Ich hätte es früher bemerken sollen, als ich am vergangenen Dienstag nach dem Pfingstwochenende in Berlin am Vormittag in den ICE zurück nach Hamburg stieg. Um die Mittagszeit nach (langen) Wochenenden sind die Züge angenehm leer und so war es auch diesmal, nur ein Viertel der Plätze in meinem Wagen war belegt. Ich suchte mir einen freien Fensterplatz in einer Zweiersitzgruppe und klappte den Rechner auf, um etwas zu arbeiten. Erst nach etwa 10–15 Minuten fiel mir auf, dass ein Mitreisender diagonal gegenüber auf der anderen Seite des Ganges immer mal wieder hustete – einzelne, tiefe, nicht besonders gesund klingende Stöße. Und dann fing das ganze auch direkt hinter mir an, bei einem Huster spürte ich, wie die dadurch bewegte Luft von hinten durch den Spalt zwischen den Sitzlehnen meinen Nacken umwehte. Da holte ich sofort meine FFP-Maske aus dem Rucksack, die ich »für alle Fälle« immer noch dabei habe und trug sie für den Rest der Fahrt.
Doch es war wohl schon zu spät. Am Donnerstag Nachmittag spürte ich ein leises Kratzen in Hals und Nase, am Freitag wuchs es sich zu einem spürbaren Schnupfen aus und am Samstag lag ich total flach. Trotz meiner verlässlich lindernden Hausmittel, die ich seit den ersten Anzeichen regelmäßig einnahm, war die Erkältung nicht mehr abzuwenden. Glücklicherweise hatte ich auch noch Corona-Sebsttests zu Hause – zwei mal negativ an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, immerhin. Dennoch ein ganzer Tag lang Kopfschmerzen aus der Hölle, Nase dicht, tränende Augen, Appetitlosigkeit, generelle Schlappheit und – sehr ungewöhnlich – Übelkeit. Von mir aus Männergrippe, aber gestern konnte ich nichts machen außer trinken, wimmern und – schlafen. Gefühlt 20 von 24 Stunden habe ich nur geschlafen. Und heute, am Sonntag, wachte ich auf und hatte kurz darauf Appetit auf Frühstück. Kaffee! Brötchen! Schlafen fetzt, wenn man krank ist. Da kommen keine Tablette und keine Nasentropfen mit. Und jetzt, am Sonntag Abend, spüre ich kaum noch was.
Während ich dies schreibe, sitze ich schon wieder im Zug nach Berlin. Diesmal trage ich von Anfang an eine Maske, hauptsächlich, um meine eventuellen Restviren bei mir zu behalten, aber auch in diesem Zug (deutlich voller, diesmal) wird um mich herum schon wieder reichlich geschnieft, gehustet und geschneuzt. Der Corona-Peak mag vorbei sein, aber ich weiß jetzt wieder: das Masketragen hat immer noch sein Gutes.
In den letzten Jahren habe ich, wenn mir ab und zu mal eine Idee für einen Cartoon durch den Kopf schoss, diese schnellen Skizzen gerne mal auf Twitter rausgehauen. Inzwischen poste ich nicht mehr so viel auf Twitter und versuche zudem aus bekannten Gründen, mich weiter von dort zurückzuziehen, dafür poste ich mehr auf Mastodon. Insbesondere dort jedoch vermisse ich aber nach wie vor schmerzlich die Möglichkeit, nach eigenen und fremden früheren Postings suchen zu können, mit Volltext, Username, Datum etc. Deshalb landen solche Kleinigkeiten jetzt erstmal wieder hier. Ordentlich abgelegt, jederzeit wieder auffindbar und auch die Urheberschaft wird so etwas besser dokumentiert. Heute was mit Piepmatz.
Ach, stimmt ja – die Ausflüge und Wanderrouten zu Pfingsten wollte ich ja auch noch verbloggen. Weil es so schön war.
Übers Pfingstwochenende war ich beim Mann in Berlin. Meistens waren wir in den vergangenen Jahren (sogar einmal »während Corona«) über diese Feiertage im schönen Regensburg zu den Tagen Alter Musik, aber da im Programm nichts gelistet war, das so richtig viel Anzeihungskraft ausübte und auf dem Reiseplan für Frühjahr und Frühsommer ohnehin schon etliches stand und steht, wurde das Verreisen zu Pfingsten diesmal ausgesetzt. Mit dem ordentlich gefüllten ICE am Freitag fuhr ich dann nachmittags in die Hauptstadt. Die Einkehr zum Willkommenstrunk im Hopfenreich nach der Ankunft ist inzwischen schon ein festes Ritual. Abends Lachsfilet aus der Pfanne mit thailändisch gewürztem Spinatgemüse. Im Heimkino dann endlich die zweite Staffel »Picard« angefangen.
Am Samstag gemütlicher Vormittag mit Ausschlafen, Balkonfrühstück, häuslichem Geräume. Am Abend durfte ich eine Eintrittskarte einlösen, die im März in meinem Geburtstagspaket steckte, für ein Konzert in der Berliner Philharmonie: Simone Young dirigiert Olivier Messiaens »Turangalîla-Symphonie«.
