Als ich am 31. Januar 2008 einen Account bei einem sogenannten »Microbloggingdienst« eröffnete – angeregt durch das Blog »Momente in bis zu 140 Zeichen« –, ahnte ich nichts. Ich schaute mir den flackernden Kurztextstrom eine Zeitlang ratlos an und klickte anschließend mehr als ein halbes Jahr lang wieder ganz woanders im World Wide Web herum.
Schließlich, an einem recht kühlen Abend im September, sandte ich – vermutlich fröstelnd – meinen ersten »Status« in die unbekannten Weiten der Twittersphäre hinein. Ja, ich wagte es sogar, einigen der völlig fremden Partikelpoeten zu folgen, was mir anfangs fast unverschämt vorkam, ein bisschen so, wie als mitgebrachter Gast auf eine Party zu kommen oder bei einem zufälligen Sitznachbarn verstohlen Privates mitzulesen.
Inzwischen wird Twitter im Fernsehen zitiert. Eine bekannte Zeitung druckt den »Tweet des Tages« ab. Die Zahl der Mikroblogger, denen ich folge, ist prächtig gestiegen, das Gefühl, bei Ihnen zu Gast zu sein, längst angenehm vertraut. Und auch ich darf mich über nicht wenige Follower freuen, die inzwischen meine Textschnipsel abonnieren.
Wer Twitter erklärt haben will, kann gerne hier nachlesen. Was Twitter ist, muss man selbst ausprobieren. Entweder mag man es, oder auch nicht. Ich zumindest finde es toll. Es gibt fantastische, unbedingt lesenswerte Berichte von Twitternutzern darüber, wie dieser seltsam anmutende Netzdienst ihr Leben bereichert (z.B. hier und hier). Und unweigerlich kommt bei der Lektüre solcher Hommagen die Frage auf, was eigentlich das eigene Faible für Twitter begründet.
Hier mein Zehn-Punkte-Loblied auf das faszinierende Zwitscherportal:
1. Twitter geht immer. Wo immer ein Browser oder Client aufrufbar ist – zu Hause, im Büro, unterwegs auf dem Handy, beim Warten rund um den ÖPNV, morgens, mittags, abends, nachts. Die wenigen Bytes der ultrakurzen Textbeiträge huschen mühelos durch den Äther – und sind mit etwas Disziplin genauso produktivitätskompatibel wie der Bürokaffee, die Pausenzigarette oder der Zwischendurch-Plausch mit netten Kollegen. Wenn Du willst, bist Du nie mehr allein.
2. Twitter regt das Gehirn an. Virtuose Formulierungen, absurde Wortspiele, spritzige Pointen und das fantastisch gnadenlose 140-Zeichen-Limit – twittern kann unendlich knifflig, kreativ, herausfordernd und anspruchsvoll sein. Vorausgesetzt, man stellt diesen Anspruch auch an sich selbst. Wer auf die zentrale Frage „What are you doing?“ antwortet, indem er häppchenweise Banalitäten transkribiert, hat Twitter vermutlich (noch) nicht völlig verstanden. Merke: Gut gemachter Unsinn ist keiner mehr – und eine gekonnte Formulierung kuvertiert selbst Belanglosigkeiten zu köstlichen Wortpralinen.
3. Twitter amüsiert und unterhält. Mit einem permanenten Rauschen an Originalität: Pointen-Pingpong, Meinungen, Diskussionen, Memes und Threads. Wer schlecht drauf ist, Inspiration sucht, TV und Radio überdrüssig ist oder einfach nur Langeweile hat – Twitter ist ein 24-Stunden-Feuerwerk, gezündet von tausenden kreativen Gehirnen.
4. Twitter hilft bei der Frustkompensation. Akute Kleinigkeiten und Ärgernisse, die nerven und sofort raus wollen, werden spontan und ungefiltert getwittert. Das Echo der Follower folgt unmittelbar: aufmunternde Worte, Beistand, Anteilnahme, Hilfe. Twitter bietet Raum für Gefühle mit kurzer Halbwertszeit, die für Blogs und Foren zu schnellebig sind, aber hochrelevant für die eigene Stimmungsbalance. Die Rund-um-die-Uhr-Mikrolebenshilfe.
5. Twitter hilft bei Alltagsproblemen. Selektiver als Google, netter als Nachschlagen, billiger als Hotlines. Haushalt, Shopping, Ausgehen, Urlaub, Kochen, Filme, Technik, Tierhaltung – die Vielfalt der Themen ist grenzenlos, die geteilten Erfahrungen bringen hundertfachen Nutzen. Die Twittergemeinde ist ein gigantischer Organismus, der schon überall war, unendlich viel weiß, enorm viel erlebt hat und sich verdammt gut auskennt.
6. Twitter motiviert. Putzen, Steuererklärungen, Arbeit. Andere machen es vor, der Drang zu eigenem Handeln wächst. Selbst hartnäckige Prokrastinaten, behaupte ich, können sich dem Tatendrang, der Aktivität, der Emsigkeit und den Erfolgsmeldungen aus ihrem Gefolge nicht ewig verschließen. Es muss etwas geschehen. Es wird etwas geschehen.
7. Twitter knüpft Kontakte. Der Magnetismus zwischen Followern und Gefolge lebt von Sympathie, Seelenverwandtschaft, gemeinsamen Interessen oder beruflichen Schnittmengen. Man trifft Humorzwillinge und Gesinnungsgenossen, geografische Nachbarn und Freizeitsympathisanten. Aus Dialogen und DMs werden Einladungen, Verabredungen, »Twittagessen«, Treffen, Events, Flashmobs oder Parties. Soziale Vereinsamung sieht anders aus.
8. Twitter macht schlau. Wissen, Links und Informationen in Echtzeit. Aktueller als Nachrichtenagenturen, Fernsehen, Radio und Presse. So klug wie eine Enzyklopädie, so erfahren wie tausend Leben. Natürlich ist Vorsicht geboten – was ist glaubhaft, wahr und authentisch? Aber ohne die Fähigkeit, Informationen zu filtern, zu verifizieren und zu vergleichen, ist das Internet ohnehin unbenutzbar. Das gilt auch für den Chor der hier gezwitscherten »Fakten«.
9. Twitter bestärkt. Faven und faven lassen – der kleine Kick fürs gute Gefühl. Es macht Spaß, aus dem endlosen Strom des Wissens- und Merkwürdigen die funkelndsten, wertvollsten Nuggets herauszulesen und sie den persönlichen Favoriten hinzuzufügen. Und ebenso erfreulich ist es, eigene Textrosinen unter den Favoriten der Freunde und Follower wiederzufinden.
10. Twitter lebt. Jede Sekunde neu. Immer anders. Endlos. Unerschöpflich. Als ich nach einer Inspiration für meinen nahenden 1000. Tweet suchte, stieß ich auf ein Zitat von Oscar Wilde über die Zigarette – und leicht umgetextet, traf es genau diesen Punkt: »Twitter ist das vollendete Urbild des Genusses: Es ist köstlich und läßt uns unbefriedigt.«
Danke, Oscar. Genau so ist es.
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