oft beeindruckend komplexe Motoren und Schaltungen eingebaut wurden. So gab es Puppen, die liefen, sprachen, aßen, tranken, lachten, weinten, sangen, nuckelten oder ihre Windeln nassmachten. Monster, die brüllten, zuckten, geiferten oder harmlose Laserblitze abschossen, elektronisches Feuer spuckten oder sogar ein bisschen bissen. Katzen, die schnurrten und kleinen Bällen nachjagten, Teddys, die brummten, Mäuse, die piepten, ja, sogar eine Klapperschlange, die täuschend echt züngelte und zischte.

Hier erwachte dann auch das Interesse der japanischen Besucher. Lebhaft tauschten sie geflüsterte Bemerkungen aus, noch als sie die nächste Halle betraten. Hier entstand das Äußere der zahlreichen Spielzeugwesen. Haare, Pelze und Plüsch in allen Regenbogenfarben wurden angeknüpft und -geklebt, Lippen aufgemalt, Augen eingesetzt und Wimpern fixiert, Schuppen, Klauen, Zähne und Schnurrbarthaare angebracht. Stichproben der fertigen, mehr oder weniger niedlich beziehungsweise furchterregend aussehenden Produkte gelangten dann schließlich in die Testabteilung, dem nächsten Punkt auf dem Führungsparcours. An jeder der zahlreichen Stationen wurde eine an die Produkte gestellte Anforderung simuliert, was zuweilen ziemlich seltsam erschien. So gab es etwa ein Labor, in dem die Fall- und Stoßbelastung der Spielzeuge geprüft wurde. Dazu waren ganze sieben Mitarbeiter angestellt, die in Vollzeit Teddys durch die Luft wirbelten, Puppen auf den Boden warfen oder Kuscheltiere einquetschten. War ein Spielzeug nach hundert Testdurchgängen noch vollständig intakt, galt der Test als bestanden, anderenfalls musste nachgebessert werden.

Im darauf folgenden Labor widmeten sich die Tester der »zweckgerechten Belastungssimulation«. Hier wurde gekuschelt, geknuddelt, geritten, gefüttert und verhätschelt in einem Maße, dass es sogar bei Kindern lächerlich gewirkt hätte, erst recht jedoch bei den Erwachsenen, die das hier nach streng wissenschaftlichen Maßstäben vollzogen. Der Besuch dieses Labors führte regelmäßig zu Heiterkeitsausbrüchen bei den Besichtigungsgruppen, doch auch hier hielten sich die Japaner zurück. Als sie die Gruppe wieder hinaus auf den Korridor führte, fiel ihr sofort auf, dass die Tür eines gegenüberliegenden Labors offenstand, das zu dem der Öffentlichkeit vorenthaltenen Planungs- und Testkomplex gehörte. Obwohl sie die Tür fast augenblicklich verschloss, konnte sie nicht mehr verhindern, dass die asiatischen Besucher den Mitarbeiter dahinter bemerkten, der verzweifelt versuchte, rund ein Dutzend Testmodelle einer elektronischen Monsterfigur aus dem Stoff seines Kittels zu entfernen, in den sie sich wohl etwas zu kräftig verbissen hatten. Die Japaner warfen einander irritierte Blicke zu, aus denen nun selbst das allgegenwärtige Lächeln gewichen war.

Nachdem sie die Ingenieure sowohl durch die ganze Laborabteilung geschleust hatte und auch die Produktions- und Testabteilungen für Spielzeugautos, Geduld- und Gesellschaftsspiele nicht unbesichtigt geblieben waren, verabschiedeten sich die Besucher. Jetzt ein schöner, heißer Kaffee, dachte sie, nachdem auch der letzte der weitgereisten Gäste unter zahlreichen Verbeugungen in dem Reisebus verschwunden war, der das Fabrikgelände rasch Richtung Flughafen verließ.

Die Uhr auf ihrem Schreibtisch zeigte kurz vor Vier, als sie ihr Büro wieder betrat. Sechs Stunden Führung! Die Japaner waren aber auch zu wissbegierig gewesen. Hoffentlich hat der ganze Aufwand wenigstens etwas eingebracht, dachte sie, während sie die Kaffeemaschine befüllte.

Kaum hatte sie in ihrem Bürostuhl platz genommen und einen Schluck des heißen Getränks genossen, als die Sprechanlage nochmals loskrächzte: »Frau Kott, sind Sie wieder da? Bitte kommen Sie doch noch zu einem Diktat zu mir …“ Sie seufzte. Auch das noch! Sie nahm Kaffee und Stenoblock und betrat das Chefzimmer. »Ah …«, begrüßte sie der Direktor, der ebenfalls eine Tasse Kaffee vor sich hatte, »Setzen Sie sich doch bitte. Es dauert nicht lange, nur ein Schreiben an die Firma Gunboker wegen der neuen Sicherheits-Zündplätzchen für Zimmerkanonen.« Sie nahm Platz und zückte den Stift. »Sehr geehrte Herren, …«, diktierte er, »… hiermit möchten wir die kürzlich begonnene Zusammenarbeit unserer Unternehmen nachhaltig vertiefen. Ich freue mich, dass die Verhandlungen zu den Konstruktionsdetails der neuen … neuen Zünd … Zündpläää …«

Erschrocken sah sie auf. Der Direktor verdrehte die Augen und rang nach Luft. »… blää …« lallte er. Sie sprang auf. Kaffee und Block fielen zu Boden. Sie trat heran und öffnete das Hemd des nun regungslos Dasitzenden. Er hat sich wieder einmal überanstrengt, dachte sie. Gottseidank wusste sie, was zu tun war. Wo zum Teufel bewahrte er die verdammten Dinger auf? Ah! Sie öffnete die unterste Schreibtischschublade und nahm ein grünes Päckchen heraus. Gleich würde er wieder auf den Beinen sein. Geschafft! Mit einem routinierten Griff hatte sie die rechteckige Klappe auf der Brust des Direktors wieder geschlossen. Die verbrauchten Akkus hielt sie in der Hand. Der Direktor schlug die Augen auf. »Vielen Dank, Frau Kott. Wir können weitermachen.«

Monsterspielzeug
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