Nach einem kleinen »Bier-Aperitif« vor dem Konzert machten wir uns rechtzeitig auf den Weg, denn das sehr groß besetzte, üppig instrumentierte und zehn Sätze umfassende Werk bot sich dafür an, endlich mal die vorherige moderierte Konzert-Einführung »mitzunehmen«. Mit vielen Hintergrundinformationen zum Komponisten und dem Werk, erläutert an eigens eingespielten Klangbeispielen aus dem Werk, fand ich das nicht nur ausgesprochen kurzweilig, sondern auch sehr motivierend, künftig öfter mal an solchen Einführungen teilzunehmen. Ich nahm die Musik danach mit dem neuen Wissen im Kopf ganz anders wahr und achtete mehr auf Details. Das Konzert hatte keine Pause und so waren wir kurz nach 20:30 Uhr schon wieder auf dem Heimweg. Sogar fürs Abendessen war es auf dem Balkon noch warm genug, es gab vormariniertes feines Bio-Schweinefilet mit Rosenkohl. Aus einem offenen Dachfenster des Nachbarhauses tönte schon seit gestern tiefes, bettlägerig klingendes, weibliches Husten. Nicht schön, sowas, und dann ausgerechnet noch über die Feiertage. Nach dem Essen wieder eine Folge »Picard«.
Sonntag ging es endlich wieder mal raus in die Natur. Der Mann hatte eine Tour ausgetüftelt (Komoot-Link), die uns – nach Anreise mit dem Regionalzug zum Ausgangspunkt Bahnhof Fangschleuse – über einen schönen und abwechslungsreichen Pfad und zwei hoch gelegene Aussichtspunkte zum Endpunkt, dem Bahnhof Woltersdorf, führte. Das Wetter war perfekt zum Wandern, aber an den Steigungen kam ich dennoch spürbar ins Schwitzen.
Wieder zurück in Berlin, winkte eine Erfrischung im Straßenbräu am Ostkreuz, danach heim zum Balkon-Abendessen mit viel Spargel und kleinen Bio-Wildmedaillons. Die Dame nebenan hustete immer noch. Danach Picard und schlafen.
Dank des langen Wochenendes war auch am Montag eine Wanderung möglich. Anfahrt auch wieder mit dem Zug (das Deutschlandticket fetzt!), aber in bislang gänzlich unbekannte Gefilde. Der Rundwanderweg (Komoot-Link) begann am Bahnhof Müncheberg, umrundete in weitem Bogen durch einen herrlichen Mischwald den Großen Schlagenthinsee, durchquerte das Naturschutzgebiet Gumnitz und schloss schließlich den Kreis wieder am Bahnhof. Das perfekte Wetter, die menschenleere Route, die fantastische, vielfältige Landschaft und das unentwegte, lebendige Vogelgezwitscher in der Luft ließen ein »Sommerferiengefühl« aufkommen, das mich an Kindertage erinnerte. An einem breiten Schilfgürtel während des letzten Teils der Wanderung hielten wir eine Weile inne und lauschten einem ungewöhnlichen Vogelgesang aus dem Dickicht. Meine Vogelstimmen-App identifizierte auf englisch einen »Great Reed Warbler«, der auf Deutsch als »Drosselrohrsänger« übersetzt wurde. Ich weiß nicht ob das stimmt, aber sein Lied war sehr originell und erinnerte mich ein bisschen an das »Holladihiti«-Geflöte von Otto Waalkes:
Wanderbier dann wieder am Ostkreuz, aber diesmal bei Bräugier, dann Heimweg mit zwei Thai-Gerichten »to go« von Glory Duck, abgeholt gleich um die Ecke beim Pub. Die Balkontemperatur war heute deutlich frischer, also wurde im Wohnzimmer gespeist. Weiter mit »Picard« (mir gefällt die zweite Staffel deutlich besser als die erste), dann Nachtruhe. Am Dienstag Vormittag fuhr dann der Zug zurück nach Hamburg.
»Klimbim ist unser Leben und ist es mal nicht wahr, … dann mach ich mir ’nen Schlitz ins Kleid und find’ es wunderbar.«
Ingrid Steeger im TItelsong zu »Klimbim«
Natürlich bin ich nicht »frühsexualisiert« worden. Ich wuchs in den 1970er-Jahren auf.
Bei uns zu Hause war alles ganz normal. In den ersten Büchern und Geschichten, an die ich mich erinnern kann, etwa »Grimms Märchen«, heiratete am Ende immer der Prinz seine Herzensdame, meistens eine andere Königstochter oder ein armes Mädchen aus dem Volk. Die Schlümpfe waren alle in Schlumpfinchen verliebt und Kater Tom bekam regelmäßig Stielaugen, wenn er in seinen Trickfilmepisoden eine Katzendame mit Lippenstift und langen Wimpern sah. In Filmen aus den 1960er- oder 1970er-Jahren wie z.B. den Doris-Day-Komödien nannten Männer, die in Büros arbeiteten, ihre erwachsenen Sekretärinnen »mein Kind«. In anderen Filmen küssten Männer Frauen, ohne sie vorher zu fragen und bekamen dafür eine Ohrfeige. Dann hielt sich der Mann verdutzt die Wange, manchmal wurde er böse und sagte zu der Frau sowas wie »Flittchen« oder »Schlampe«. In klamaukigen Filmen oder Sketch-Shows, zum Beispiel »Väter der Klamotte« oder »Nonstop Nonsens« schimpften bisweilen auch die Frauen, wenn die Männer ihnen – meist aufgrund eines tollpatschigen Ausrutschers – ungewollt zu nahe kamen. So lernte ich schon als Kind die Wörter »Wüstling!«, »Lustmolch!« und »Sittenstrolch!«. In der »Benny Hill Show« war das Prinzip »unverschämte Männer, empörte (halbnackte) Frauen« bei den meisten Sketchen sogar das ganz normale Konzept. Und zwischen 1973 und 1979 lief im Ersten jeden Dienstag zur besten Sendezeit um 20:15 Uhr im ganz normalen Fernsehprogramm die Sketch-Show »Klimbim«, in der unter anderem Ingrid Steeger und Elisabeth Volkmann mit tiefen Dekolletés und manchmal auch blanken Brüsten die Deutschen Zuschauer erheiterten. (Update: An die Popsendung »Musikladen« habe ich mich nachträglich auch noch erinnert, darin waren freizügige Go-go-Tänzerinnen ein ganz normaler Teil der »Bühnendekoration«.)
Doch auch einvernehmlich wurde in etlichen ganz normalen Spielfilmen – warum auch nicht? – ab und zu herumgeknutscht. Sowie die Leidenschaft aber weiter hochkochte, durften sich vorzugsweise die Frauen weiter ausziehen. Mein erster James-Bond-Film im Kino zum Beispiel war »Der Spion, der mich liebte« (1977) und auch in dieser Filmreihe, so lernte ich, waren knapp bekleidete Damen in Haupt- und Nebenrollen ein Muss. Dann gab es Filme, die zwar nur für Erwachsene gemacht, aber noch keine echten Pornos waren. Auch dafür wurde in den Schaukästen der Kinos am Bahnhof und in der Fußgängerzone, direkt neben den jugendfreien Filmen, geworben: in Augenhöhe hingen Plakate und manchmal auch Szenenfotos für Filme und Filmreihen wie »Emmanuelle«, »Schulmädchen-Report«, »Laß jucken, Kumpel« oder »Liebesgrüße aus der Lederhose«. Manchmal hingen daneben in den Vitrinen auch Werbefotos für Splatterfilme, etwa »Zombie«, »Ein Zombie hing an Glockenseil« oder für Kreuzungen beider Filmgenres wie »Nackt unter Kannibalen« oder »Nackt und zerfleischt«. Das war Ende der Siebziger ganz normal.
Fernsehshows durfte ich auch gucken. Die Showmaster waren eigentlich immer Männer: Hans-Joachim Kulenkampff, Wim Thoelke, Peter Frankenfeld, Hans Rosenthal, Frank Elstner, Rudi Carrell, Vico Torriani oder Blacky Fuchsberger. Aber damit sie nicht so alleine auf der Bühne waren, hatten sie fast alle junge lächelnde Assistentinnen, die Preise und Requisiten herbeibrachten, den Punktestand ansagten oder die Kandidaten betreuten. Auch sonst waren im Fernsehen die Rollen ganz normal verteilt: die Frauen (Hanni Vanhaiden, Heidrun von Goessel, Sonja Kurowsky, Karin Tietze-Ludwig, Ulla Zitelmann, Elfi von Kalckreuth, Ute Zingelmann) durften als Ansagerinnen das Programm anmoderieren, die Männer (Karl-Heinz Köpcke, Wilhelm Wieben, Werner Veigel, Gerhard Klarner, Heinz Wrobel, Wilhelm Stöck, Jo Brauner) haben die Nachrichten vorgelesen. Als ich etwa neun oder zehn war, durfte das in der Tagesschau dann aber auch Dagmar Berghoff machen und Dénes Törzs durfte als Mann Sendungen ansagen.
In Zeitschriften waren die Frauen ohne Anziehsachen oft dafür zuständig, aktuelle Themen und Aufmacher auf den Titelseiten zu bebildern, auch das war ganz normal. Besonders der »Stern« benutzte dazu gerne Frauenkörper, sowohl »oben mit« als auch »oben ohne«, manchmal auch nur Pos, Brüste oder Beine, doch auch der »SPIEGEL« machte hin und wieder dabei mit. Direkt neben dem »Stern« lagen in den Kiosken oder in der Bahnhofsbuchhandlung, wo ich mir oft mein »Zack«- oder »Yps«-Heft holte, die »Neue Revue«, die »Quick« oder die »Praline« und gaben sich meist nicht mal die Mühe, ein Titelthema zu benennen, da kamen die (fast) nackten Frauen einfach so bei jedem Heft aufs Cover. Etwa mit 11, 12 gelangten die ersten Ausgaben von »Pop Rocky« und »Bravo« in meine Teenagerhände und auch dort waren es meistens die abgebildeten Mädchen-Fotomodelle die wenig anhatten. Jungs, wie ich einer war, behielten in den Heften ihre Hosen eher an.
Werbung gab es natürlich auch, sowohl im Fernsehen als auch in den schon aufgezählten Zeitschriften. Manchmal lagen die Magazine mit einem schlichten »Lesezirkel«-Umschlag im Arztwartezimmer herum, aber oft auch bei Verwandten oder zu Hause, dazu die beliebten Fernsehzeitschriften »Gong«, »Funk Uhr« oder »Hörzu«. In manchen der ganz normalen TV-Spots und Anzeigen hüpften weibliche Nackedeis für die Seifen »Fa« oder »Atlantic« durch die Meeresbrandung oder räkelten sich darin, auch für »Nivea Milk« ließen die Frauen in der »Reklame« die Hüllen fallen. (Vier weitere Anzeigen habe ich noch gefunden, an die ich mich zwar selbst nicht erinnere, die aber aus der gleichen Zeit stammen und in ganz normalen Magazinen für Fernseher, Frauenunterwäsche, eine Mini-Waschmaschine oder Jeans warben.)
A propos Kiosk: da gab es natürlich auch Tabakwaren und Alkohol zu kaufen, zwar durfte ich das mit meinen 10 oder 15 Jahren noch nicht tun, wenn ich mir ein Eis oder Süßkram holte, aber ich bemerkte sehr wohl, dass neben den Miniflaschen »Underberg« oder »Jägermeister« im Regal – oder auch in den bisweilen besuchten Landgasthöfen, z.B. auf Familienfeiern – manchmal lustig bemalte Likörfläschchen mit bunten Schnäpsen namens »Busengrapscher« oder »Schlüpferstürmer« angeboten wurden (vermutlich war das dann schon in den frühen Achtzigern). Familienfeiern oder Verwandtenbesuche waren es auch, bei denen ich etwa ab dem 12. Lebensjahr regelmäßig von Tanten und Onkels gefragt wurde, ob ich denn schon »eine kleine Freundin hätte«, woraufhin ich immer rot wurde und verneinte.
Im Radio zu Hause in der Küche liefen ganz normale deutsche Schlager wie »Rote Lippen soll man küssen« (1963) von Cliff Richard, »Das schöne Mädchen von Seite eins« von Howard Carpendale (1970), »Ich liebte ein Mädchen« (1970) von Insterburg & Co., »Komm unter meine Decke« (1975) von Gunter Gabriel, »Und es war Sommer« (1976) von Peter Maffay, »Ich möcht‘ der Knopf an deiner Bluse sein« (1976) von Bata Illic, »Oh, Susi« von Frank Zander (1976), »Im Wagen vor mir« (1977) von Henry Valentino & Uschi oder »Manchmal möchte ich schon mit dir« von Roland Kaiser (1982). Wenn die Eltern im Bekanntenkreis feierten, zum Beispiel zu Anlässen wie Silvester oder Fasching, wurden in den Siebzigern natürlich außer Schlagern und »Disco«-Hits – die aber auf englisch gesungen wurden, was ich noch nicht verstand – oft auch deutsche Stimmungslieder gespielt. Sehr beliebt waren zum Beispiel die schlecht gereimten Gassenhauer »Goethe war gut« von Rudi Carrell und »Polonäse Blankenese« von Gottlieb Wendehals, aber auch »Schmidtchen Schleicher« (die Frauen fürchten sich und fangen an zu weinen) und »Unter dem Schottenrock ist gar nichts« von Niko Haag. Auch die kennen wohl alle, die in dieser ganz normalen Zeit bei Partys dabeiwaren.
Rückblickend waren es sonderbare ganz normale anderthalb Jahrzehnte, in denen ich als Kind und Teenager jeden Tag und jede Woche in der Schule, in Büchern, Zeitschriften, im Radio, im Fernsehen, in der Werbung, in Filmen, in der Verwandtschaft und im Freundeskreis mit den damaligen Rollenklischees, den gängigen Geschlechterbildern, den heteronormativen Standards, den Erwartungen meiner Mitmenschen sowie jeder Menge sexistischer Medieninhalte konfrontiert und davon »geprägt« wurde. Aber durch diese Prägung wurde ich nicht automatisch und unausweichlich in dieselbe Form gepresst. Ich entschied bei vielen Dingen schon als junger Mensch selber, was ich gut, lustig, langweilig, uninteressant oder doof fand. Ich änderte im Lauf der Zeit meine Meinung zu vielen der genannten Dinge, die mir damals »normal« erschienen, aber dann, in höherem Alter und aus heutiger Sicht, fragwürdig, unangemessen oder inakzeptabel – und ich bin froh, dass sich etliches davon inzwischen grundsätzlich zum Besseren gewandelt hat. Auch ich habe mich verändert, verweigert, reflektiert, infragegestellt, orientiert, habe mein eigenes Ich – für das es in diesen Jahren nirgends ein Bild gab, in dem ich mich repräsentiert sah – gesucht und gefunden, ich habe mir Freiräume geschaffen, Selbstbewusstsein gewonnen, bin nach und nach den Weg gegangen, der sich für mich gut und richtig anfühlt. Ich habe vor 25 Jahren meinen Mann kennengelernt und ihn vor vier Jahren geheiratet. Ich bin geworden, was und wie ich sein will.
Es gibt zwei Dinge, die mich wahlweise nerven oder amüsieren, wenn ich – was ich davon abgesehen eigentlich gerne tue – Natur-Dokumentationen ansehe. Das eine sind die filmischen Werke, die von Anfang bis Ende mit einem überpompösen, dröhnend-pathetischen Orchestermusikteppich unterlegt sind. Kompositorisch irgendwo zwischen dem »Gladiator«-Soundtrack und Wagners »Walkürenritt«, aber lieblos und ohne jegliche Höhepunkte oder irgendwelche hängenbleibenden Melodien herunterkomponiert, Hauptsache permanent an- und abschwellend und Dramatik suggerierend, wo im Bild gar keine ist. Eine Knospe erblüht – *dröhn*. Eine Elefantenmutter säugt ihr Kalb – *dröhn*. Meditativer Kameraschwenk über die Baumkronen des Dschungels – *dröhn*. Ich habe mich schon öfter gefragt, ob diese Art Musik ohne menschliches Zutun von einem Doku-Soundtrackgenerator erzeugt wird, oder ob tatsächlich Menschen aus Fleisch und Blut hinter dem Gedudel stehen. Viel schöner ist doch die Natur, wenn der Mensch die Klappe hält, die Geigen und Trompeten schweigen und die Waldwanderer ihre Boombox zu Hause lassen.
Das andere ist der inflationäre Gebrauch des Wortes »spektakulär«. Wäre es nicht so ungesund, könnte man ein Trinkspiel daraus machen und sich jedesmal, wenn der Off-Sprecher etwas als »spektakulär« bezeichnet, einen Dokuschnaps hinter die Binde kippen. Spektakuläre Berggipfel, spektakuläre Blauwale, spektakuläre Vogelschwärme, bla, bla, gähn. Für mich ist spektakulär ein Gafferwort, es bezeichnet das Aussehen von Dingen, aber nicht ihr Wesen. Als rein spektakulär würde ich Dinge bezeichnen, zu denen Menschen anreisen, um hauptsächlich Handyfotos zu machen, aber nicht, um das Gesehene oder Erlebte wirklich zu spüren oder zu erleben, sich davon durchfluten zu lassen, Erhabenheit oder Ehrfurcht zu empfinden. Spektakulär sind meist die Dinge, die man nur zum Zweck des Zeigens herumzeigt. Aber die Aufmerksamkeit für Spektakuläres ist oft nur ein oberflächliches »Wow!« und ich denke, sie ist auch flüchtiger und vergänglicher als nachhaltige Beeindruckung, die zudem meines Erachtens nicht immer mit der schieren Bildgewalt oder dem realen Ablauf von etwas Erlebtem verknüpft sein muss.
Ed: Do you own a video camera? Renee Madison: No. Fred hates them. Fred Madison: I like to remember things my own way. Ed: What do you mean by that? Fred Madison: How I remembered them. Not necessarily the way they happened.
David Lynch, »Lost Highway«
Mir selbst kommt das Wort »spektakulär« in letzter Zeit sehr oft in den Sinn, wenn ich Bilder sehe, die von A.I.-Bilderzeugungsplattformen generiert wurden. Ein Hirsch in einer New Yorker Straßenschlucht, perfekt vom farbigen Licht der Leuchtreklamen in Szene gesetzt. Surreal verfremdete Astronautenselfies, hyperrealistische Portraits, knallbunte Landschaften. Spektakulär. Und natürlich muss man sich Gedanken darüber machen, dass die fotorealistische Erzeugung komplett erfundener oder gefälschter Bilder imstande ist, den Beweischarakter der Fotografie endgültig zu meucheln, denn selbst mit Photoshop war die glaubwürdige Bildmanipulation bislang immerhin noch einigermaßen zeitaufwendig und durch visuelle Unstimmigkeiten oder digitale Artefakte oft bei genauerem Hinsehen noch als solche erkennbar. Das wird nun wohl radikal anders. Auch in meinem Beruf als Grafik-Designer mache ich mir daher Gedanken darüber, ob und inwieweit A.I.-generierte Inhalte meine Tätigkeit verändern, eingrenzen oder gar überflüssig machen werden. Von den Auswirkungen auf andere Berufe oder die Gesellschaft als Ganzes mal ganz abgesehen.
Aber viele der Motive – nicht alle – die ich jeden Tag sehe, sind eben bloß »spektakulär«. Ich betrachte sie, bin kurz beeindruckt und spüre dann trotz der gekonnt berechneten Pixel eine gewisse Leere. Wo ist die Idee? Es sieht super aus, monumental, realistisch oder künstlerisch, die Perspektive stimmt, das Motiv könnte man sich ausdrucken und aufhängen, es wäre ein Eyecatcher als Poster, als Motiv für eine Werbekampagne oder eine Doppelseite im Editorial eines Hochglanzmagazins. Aber es fehlt mir oft der zündende Funke, die Kreativität unter der Oberfläche.
»The concept of ›artistic‹ creativity is deeply philosophically contentious, and hinges on twin issues of randomness and understanding.
(…) computers are currently unable to create truly random data. And some people might argue that it’s that element of randomness that is itself the spark of human creativity – adding something that no-one else could or has added before. An AI cannot do that.
Similarly, although AI may be able to fool a human into thinking a given poem, painting, etc., was written by another human, that’s not the same as that piece of ›creative art‹ having genuine meaning. An AI will give you an endless number of outputs based on what you put in – but it won’t understand them. It has no concept of why you should be compared to a summer’s day, other than that string of words appeared in another piece of text it analyzed. To an AI, all creative inputs and outputs are merely data.
But that’s not necessarily a bad thing, because innately-creative humans can work with that data.«
»Can Artificial Intelligence Be Creative?« by Craig Wisneski, Co-Founder & Head of G&A, Akkio
Das liegt sicher auch daran, dass ein derart erzeugtes Bild immer nur so gut sein kann, wie die sog. »Prompts«, also die eingegebenen Sprachbefehle, aus denen die A.I. dann das Bild generiert. Je präziser, detaillierter und eindeutiger diese formuliert werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Endergebnis ungefähr der Erwartung oder Vorstellung entspricht, die der User im Kopf hat. Das erinnert mich ein bisschen an eine etwas vernachlässigte Unzulänglichkeit der »Replikatoren« im Star-Trek-Universum: Auf den ersten Blick klingt die Möglichkeit verlockend, sich einfach vor einen Ausgabeschacht stellen zu können, zu sagen »Computer! Earl Grey, heiß!« oder »Computer! Ein Bananensplit!« und *bsst* materialisiert sich jedes gewünschte Getränk oder Gericht in Sekundenschnelle. Aber ein/e wahrer Teeliebhaber*in heutzutage würde vermutlich Dutzende Teeläden abklappern, etliche Sorten Earl Grey probieren, bis die eine Marke, Provenienz oder Ernte gefunden ist, die ihm/ihr am besten schmeckt. Das Bananensplit mit oder ohne Sahne? Die Banane noch fest oder etwas weicher gereift? Die Soße aus Milchschokolade oder Zartbitter? Aus welchem Anbaugebiet soll der Kakao stammen? Mit Streuseln, und wenn ja, welche? Die simplen Prompts in dieser populären Weltraum-Utopie blenden aus, dass das Ergebnis – sofern der User nicht entweder im Replikator zuvor seine persönlichen Schlemmerpresets gespeichert hat oder für den Computer vor der Essensausgabe erstmal minutenlang alle relevanten Parameter für seinen Genusswunsch aufzählt – ein unfassbar langweiliger Einheitsbrei wäre. Jeder Kaffee schmeckte gleich, jedes Stück Apfelkuchen wäre identisch. Ein bisschen so, wie in einem Restaurant, bei dem auf der Weinkarte nur »Rotwein« und »Weißwein« steht.
Sicherlich bin auch ich gut beraten, mir sowohl in meinem Beruf als auch privat die Fähigkeit anzueignen, solche Bildgeneratoren (oder auch andere A.I.-Konsolen für textliche und assistive Anwendungen) zielführend zu bedienen, ansonsten verlöre ich den Anschluss an eine bedeutsame und disruptive technische Entwicklung. Aber ich glaube, genauso wichtig ist es, die Fähigkeit zu erlernen oder zu pflegen, wie die selbst generierten medialen oder künstlerischen Outputs einzigartiger und weniger austauschbar und nicht nur oberflächlich beeindruckend werden. Ich glaube, das Wichtigste dabei ist eine »subkutane Kreativität«, die bisweilen auch eine gewisse Bedenkzeit braucht, bevor die Beschreibung des gewünschten Outputs formuliert wird. Denn aus meiner Sicht wird es auf Dauer schnell langweilig, aus dem Stegreif Prompts zu formulieren, die lediglich ein »spektakuläres« Ergebnis hervorbringen. Für eine originelle oder innovative Idee, die nachhaltig aus der Bilderflut herausragt, muss man manchmal durchaus tief in die Materie einer Aufgabenstellung eindringen, ein tragfähiges Konzept entwickeln, eine Idee sorgfältig durchdenken, Ansätze auf Schwachstellen abklopfen oder einen wirklich genialen Geistesblitz haben, ehe man an die Umsetzung geht – egal, ob sie danach von Hand geschieht oder durch eine A.I. Ein Facebook-Account z.B., der mich regelmäßig mit wunderbaren Bildideen überrascht, gehört dem Amerikaner Geoffrey Hudson, und auch die A.I.-Experimente auf dem Twitter-Account von Sebastian Baumer finde ich sehr spannend, etwa sein Thread zu real nicht existierenden Speisen.
»It’s easy for AI to come up with something novel just randomly. But it’s very hard to come up with something that is novel and unexpected and useful.«
John Smith, Manager of Multimedia and Vision at IBM Research
Ein schönes Beispiel für die Kraft dieser Art der Kreativität fand ich in einem Twitter-Thread zum 43-jährigen Jahrestag des Kinostarts der Verfilmung von »The Shining« durch Stanley Kubrick. Der Thread ist insgesamt sehr lesenswert, aber ein Detail verdeutlicht sehr schön, was ich als »subkutane Kreativität« bezeichnen würde: In der Literaturvorlage, dem Originalroman von Stephen King, befindet sich auf dem Grundstück der Anlage des Overlook-Hotels, neben dem Weg zu einem Roque-Spielfeld, eine Fläche mit Hecken in Form verschiedener Tiere:
»›Gefallen dir die Tiere?‹ fragte Wendy. ›Das nennt man einen Kunstgarten.‹ Hinter dem Pfad, der zur Roque-Anlage führte, standen Hecken, die man zu den verschiedensten Tieren zurechtgeschnitten hatte. Danny, der scharfe Augen hatte, erkannte ein Kaninchen, einen Hund, ein Pferd, eine Kuh und drei größere Tiere, die wie spielende Löwen aussahen.«
Stephen King: »Shining«, Paperback, Bastei-Lübbe (1984)
In Kubricks Film tauchen diese Heckentiere nicht auf. Er entschied sich während der jahrelangen konzeptionellen Arbeit an dem Film stattdessen für ein Heckenlabyrinth. Das Labyrinth ist das Zentrum für den legendären, genialen Showdown des Films, in dem Jack Torrance seinen kleinen Sohn Danny mit einer Axt, humpelnd und umnachtet, durch einen nächtlichen Schneesturm verfolgt und sich in den Gängen des Irrgartens rettungslos verläuft.
Würde man hingegen einer A.I. lediglich den kompletten Text von Stephen Kings Roman zugänglich machen (jedoch entweder in einem Paralleluniversum, in dem zwar Heckenlabyrinthe existieren, nicht jedoch Kubricks Verfilmung – oder zumindest in einem Setting, in dem sich die A.I. Kubricks kreative Idee nicht aus ihrer Trainigsdatenbank »abgucken« kann) und für sie anschließend Prompts formulieren, die den Roman ohne weiteren äußeren Impuls bebildern oder ein Skript für seine Verfilmung erstellen sollten, erhielte man sicherlich eins ums andere Mal vielfältige, wunderschöne, unheimliche oder grausige Ergebnisse. Beeindruckend. Spektakulär.
Aber eins bekäme man – zumindest derzeit – wohl nicht: Ein von der A.I. generiertes Ergebnis, in dem sie zur alternativen Visualisierung der Hotelanlage ein Heckenlabyrinth vorschlägt.
Pflanzen finde ich total super. Ich könnte stundenlang durch die Natur stromern und mir alles angucken, was da knospt, blüht, rankt und wächst. Die vielen Formen der Blätter, Blüten und Saaten, die Düfte und Aromen der essbaren Wildpflanzen, riesige Bäume, bei denen ich mich frage, wie alt die wohl sind, das schöne flirrende Licht, das an einem sonnigen Tag durch ein Blätterdach im Wald fällt. Alles Komponenten für ein wohliges, den ganzen Körper flutendes Hachgefühl. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich schon als Kind relativ viel draußen war und in den Ferien bei der Oma im Harz schon oft und gern im Wald rumgestrolcht bin.
Zu Hause, wo ich wohne, habe ich nicht viel Platz für Pflanzen und zum Gärtnern, aber ich versuche, das Beste draus zu machen. Im Bad steht ein Topf mit einem Pflanzenduo aus einem schönen zweifarbigen Drachenbaum (Dracaena fragrans »Lemon Lime«) und einem Nestfarn (Asplenium antiquum), im Wohnzimmer zwischen Sofa und Fenster ein recht üppiger Kletterphilodendron (Philodendron scandens) und eine kleine Birkenfeige (Ficus benjamini) auf der Fensterbank und die Fensterplätze in der Küche teilen sich eine kleine Agave americana, die ich einst als Ableger aus einem Portugal-Urlaub mitbrachte, ein sehr robuster Bogenhanf (Sansevieria trifasciata laurentii) und eine extrem emsig blühende, purpurfarbene Flamingoblume (Anthurium andreanum). So habe ich in fast jedem Raum etwas zum Freuen, nur im Flur steht eine Vase mit Seidenblumen, künstliche Rosen, denn dort ist es zu dunkel.
Einen Garten habe ich nicht. Zwar kann ich aus dem Küchenfenster auf den sehr großen Innenhof des rechteckigen Häuserblocks schauen, der mit Rasen, etlichen Bäumen und Büschen und ein paar verstreuten Blumen bewachsen ist, aber die Möglichkeit zum Gärtnern ist dort für die Hausbewohner nicht vorgesehen. Doch auf dem Balkon hege und pflege ich seit Jahren meinen kleinen Garten, der sich jedes Jahr ein bisschen ändert.
Von Anfang an habe ich in meinen drei breiten verzinkten Blumenkästen hauptsächlich Küchenkräuter gepflanzt. Ich merke zwar, dass ich außer Salbei, Rosmarin, Lorbeer und etwas Thymian kaum welche davon öfter zum Kochen benötige, aber ich mag die Gerüche auf der Haut, wenn ich die Pflanzen berührt oder gepflegt habe und ich freue mich, wenn sie blühen – der Rosmarin oft schon im Februar oder März und jetzt gerade knospt der Lavendel. Dann gibt es in den Kästen noch Zitronenmelisse, Oregano, Minze und Majoran. Auf einem Blumentischchen wuchert ein Dill, dem ich allerdings ein Stützkorsett aus einem Kunststoffnetz verordnen musste, weil er sich weigert, von alleine aufrecht zu stehen. Daneben im zweiten Topf wohnt eine kleinblättrige, kurzstielige Basilikumpflanze aus dem Blumenladen, von der ich mir mehr Durchhaltevermögen erhoffe als von ihren langstieligen, schwächelnden Verwandten aus der Gemüseabteilung im Supermarkt, die nach dem Aussetzen auf dem Balkon trotz aller Hingabe regelmäßig lautlos wimmernd verendeten. In einem dritten Topf steckt eine »Blumenbombe«, die ich als Dreingabe in einem Onlineshopping-Paket erhielt. Sie entläßt gerade interessant aussehende, fleischige Keimlinge aus der Erde, ich bin gespannt, was das mal wird, es könnten Sonnenblumen sein, ein paar kleinere Sprösslinge treiben noch schüchtern daneben her, aber der Sommer hat ja gerade erst begonnen.
Mein größter Quell der Freude ist aber in diesem Jahr der Standkübel mit einem Rankgestell. Letztes Jahr hatte ich ihn mir zugelegt, um testweise Zucchinipflanzen zu säen, aber dafür ist mein Ostbalkon vermutlich zu schattig und die Wachstumsambitionen von Zucchini zu groß – außer ein paar langen Zweigen mit spärlichem Blattbewuchs und drei, vier Blüten waren keine ansehnlichen Erfolge zu erzielen.
In diesem Jahr habe ich darin nicht primär selbst gesät, sondern die Grundbepflanzung aus zwei gekauften Gewächsen kombiniert: eine dunkelrote Waldrebe (Clematis), die ich mit zwei kleinen Blüten erwarb und die nun, gut zwei Wochen nach dem Umtopfen, mit mehr als zehn großen Kelchen anzeigt, dass es ihr in dem neuen Zuhause anscheinend gefällt. Daneben windet sich ein noch kleiner Goldhopfen (Humulus lupulus »Aureus«) mit hellgrünen Blättern am Gestell empor und zur Vervollständigung des Ranktrios habe ich noch fünf Samen einer bordeauxfarben blühenden, rankenden Kapuzinerkresse eingesetzt, aus denen inzwischen ebenfalls gut 15 cm hohe Triebe sprießen. Ich bin mal gespannt, wie diese drei Kletterer miteinander auskommen und vor allen Dingen, wie sie sicht über den Sommer auf dem doch etwas begrenzten Platz beim Wachsen arrangieren.
Und überhaupt: »wachsen«! Wenn man da mal drüber nachdenkt, ist das doch unglaublich: Da ist so ein junges Tier oder eine kleine Pflanze – und wenn man die gut pflegt und mit Nährstoffen und Energie versorgt, werden die einfach so größer und alles daran behält im Wesentlichen seine ursprüngliche Form. Aus kleinen Blättern werden große, aus Knospen werden Blüten, später Fruchtkörper oder pralle, manchmal sogar riesige vollreife Früchte. Aus Pfötchen werden Tatzen, kleine Kinderfüße werden zu Quadratlatschen, alles von innen heraus und von einem unsichtbaren genetischen Mechanismus gesteuert. Das klingt jetzt zwar vielleicht banal oder pathetisch, aber es hat schon etwas Magisches. Im Gegensatz dazu fügen Menschen, wenn sie von »Wachstum« sprechen oder etwas »wachsen lassen«, fast immer von außen bereits vorgefertigtes Material oder vollständige Komponenten hinzu, die extra herangeschafft werden müssen, damit etwas größer werden kann: Mitarbeiter, Beton, Ziegel, Asphalt, Möbel und so weiter. Man kann nicht eine kleine Firma gründen und die wird dann allein durch die Zufuhr von Licht, Wärme oder elementaren Rohstoffen wie Wasser von selbst und von innen heraus allmählich größer, wie zum Beispiel ein Apfel am Baum oder ein Pilz. Aus einer kleinen Straße kann keine mehrspurige »wachsen«, man kann sich nicht für den Anfang einen kleinen Computer mit bescheidenem Monitor und weniger Speicher kaufen und ihn, wenn man dann merkt, dass das nicht mehr ausreicht, »gießen« oder »düngen« in der Erwartung, dass er dann größer, besser oder schneller würde. Nur die Natur kann das. Ich finde das großartig.
Das sind so Sachen, über die ich nachdenke, während ich mit den Händen in der Erde grabe, welke Blätter abzupfe, die Kräuter und Blumen gieße oder einfach nur die schönen Pflanzen in meinem Mini-Balkongarten betrachte. Und auch das ist das Schöne am Gärtnern und ganz egal, wie üppig etwas wächst oder nicht: Die Größe der eigenen Scholle oder der Gewächse darauf spielt für solche mäandernden Gedanken und das entspannt-zufriedene Gefühl keine Rolle.
Gestern hatte ich mal Zeit und Lust, während einer ausgedehnten Runde durch Hamburg eine kleine Wiederaufnahme des Spaß-Projekts anzusetzen, über das ich in einem Blogbeitrag im August 2022 schon mal berichtet hatte: ein »I see letters«-Alphabet aus Schnappschüssen von Alltagsgegenständen, die zufällig wie Buchstaben geformt sind. Der vorhandene Satz analoger Fotoabzüge umfasst 23 Versalien, aber drei Lettern aus dem Alphabet fehlen: »B«, »L« und »U«. Ob ich diese Motive damals nicht finden konnte oder ob mir vorhandene Abzüge abhanden kamen, kann ich nicht mehr rekonstruieren.
Also dachte ich mir, wieso sollte ich nicht jetzt mal die Augen offenhalten und versuchen, diese Lücken zu schließen? Eine Kamera im Smartphone habe ich ja ohnehin ständig dabei. Und da ich etliche Erledigungen in der Innenstadt zu beschicken hatte, sah ich mich auf meinem Weg um. Und tatsächlich wurde ich fündig und nun ist das Alphabet komplett – zumindest die Großbuchstaben.
Nun überlege ich, ob ich nicht noch weitermache. Vielleicht mit allen Kleinbuchstaben, dazu Ziffern? Vielleicht einige Satzzeichen? Oder noch mal alles von vorn und Dubletten der Versalien sammeln? Ich entscheide mich unterwegs. Was mir immer wieder auffällt, wenn ich mit dieser Art suchendem »Kamerablick« unterwegs bin, ist die bemerkenswerte Schärfung der Beobachtungsgabe. Ich sehe die Umwelt mit einem ganz anderen Fokus. Viel aufmerksamer, wacher für die Details, Gebäude und Muster am Wegesrand. Stellen, an denen ich schon dutzende Male achtlos vorüberging, betrachte ich durch diese mentale Brille plötzlich ganz neu.
Für das Alphabet habe ich mir zudem vier »Regeln« für die Auswahl der Motive auferlegt, die ich konsequent einhalte:
Das fotografierte Zeichen darf nicht einen Teil einer handgeschriebenen oder maschinell erstellten tatsächlichen Beschriftung darstellen (also z.B. ein Buchstabe aus einem Werbeschild oder einem Graffiti). Es muss ein natürliches oder künstliches Objekt sein, das nur zufällig aussieht wie ein Buchstabe, aber dessen ursprünglicher Zweck es niemals war, ein Schriftzeichen darzustellen.
Das Bildmotiv darf nicht von Hand umarrangiert werden, es ist nicht erlaubt, z.B. Kabel, Seile o.ä. so zurechtzulegen, dass ein Buchstabe entsteht. Die Ähnlichkeit muss in dem Objekt gegeben sein, so wie es vorgefunden wird (siehe z.B. »N« und »Q« oben im Foto)
Es ist nicht erlaubt, Motive nachträglich am Computer so zu retuschieren, dass der Buchstabe entsteht
Drei Stilmittel sind beim Einfangen der Alltagszeichen gestattet: • Das Drehen des Motivs (siehe »C«, »D« und »B«) • Die Wahl eines Bildausschnittes bzw. die Aufnahme des Details eines größeren Objekts (siehe »F«, »K« und »R«) • Die Wahl einer speziellen Perspektive bzw. eines bestimmten Blickpunkts auf das fotografierte Objekt, so dass ggf. dadurch die Ähnlichkeit zu einem Buchstaben überhaupt erst entsteht (siehe »A« und »U«)
Ich kann’s nur empfehlen, das selbst mal auszuprobieren! Und die Ergebnisse gerne hier teilen oder verlinken!
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